Und wenn die Welt voll Teufel wär. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Da sind Sie ja doch, Herr Lotheisen . .“
„Ja, da bin ich.“
Tastende, abgezehrte Finger nach seiner Hand.
„Gottlob, da sind Sie also am Leben . . .“
„Ja. Ich lebe!“
Dies Wort: „Ich lebe!“ belebte Bruno Lotheisen wie starker Rheinwein, während er es aussprach. Eine prachtvolle innere Wärme stieg in ihm auf, vom Herzen zum Haupt. Die Nebelwelt draussen schien ihm hell. Er sagte mit lauter Stimme: „Die Russen haben mich allerdings für tot aufgelesen. Aber ich hab’ eine zähe Natur. Ich kam zu mir. Zwei sibirische Winter haben mich ganz auskuriert. Die neuen Moskauer Machthaber gaben alle Kriegsgefangenen frei. Seit vielen Monaten, seit dem Frühjahr, bin ich unterwegs. Es ist ein weiter Weg von Werchojansk nach Charlottenburg.“
Der vergrämelte, vom Fleisch gefallene Geheime Baurat drückte lange und innig, aufrichtig gerührt, die Rechte des anderen.
„Gratuliere . . . gratuliere . . . Ihnen und uns . . . Mal eine Herzensfreude in dieser monströsen Zeit . . . Eine wahre Herzensfreude . . . Liebster, was sagen Sie zu der Lage? Noch immer keine Entscheidung! Es ist nachgerade schrecklich! Es reisst an dem letzten Rest von Nerven, den man noch hat.“
„Ich weiss von nichts . . .“
„Wie . . .?“
„In Russland hörte man von nichts. Gestern abend kam ich in Königsberg an und fuhr die Nacht durch hierher und hab’ die ganze Nacht geschlafen. Ich hab’ nichts hören wollen! Nur heim! Nur heim!“
„Augenblicklich ist ja Berlin noch unheimlich ruhig. Aber wissen Sie, dass man munkelt, Prinz Max würde in wenigen Stunden . . .“
„Nur daheim sein“, wiederholte Bruno Lotheisen, ohne auf den anderen zu hören, Glückzittern in der Stimme. Beben der Hoffnung. „Seit zwei Jahren habe ich nichts mehr von meiner Frau und unserem Evchen gehört! Herr Geheimrat: Haben Sie eine Ahnung, ob meine Frau noch in unserer alten Wohnung am Kurfürstendamm wohnt?“
„Die Gattin?“ Der Oberbaurat sammelte auf seinem faltigen, ungesund grauen Gesicht mühsam die Gedanken. „Natürlich: Meine Tochter hat vor vier Wochen, bei ihrem grossen Krach auf der Brotkommission, Ihre Frau dort getroffen! Das ist der elfte Bezirk! Stimmt: Ihre alte Wohnung! Sagen Sie mal: Was gab’s denn bei euch in Russland noch zu essen?“
Bruno Lotheisen überhörte den Schlusssatz. Seine Hände falteten sich in stummem Dank. Sonnig leuchteten seine blauen Augen. Seine Lippen lachten.
„Dann seh’ ich sie in zehn Minuten! Ich möcht’ in die Luft springen, Geheimrat, und mit der Lonny durchs Zimmer tanzen und mein Töchterle an den Händen nehmen und im Kreis schwenken . . .“
„Erschrecken Sie nur die Gemahlin nicht zu sehr! Sie hält Sie für tot!“
Eine Sekunde schattete eine Wolke auf dem freimütig offenen, wie bei einem vergnügten Jungen strahlenden Antlitz des blonden Kirchenbauers. Dann wehrte er lachend ab: „Dieser erste glückselige Schrecken ist schon vorüber, wenn ich komme! Ich habe der Lonny auf alle Fälle von Königsberg aus nach unserer alten Wohnung telegraphiert!“
„Na hören Sie: Wenn das nur angekommen ist . . .“
„Warum denn nicht?“
„. . . weil der Telegraphenverkehr wahrscheinlich schon unterbrochen ist!“ schrie der Geheimrat weinerlich. „Weil die Welt untergeht . . . mit Schuhen und Strümpfen . . .
Heuť noch . . . spätestens morgen . . . Kommen Sie denn vom Mond?“
„Nein: Aus dem fernsten Sibirien! Was ist denn eigentlich hier in Berlin . . .?“
„Da kommt mein Zug! Entschuldigen Sie! In der Mommsenstrasse gab’s keine Harzer Käschen mehr! Man möchte heulen! Nun muss ich mal in der Joachimsthaler Strasse hamstern . . . Im zweiten Zigarrengeschäft — im Hinterraum natürlich . . . aber sagen Sie’s keiner Menschenseele — da gibt’s noch . . .“
„Was denn?“
„Butter! Butter! Butter!“ rief der alte Herr gequält, Leiden in den Augen. Ein Druck seiner abgemagerten, abgeschilferten Rechten, an deren Goldfinger der zu weit gewordene Ehering schlotterte. Er lief davon, mit unsicheren Knien, raubgierig, wie eine Rothaut auf dem Kriegspfad. Er machte auf Bruno Lotheisen plötzlich einen geistesgestörten Eindruck: Wunderlich — dieser freiwillig verhungernde, würdevolle Geheimrat! Da, auf einmal, durchzuckte ihn ein Schrecken: Er sah plötzlich denselben erschöpften Blick, dasselbe stille Elend auf allen Gesichtern und Gestalten rings um ihn her. Die vielen jungen Mädchen mit ihren Geschäftsmappen hatten bleichsüchtige, wachsgelbe Wangen, die Schulkinder spitze Nasen und vorstehende Backenknochen und altkluge, sorgenvolle Augen, die älteren Leute gingen matt, gebückt, stumm in sich gekehrt. Alle diese verschiedenen Menschen hatten eine merkwürdige Ähnlichkeit miteinander wie eine grosse Familie. Eine stumpfe, unendlich geduldige Ergebung lastete auf ihnen gemeinsam.
Unten, in dem Durchgang ins Freie, stand feldmarschmässig ein kleiner sächsischer Infanterist und schwadronierte in eine aufmerksam lauschende Menschengruppe hinein: „Nee! Hier gam mer’sch nich mehr gefallen! Ich mach’ heeme! Wir alle missen Sie heeme machen!“
Der Sachse dachte nicht daran, einen vorüberkommenden, kaum dreissigjährigen Major, mit einem Dutzend Schwerterorden auf der Brust, zu beachten, geschweige denn zu grüssen. Der Offizier schien es auch gar nicht mehr zu erwarten. Er und seine junge, verschwenderisch elegant gekleidete, mit kostbarem Schmuck behangene Frau schleppten mühsam zwischen sich einen schweren Feldkoffer eigenhändig zu Fuss nach Hause. Dabei berichtete die Weltdame dem heimkehrenden Gatten halblaut aufgeregt: „Da hat sie mir nun damals das Pfund Butter geborgt, und nun drängt sie mich und drängt und telephoniert jeden Tag, ich soll es ihr wiedergeben.“
Butter . . . Butter . . . die Welt in Flammen . . . Europa ein Massengrab . . . Berlins stöhnender Notschrei: Butter . . . Butter . . . Und Kaninchenwürste. Da hängen sie in dem Holzschuppen vor dem Bahnhof. Menschen aller Stände drängen sich um sie. Werfen Zwanzigmarkscheine auf den Schragen. Keine Goldstücke. Wo sind nur die Goldstücke und Taler von früher? . . .
Und die Droschken? Die Autos? Ein Gelächter auf Bruno Lotheisens Frage. „Droschken? Pferdefleisch — dat können Sie vielleicht noch kriegen! Dort drüben ist die Rossschlächterei . . .“
Bruno Lotheisen ging zu Fuss weiter. Hinter ihm der Ruf einer heiseren Männerstimme: „Du! Wann kommen denn die russischen Brieder?“ Er wandte nicht den Kopf. Alle Fibern seiner Seele bebten inbrünstig Weib und Kind entgegen. Dort . . . dort fern . . . um die Ecke lacht und winkt das Glück. Er fühlte sich lebensfrisch und hoffnungsjung und liebesstark. Und konnte doch nicht mit ausgebreiteten Armen, stürmend in die Arme seiner Lieben dahineilen. Er schritt langsam. Schlang sich den dicken Schal fester um den Hals. Fröstelte. Er sagte sich: Diese Stadt hier wirkt lähmend. Diese Menschen sind nicht mehr normal. Sie sind erschöpft, ausgehungert, überreizt. Berlin ist krank. Berlin lastet bleiern auf mir.
Komisch, wie einem plötzlich die Erinnerung kommt — die Hochzeitsreise nach Italien — mit Lonny — vor sieben Jahren. Die Piazzetta Venedigs im Mondsilber. Die vielen stehenden, mit umgeworfenen Mänteln raunenden Menschengruppen. Harmlose, die Abendkühle geniessende Leutchen, die Verschwörern glichen. Solche Menschenhaufen standen jetzt in Berlin, dem ameisenfleissigen Berlin, wo sich sonst kaum jemand Zeit liess, einmal stehenzubleiben, am hellen Tag überall beisammen — vor den Haustoren, an den Strassenecken, mitten auf dem Fahrdamm, in blossem Kopf, in Hemdsärmeln, in Pantinen, in der Küchenschürze, aus den Portierstuben, von den Höfen, über die Hintertreppen, aus den Grünkramkellern zusammengelaufen. Sie standen, steckten die Köpfe zusammen, wisperten aufgeregt . . . Dass die Polizei das duldet! . . . Aber es ist ja gar keine mehr da! Weit und breit kein Schutzmann mehr zu sehen. Was ist das nur? . . .
Gibt die Litfasssäule da Auskunft? Auf Marke N ein Päckchen Süssstoff. 250 Gramm Haferflocken, Krankenkost auf Buchstaben A bis M bei der Brotkommission. Zehn Pfund Kartoffeln auf Abschnitt IV der Brotmarke. Ein Jahr Gefängnis. Zehntausend Mark. Zweihunderttausend