Und wenn die Welt voll Teufel wär. Rudolf Stratz

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Und wenn die Welt voll Teufel wär - Rudolf Stratz


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— unter uns: Man weiss jetzt höheren Ortes ganz genau, dass Sie heimlich in Berlin sind!“

      „Höheren Ortes ist man bereits völlig machtlos“, versetzte Werner Grimm gleichgültig. Lonny Lotheisen verwandte kein Auge von ihm. Die Exzellenz feuchtete das Mundblättchen ihres Zigarettenwickels mit der rosigen Zungenspitze und dankte ihm mit einem seelenvollen Augenaufschlag für das Benzinflämmchen seines Taschenfeuerzeugs. Dann hob sie die gerungenen Hände: „Machtlos? Wem sagen Sie das? Meinen Mann haben sie heute früh schon im Büro einfach ausgelacht! Die Staatskarre steht still . . .“

      „Sie wird schon wieder in Gang kommen!“

      „Warum sitzen Sie denn hier, Dr. Grimm? Gehen Sie doch hinaus! Helfen Sie! Jetzt kommt doch Ihre Zeit!“

      Werner Grimm hatte ruhig Platz behalten. Er legte die Hand halb über die verführerischen Augen. Nun wirkte der untere Teil des Gesichts fest, bestimmt — bedeutend.

      „Ich bin nur für die äussere Politik da“, sagte er. „In die inneren kommenden Verhältnisse mische ich mich grundsätzlich nicht. Das mögen andere ordnen. Ich bin da zu sehr Partei. Ich bin nun einmal, wie der Engländer sagt, mit einem silbernen Löffel im Mund geboren. Ich bin ein Sohn des Besitzes . . .“

      „Des Reichtums!“

      „Nun ja. Meine Familie ist sehr reich. Das weiss jeder. Ich stamme aus der Welt des Kapitals, das sich jetzt anschickt, sich mit der Arbeit auseinanderzusetzen. In diesem Prozess erkläre ich mich als Jurist für befangen. Niemand kann Richter in eigener Sache sein.“

      „Sie sind zu ehrlich, lieber Freund!“

      „Das ist kein unbedingtes Hindernis, mich nützlich zu machen, Frau Lona! Aber da mich nützlich machen, wo es jetzt am nötigsten ist, weil wir Deutsche da am schwächsten sind — in unserem Verkehr mit dem Ausland. Was haben unsere europäischen Nachtwächter da seit Jahren verkorkst! Es ist kein Spass, die heillos verfahrene Geschichte wieder ins Geleise zu bringen. Aber wir schaffen’s! Denken Sie an meine Worte: In vier Wochen haben wir die ersten lichten Augenblicke in Europa, und in einem halben Jahr rund um die Welt den Sieg der Göttin der Vernunft oder des Gottes der Vernunft: den Wilsonfrieden!“

      Von nebenan beobachtete Bruno Lotheisen seine Frau. Sie nickte, mit gespanntem Interesse, wie eine gelehrige Schülerin und ein guter Kamerad zu den Worten ihres Freundes. Es war ein Zug um ihre lebendigen, halboffenen, auch im Schweigen ungeduldig zuckenden Lippen, der ihm ins Herz schnitt. Ihr bewegliches Antlitz schien ihm verändert. Merkwürdig gereift und durchgeistigt in den

      Jahren der Trennung. Er ärgerte sich, dass er nicht anders konnte: aber er sah alle Äusserlichkeiten an ihr. Er sagte sich: Diese Frisur hat sie doch früher nie getragen! Das schöne blonde Haar in der Mitte gescheitelt und in kleinen Wellen flach seitlings bis halb über die Ohren hin angelegt. Hinten ein Knoten. Freilich: Ihre edle längliche Kopfform tritt noch mehr hervor. Die Stirne wird frei. Das Gesicht erscheint bedeutender. Das ist wohl auch ihre Absicht bei dieser Haartracht.

      Lonny Lotheisen sprang stürmisch auf. In allen ihren Bewegungen war ein Ungestüm. Ein instinktives Zittern der Zeit. Sie kramte etwas aus einem Tischkästchen.

      „Also . . . ich bin ein guter Kerl! Ich ring’ es mir von der Seele — heute — zur Feier des Tags, der Ihnen endlich die Aussicht gibt, aus dem Vollen für Deutschland zu wirken, lieber Freund! Ich hab’ noch ein Schächtelchen Cakes gehamstert! Da nehmt! Esst! Aber jeder nur ein Stück! Sonst langt’s nicht! . . . Nur der brave Schweppermann zwei! Der verdient’s!“

      Ihre Stimme war warm und hell und stark. Sie bot stehend mit den langen, schlanken Händen ihren Gästen den Leckerbissen. Sie reichte selbst dem Dr. Werner Grimm trotz seiner Abwehr sein Doppe stück und schob ihm das eine, als er abwehrte, lachend in den Mund. Der Mann im Schatten des Nebenraums stöhnte leise auf und zuckte zusammen. Er begriff das da drinnen nicht und begriff sich selbst nicht. Er wollte in der Seele seiner Frau lesen und sah dabei, mit seinen weltentwöhnten Augen Sibiriens, ihr Kleid. Er fragte sich entsetzt: Wie kann eine ehrbare Frau das tragen? Dieser enge Doppelrock aus schwarzem Wollstoff, dieser weisse Brusteinsatz, aus dem ihr weisser Hals frei herauswächst — das da oben — gut! Aber nach unten — da reicht selbst das zweite, das tiefere Röckchen nur ein paar Handbreit über das Knie, so kurz wie kaum bei einem vierzehnjährigen Backfisch. . . .

      Und dafür umspannen die Schaftstiefelchen aus schwarzem Chevreau nicht nur die schmalen Füsse und die zarten Knöchel, sondern reichen von dem feinen Ansatz der Wadenwölbung das Bein hinauf bis hoch oben unter den Rocksaum! Das ist der Krieg! Der Krieg und die Frauen! Der Krieg spricht aus der ungebundenen, kurzgeschürzten Tracht meiner Frau. Diese verwegene Tracht gibt den langen, schlanken, straffen Umrisslinien ihrer Gestalt etwas Feldmässiges, etwas von einer Marketenderin! Wie kann man nur so gehen! Die Leute bleiben ja auf der Strasse stehen . . . Aber dann sah er: Die anderen Damen waren genau so angezogen! Sie lehnten sich, alle mager und hungerblass, nachlässig, die Hände über dem Kopf, in den Sesseln zurück, schlugen die Beine übereinander, zeigten unbekümmert die Waden, rauchten, lachten laut und aufgeregt . . . Krieg . . . Krieg . . . vier Jahre Krieg . . .

      Auch das tiefe Trauerschwarz der jungen Kriegswitwe, die hereinkam, endete flatternd hoch über dem Boden. Sie war gelblich bleich und hustete, während sie sich setzte. Lonny rief empört: „Wieder erkältet? Arbeitet ihr denn immer noch bei offenen Fenstern, in eurem elenden Schwarzen Kabinett?“

      „Wir müssen doch! Auch im strengsten Winter. Sonst hält man die giftigen Dämpfe nicht aus, mit denen die Regierung die Briefe öffnet.“

      „Heute öffnet sie sie noch. Morgen nicht mehr“, versetzte Dr. Werner Grimm gelassen. Es war ein tiefes Schweigen wie vor etwas Ungeheurem, nicht Ausgesprochenem, das langsam am Himmel draussen emporstieg. Dann sagte die Hauptmannswitwe: „Die Büros sind jetzt schon leer. Die meisten sind heute überhaupt gar nicht mehr gekommen oder jetzt mittags nach Hause gegangen. Es bricht alles zusammen!“

      Die blonde Hausfrau nickte leidenschaftlich vor sich hin. Drei düstere Querfalten ungeduldiger Spannung standen auf ihrer weissen Stirn. Ihre seinen Nasenflügel bebten Ihr stummer Augenaufschlag suchte den Freund neben sich. Sie sprachen kein Wort. Die beiden waren ein Herz und eine Seele . . .

      Und in dem erkältenden Grauen, das ihn durchschlich, klammerten sich Bruno Lotheisens Augen wieder an das Gewand seiner Frau. Das zeigte nur Schwarz und ein wenig Weiss! Halbtrauer! Ein Hoffnungsfunke leuchtete in ihm auf: Seit zwei Jahren hält sie mich für tot und trauert noch um mich! Das ist ein Wink vom Himmel! Das ist Gottes Finger und Trost: Ich wohne noch in ihrem Herzen!

      Wieder ein neuer Gast nebenan. Eine kleine, spitze, quecksilberne Frau. Sie schüttelte allen die Hände, purzelte in den Klubsessel, klatschte befehlend, verwöhnt mit den Fingerspitzen: „Lonny — fix — meinen Macholl!“

      Schon schenkte ihr Lonny Lotheisen behutsam die Stärkung ein — ein ganzes Weinglas voll — Schnaps, am hellen Mittag — eine Dame — aber das kleine Nervenbündel im Lederpfühl schluckte, es hinunter wie Wasser, wischte sich den Mund. Die Hausfrau erklärte: ,,Ihr Mann ist draussen im tollsten Feuer.“

      Die andere lachte dazu. Hell. Aufgeregt. Niemand wusste, warum.

      „Glaubt ihr, ich mach’ nachts noch ein Auge zu?“ sagte sie und lachte dabei immer noch weiter. „Bei Tag, wenn’s klingelt, schrei’ ich vor Schrecken: Da ist endlich die Depesche!“

      Plötzlich schaute sie aufgeregt im Kreise. Mit fiebernden, irren Augen. Wütend. Wild. Empört. Mit geballten Fäusten . . .

      „Vier Jahre ist der Mar glücklich durchgekommen . . . Sie sollen mir ihn nicht jetzt noch im letzten Augenblick . . . Leute . . . Habt doch Mitleid . . . Seid doch vernünftig . . . Wozu ist denn der Wilson auf der Welt?“

      „Um unzähligen Frauen auf der Welt ihre Männer zurückzugeben“, sagte Werner Grimm.

      Wilson . . . Das Zimmer war plötzlich hell. Die Sonne schien. Hoffnungsstrahlen fluteten herein. Wärme neuen Lebens. Das Licht von Westen. Wilson, der Erlöser der gequälten Menschheit. Wilson, der Schiedsrichter der zerfleischten Welt. Wilson, der Retter Deutschlands.


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