Und wenn die Welt voll Teufel wär. Rudolf Stratz

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Und wenn die Welt voll Teufel wär - Rudolf Stratz


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Lütjens.“

      „Mein Schwiegervater . . .“

      „Der hat mich in Ihren Angelegenheiten aufgesucht! Wie lange kann es denn her sein? Vielleicht acht Wochen. Ich weiss nicht genau. Jeder Tag ist ja jetzt ein Jahr.“

      „Was wollte er?“

      „Der Herr Generaldirektor kam von Köln herüber. Er sah damals schon sehr schwarz in die Zukunft, wie wahrscheinlich auch die anderen rheinischen Grossindustriellen alle. Er meinte, lange ginge es nicht mehr. Und gleich nach Friedensschluss müsse in Gottes Namen Ihre Verschollenheitserklärung betrieben werden! Er sei das seiner Tochter schuldig. Sie könne nicht ewig in der ungewissen Stellung bleiben, dass sie verheiratet sei und dabei doch Witwe.“

      „Seitdem ist noch nichts erfolgt?“

      „Nichts mehr!“

      „Also ich lebe vorläufig noch?“

      „Sie leben, Herr Lotheisen!“

      Durch die erschöpfte Stimme des Justizrats klang ein hoffnungsloses: Es ist ja ganz gleichgültig, ob du noch lebst . . . oder ich . . . An der Wand über ihm hing das Bild des alten Kaisers Wilhelm, um diesen das Kleeblatt seiner Paladine: Bismarck, Moltke, Roon. Gegenüber, über dem Kronprinzen Fritz, zwei Gegenstücke: Die Kaiserproklamation von Versailles und der Einzug in Paris. Bruno Lotheisen stand leise auf, wie um einen Kranken nicht zu stören. Er reichte dem Rechtsanwalt stumm die Hand. Er ging zur Tür. Dort blickte er noch einmal zurück. Der fahle Graukopf drüben lag auf der Tischplatte. Der alte Preusse glaubte sich im Zimmer allein. Er schluchzte bitterlich. Er stöhnte vor sich hin: „Mein Preussen! . . . Mein Preussen!“ Er weinte nicht um das noch nicht fünfzigjährige Reich, das er selbst mit hatte gründen helfen. Er weinte um das halbe Jahrtausend des Staats der Hohenzollern, um den Grossen Kurfürsten und den Soldatenkönig und den Alten Fritz und den alten Wilhelm . . .

      Jetzt erst trat Bruno Lotheisen draussen vor dem Haus in die Wirklichkeit der Dinge hinaus. Jetzt erst erfüllte ihn das Bewusstsein des ungeheuren Geschehens des heutigen Tags. Ein Lastauto donnerte vorbei. Ein Massenruf: „Es lebe die Internationale!“ Ein gläubiges Jauchzen. Eine strahlende, ehrliche Begeisterung. Eine aus dem tiefsten Innern kommende deutsche Zuversicht auf das, was in der ganzen Welt gut und recht war und gut und recht bleiben musste, auf das Beste und Mildeste im Menschen.

      Eine junge, blonde Strassenbahn-Schaffnerin winkte fröh ich hinterher. Sie hatte eine Schere und trennte gerade einem Soldaten die Achselklappen ab. Sie hatte diesen Liebesdienst schon vielen erwiesen und die Achselklappen in ihrer umgehängten Geldtasche gesammelt. Sie schlug harmlos mit der Hand auf die Tasche, öffnete sie und zeigte den Inhalt den Umstehenden: „Da hab’ ick schon die halbe Armee beisammen!“

      Auch Bruno Lotheisen sah die grauen Achselklappen übereinander, die Nummern und die Namenszüge — jedes ein tuchenes Stück preussische Geschichte: Die Trompeten von Fehrbellin, die Attackensignale von Rossbach, der Choral von Leuthen, Lützows wilde, verwegene Jagd, der Piefkemarsch von Düppel, die Garde bei Chlum, der Todesritt von Marsla-Tour, bis zu der stummen, grauen, riesigen, jedes Mass der Vergangenheit überragenden Grösse der letzten Jahre — das alles wehte ein Sturm der Zeit dahin. Die Achselklappen flatterten, blätterten sich wie Herbstlaub in der abgenutzten Ledertasche einer jungen Schaffnersfrau.

      Der Kirchenbauer Lotheisen ging die Friedrichstrasse entlang. In deren Gewimmel tauchten jetzt schon die ersten freigewordenen, feindlichen Kriegsgefangenen auf. Russen. Sie schlenderten noch halb verlegen dahin. Grinsten ihn vertraulich an. Hielten ihn, in der schwarzen Lammfellmütze und den hohen Transtiefeln, für ihren Landsmann.

      Die Leipziger Strasse hinab kam ein langer Zug. Der Berliner Osten kam. Der Norden. Die Welt der Fabrikhöfe, der Hinterhäuser, der Laubenkolonien. Männer, Frauen, Mädchen in Arbeitskleidung, je viere nebeneinander. Sie schritten langsam. Sie schritten stumm. Sie sahen feierlich vor sich hin. Rote Fahren nickten, grell in der grauen Luft, über den stillen Köpfen. Diese Köpfe wollten nicht enden. Weit hinauf, bis zum Spittelmarkt, sah man noch die wandernden Wellen von Filzhüten und Umschlagtüchern, und der dicke kleine Herr mit goldenem Zwicker und Biberpelz, der das vorderste rote Banner trug, war schon am Potsdamer Platz.

      Auf dem Platz standen die lachenden, aufgeregten Menschen in Massen. Weisse Taubenschwärme umflatterten die vorbeikeuchenden, mit Feldgrau, Matrosenblau, Schwarz der Bürgerröcke gespickten, flintenstarrenden Kraftwagen. Es waren die in Stössen von oben unter die Menge gestreuten Aufrufe der neuen Machthaber. Harte, hallende Hufschläge. Reitende Garde-Feldartilleristen mit abgeschirrten Strängen in gestrecktem Galopp über den Asphalt. Eine aus dem Sattel Hochgeschwungene, wehende rote Fahne. Ein wi des, kriegerisches Bild, wie man es draussen im Felde nie gesehen.

      Und darüber der stille, graue Novemberhimmel. Die stummen, kahlen Bäume des Tiergartens. Bruno Lotheisen schritt an dessen Rand entlang. Es dämmerte schon stark. Schattenhaft, eilig, durch die trockenen Nebel des neunten Novembertags, nahte über Deutschland, die Nacht. Die Strasse der Reichen, die Tiergartenstrasse, hätte heute durch Pompejis. Todesschweigen führen können. Keine lebende Seele war zu sehen. Wie ausgestorben lagen die prunkvollen Villen mit geschlossenen Gittertoren, herabgelassenen Rolläden. Hinter wenigen der hohen Fensterscheiben glomm ein ängstlicher Lichtpunkt. Dumpfer, unheimlicher Trommelschlag ratterte im Takt durch die Stille. Aus der Viktoriastrasse, vom Oberbefehlshaber in den Marken her, marschierte ein langsamer Schattenzug im Zwielicht. Der düstere Umriss eines bewaffneten Autos rollte hochragend, wie eine Guillotine auf Rädern, zwischen den verschwimmenden Gruppen der Männer und Frauen.

      Der eintönige, gespenstige Trommelwirbel hallte Bruno Lotheisen noch lange im Ohr. Zwischen den Bäumen neben der Strasse pirschten sich ein blonder Sanitäter und seine junge Frau vorsichtig dahin. Sie schienen Angst zu haben. Der Architekt Lotheisen fragte sich: Wovor? Die beiden waren die einzigen Menschen, denen er in diesem plötzlich zum Schattenreich gewordenen Goldenen Viertel des Berliner Westens auf dem weiten Weg bis zum Kurfürstendamm begegnete. Da endlich waren wieder Leute. Da standen auf einmal wieder an den Strassenkreuzungen, schon beinahe selbstverständlich, an Stelle der Schutzmänner die Ordnung haltenden Arbeiter mit umgehängtem Gewehr. Die Laternen leuchteten. Es war Nacht.

      Ein alter Herr kaufte sich schmunzelnd eine grosse geräucherte Flunder und knöpfte sie, sich schuldbewusst umschauend, unter den Mantel. Dieses Fischlädchen war offen. Sonst dunkelte es hinter den Schaufenstern der meisten Geschäfte. Wenige Menschen, hasteten an den Häusern hin, hatten es eilig, heimzukommen. Es war eine lähmende Stille nach dem Sturm. Berlin hielt den Atem an. Wartete, was weiter werden sollte . . .

      Und in dem Heute wandelt schon das Morgen . . . Es ist geschehen. Was bringt der nächste Tag? Das nächste Jahr? Das nächste Jahrzehnt? Alle Geister sind gerufen? Wer ist ihr Meister? Wer beschwört mit gebieterischer Hand die zwiefach über Deutschland lohende Feuersbrunst: den heute entfachten Flammensturm im Innern, den wütend seit Monaten nahenden Weltbrand vor den Toren? Schicksal, rette Deutschland! Aber wie noch? Wie?

      Bruno Lotheisen konnte nicht weiter denken. Er war betäubt. Er schritt in dumpfer Ruhe den Kurfürstendamm entlang. Er wurde sich langsam wieder seiner selbst bewusst. Sein Ich, ausgelöscht durch die letzten Stunden, kehrte ihm wieder. Er sagte sich . . . Ich? . . . Was ist jetzt ein Mensch? . . . Aber ich bin doch da . . . Ich atme . . . ich lebe . . . ich leide . . . Ich muss meinen Leidensweg zu Ende gehen.

      Er war vor seinem Hause angelangt. Im ersten Stockwerk, in seiner Wohnung, war Licht. Er stand. Er sah empor. Er dachte: Lonny ist daheim. Natürlich. Wo sollte sie sonst an diesem Abend sein. Ich muss jetzt stark sein. Ich muss hinaufgehen. Ich muss vor sie treten, ob sie auch vor meinem Geist erschrickt. Ich muss das Rätsel meiner Ehe lösen.

      III.

      Oben in ihrem Salon sass Lonny Lotheisen und telephonierte mit heller, lauter Stimme an eine Freundin: „. . . also lasse tüchtig Wasser in die Badewanne laufen und schau, dass du Kerzen im Haus hast! . . . Man weiss nicht, wie’s morgen ausschaut! Woher ich diese Weisheit hab’? Dr. Grimm ist eben noch rasch mal zu mir gekommen! . . . Die Frieda und die Else sitzen auch noch von Mittag her da! Die Else übernachtet bei der Frieda — zwei Häuser von hier! Grimm bringt sie


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