Und wenn die Welt voll Teufel wär. Rudolf Stratz

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Und wenn die Welt voll Teufel wär - Rudolf Stratz


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zur Munitionsfabrik. Eine Dame in wehendem Witwenschleier brachte in einem Zeitungspapier-Päckchen ihr ausgekämmtes Haar zum Dichten der U-Boot-Fugen zur Sammelstelle, rechts und links ihre beiden Kleinen, jedes seine Sparbüchse für die Kriegsblinden in Fäustchen. Zwei riesige indische Elefanten zogen einen Frachtwagen mit einer mannshohen Kirchenglocke auf dem Weg zum Schmelzofen. Auf den Dächern schraubten Blusenmänner die Kupfernen Blitzableiter und Telephondrähte ab. Deutschland kämpfte seinen letzten unerhörten Heldenkampf.

      Aber dort an der Ecke wieder Menschen. Die schneidige, durchdringende Stimme eines Vizefeldwebels. Er trägt einen Zwicker auf dem intelligenten Gesicht. Er streckt den Arm aus:

      „Ich komm’ doch eben aus dem Westen! Überall schwenken die französischen Soldatenräte seit vorgestern die weisse Fahne zu uns hinüber. Die Franzosen haben auch genug! Die wollen auch nur noch nach Hause! Nun ist überall Ende!“

      Und auf den bangen Gesichtern umher löst sich eine verzweifelte Spannung. Blicke wie von Schiffbrüchigen nach dem nahenden Rettungsboot. Bruno Lotheisen stürzte davon. Er bog in den Tiergarten ein. Die Parkwege waren leer. Deutschland schwand ihm. Er wusste nur: Meine Frau von mir. Mein Kind tot . . . Stille umfing ihn in dem Gehölz. Er schaute zu dem Nebelgrau des neunten November auf. Sein Kopf war wirr. Er fragte sich: Was ist das alles? Bin ich gestorben oder stürzt die Welt zusammen?

      II.

      Holzbraun und rostgrau gescheckt stand, ein starrer Koloss des Krieges, der Eiserne Hindenburg in der fahlen De Novemberluft. Niemand stieg mehr die Lauftreppen hinauf und nagelte. Es gab in der Sieges-Allee mehr grellweiss leuchtende Hohenzollern aus Marmor als dunkelgekleidete Menschen auf dem Sand vor ihren Sockeln. Nur von fern, vom Reichstag her, dämmerten schwarze Meere von Köpfen, grollte ein ungeheures Brausen.

      Bruno Lotheisen achtete nicht darauf. Er lief durch den Tiergarten, gesenkten Hauptes, den Blick auf den modernden Blättern am Boden, in der Richtung nach dem Brandenburger Tor. Ihn füllte ein jammervolles Staunen: Meine Frau . . . meine Frau . . .

      Wie war das möglich? Sie war doch nicht nur klug — viel klüger mit ihrem schnellen, hellen Verstand als andere Frauen —, sie war doch auch gut! Sie hat mich liebgehabt. Unsere Ehe war rein und klar. Wie konnte meine Frau, während ich in nächtiger Eiswelt für Deutschland litt, wie konnte meine Frau mich vergessen und verraten?

      Deine Frau? Nein: Deine Witwe!

      Es war kein Mensch in seiner Nähe. Und doch ging irgend jemand unsichtbar neben ihm und raunte ihm ins Ohr: Deine Frau? Nein! Deine Witwe!

      Er blieb stehen. Griff sich an den Kopf: Ich bin ja tot! Ich bin vielleicht amtlich längst für tot erklärt. Das Leben ging über mich hinweg. Ich bin für meine Frau nur noch eine Erinnerung. Eine Wehmut. Sie ist jung . . .

      Du, klein Evchen, mein Goldschnuck, mein Töchterle — du bist nicht vor einem Jahr gestorben, sondern erst heute. Bis dahin hast du gelebt. Für mich hast du gelebt. Aber ich, dein Vater, habe bis heute geglaubt zu leben, und bin doch schon lange vor dir, schon vor zweieinhalb Jahren, gestorben. Für deine Mutter und alle Menschen gestorben.

      Bruno Lotheisen ging weiter. Der Wind trug vom Reichstag her ein gedämpftes vieltausendfaches Hurra an sein Ohr. Er hörte es nicht. Radfahrer rasten an ihm vorbei, Männer in Arbeitskleidern mit roter Armbinde und i umgehängtem Gewehr. Sie schwenkten ihre Kappen und riefen ihm etwas zu, mit atemlosen, jubelnden Slimmen. Er schaute nicht hin. Er hatte derlei zu oft in Russland gesehen, als dass es ihm aufgefallen wäre. Er blickte hoffnungslos vor sich ins Leere. Er sagte sich: Was will ich denn noch? Ich bin ja tot. Ich kann mich nicht unter den Lebenden zeigen. Es ist ja für beide Teile peinlich. Was habe ich denn eigentlich jetzt vor? Wohin laufe ich? Ich muss doch irgendein Ziel haben, seit einer Stunde. Richtig: Ich muss irgendwo jemand fragen, ob mich wirklich alle Welt für tot hält? Dann — ja dann ist Lonny entschuldigt. Dann ist sie gerechtfertigt, wenn sie nach zweieinhalb Jahren Witwenschmerz wieder ans Heiraten denkt! Ich habe es ihr selbst, damals, beim letzten Abschied, voll Todesahnungen gesagt: Lonny — du Liebste — du Beste — ich danke dir! Du warst mein alles und mein ganzes Glück im Leben. Wenn ich fallen sollte und du findest noch einmal dein Glück im Leben — ich will nur, dass du glück ich bist — dann denke nicht an mich . . .

      Wen kann ich denn fragen, wie das mit mir ist? Ich wusste es doch, wen ich fragen wollte. Deswegen eile ich ja hier nach der Friedrichstadt. Richtig: Der Justizrat in der Mohrenstrasse, der alte Sachwalter meines Hauses. Ihm habe ich ja die Verwaltung aller meiner Angelegenheiten übergeben. Von ihm werde ich erfahren, ob ich gestorben bin . . .

      Und wieder der graue Wurm in der Seele: Wahrscheinlich bin ich schon längst in Russland gestorben und bilde mir nur ein, dass ich noch lebe. Oder ich liege irgendwo drüben im unendlichen Russland krank und träume nur im Fieber, ich sei daheim in Berlin . . .

      Ja — ja! Ich träume! Das da vor mir — das ist freilich das Brandenburger Tor, und oben das Viergespann der Siegesgöttin. Aber solch ein Lastkraftwagen, wie er da unter ihm donnernd vorbeirollt — den sieht man nur in Moskau und Petersburg — diesen Wagen, vollbepackt voll lachender, stehender Soldaten und Zivilisten mit Gewehren in der Hand, voll von lachenden Frauen und Mädchen mit flatternden roten Bändern im Haar, vorn vielläufig glotzend das Maschinengewehr mit dem quellenden Eingeweide seines Ladestreifens. Sie haben glühende Gesichter, trunkene Augen, durch das Gerassel schreiende Lippen: „Es lebe die internationale Revolution!“ Sie rufen es, auf Deutsch. Ich träume. Ich träume. Neue Lastwagen rasen mit rotflatternder Fahne vorbei. Die Leute entblössen das Haupt. Ich nicht. Ich stehe und staune. Gleich werden sie mir jetzt den Hut vom Kopf schlagen und mich verhaftet wegschleppen. Nein. Die Menschen sind alle duldsam, merkwürdig sanft, ihre Züge halb ungläubig, mit weit offenen Augen, als ob ihnen vor ihrem eigenen Tun schwindelte. Ich träume. Ich träume.

      Sonst könnte ich doch jetzt nicht mitten durch das Brandenburger Tor gehen, da, wo sonst nur der Kaiser und die Feuerwehr fuhr. Kein Schutzmann wehrt. Nirgends mehr ein Schutzmann. Keine Wache mehr, kein Posten da rechts am Seitenbau.

      Und sonst könnte mir doch nicht da der alte zerlumpte Mann entgegenkommen, der zärtlich lallend auf ein Bündel abgebrochener Gewehrkolben wie auf einen Säugling in seinen Armen niederblickt. Und da die Linden! Rotflatternd auf der russischen Botschaft die Sowjet-Fahne. Die breite Riesenfläche der Siegerstrasse fast ohne Fuhrwerk. Nur Menschen überall auf den Bürgersteigen, Fahrdämmen, Neitwegen. Ein schütteres schwarzes Ameisengekribbel.

      Gar nicht sehr viele. Weniger als sonst an einem Sonntagnachmittag.

      Man kann bequem die Linden hinaufgehen. Im Traum. Im Traum. Bis zum Kastanienwäldchen. Da steht noch die ganze Wache stramm unter Gewehr. Schmucke junge Jäger. In weitem Halbkreis ein Rund von Hunderten von schweigenden, gespannten Menschen. Auf dem freien Raum davor einige Herren in Zivil. Sie reden leise, eindringlich mit dem Wachthabenden. Auf einmal macht die Wache, stramm wie auf dem Exerzierplatz, auf dem linken Fuss kehrt. Die Gewehre rasseln in die Stützen. Bleiben herrenlos stehen. Gleich darauf marschiert die Wache in Sektionen rechts nach Hause. Ein schwaches Hurra umher. Der Wachthabende führt sie, noch den blanken Säbel in der Hand, am Arm die rote Binde . . .

      Hammerschläge, dumpf und laut in der gepressten Stille, in dem Palais gegenüber. Nein: Handgranaten! Die Menge tritt respektvoll zurück. Das Tor geht nicht auf. Ein junger Bursche Klettert auf einer Leiter vorn auf den Balkon. Der Alte Fritz sieht es von seinem ehernen Ross mit seinen Königsaugen. Als grauer Hintergrund drüben das Hohenzollernschloss, von dickgeballten, schwarzen Wetterschwaden von Menschen umlagert. Eine Bewegung wie Windstoss über den Wellen. Eine lange rote Schlange rollt vom Balkon des Schlosses hernieder. Hängt still in der Luft — blutfarben leuchtend.

      Dabei die Läden offen. Drüben rollt die Stadtbahn. Das Leben geht seinen Gang. Nirgends Zank. Nirgends Streit. Alles so schattenhaft selbstverständlich. So huschendwesenlos, schnell und leicht. Ein merkwürdiger Traum, in dessen watteweiche, geheimnisvolle Stille nur die Lastautos keuchen, mit ihrem jauchzenden Massenruf durch Das Gerassel: Es lebe die Internationale! Es lebe die Revolution!

      An Kranzlers Ecke hält ein solches Auto. Es hält überall, wo Feldgraue auf dem Bürgersteig kommen. Die Feldgrauen werden entwaffnet. Entwaffnen


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