Bleib doch, liebes Hausgespenst. Marie Louise Fischer
Читать онлайн книгу.auf. Danach kamen die Schularbeiten an die Reihe, und dann Kaspar, der große, bernhardinerartige Hund, der in einer gut ausgepolsterten Hundehütte wohnte. Er gehörte eigentlich Monikas Bruder, aber Peter nahm ihn auf seine Streifzüge in die Umgebung mit, bemühte sich auch gelegentlich, ihm Apportieren und andere Kunststückchen beizubringen. Doch er war zu bequem und zu vergeßlich, um Kaspar die tägliche Pflege angedeihen zu lassen, die ein Hund braucht, um sich wohl zu fühlen. So war es Monika, die für Kaspars Fütterung sorgte, und Monika, die ihn bürstete, ihm die Schlappohren saubermachte und die Nase eincremte.
In Begleitung von Kaspar, der freudig um sie herumsprang, lief sie dann in den Stall, um Bodo, den schweren Hannoveraner, aufzuzäumen. Bodo wieherte vergnügt, denn während der kalten Jahreszeit, wo er nicht draußen weiden konnte, war er immer besonders begierig auf einen Ausritt. Der sanfte Frühlingsregen störte weder ihn noch Monika oder Kaspar. Fast eine Stunde waren sie unterwegs, dann kamen sie durchnäßt, aber glücklich zurück. Monika rieb Bodo gründlich trocken, während Kaspar sich schüttelte, daß die Regentropfen nur so flogen. Sie nahm Kaspar mit ins Haus, weil er dort schneller trocken werden würde – in der Hoffnung, Amadeus würde sich zurückhalten. Denn wenn ein Tier die Nähe des Hausgespenstes spürte, sträubten sich ihm die Haare, und es wurde von Entsetzen gepackt.
„Laß dich bloß nicht blicken, Amadeus!“ rief sie mit geballter Faust ins Nichts hinein. „Sieh dir an, wie pudelnaß Kaspar ist! Du willst doch nicht, daß er sich erkältet? Also laß ihn gefälligst in Ruhe!“
„Mit wem sprichst du denn?“ fragte Frau Schmidt, die aus der Küche kam. Aber sofort überschaute sie die Situation. „Ach so. Ich verstehe. Nimm ein warmes Bad, Moni, und zieh frische Sachen an!“
Monika tat, wie ihr geraten war. Vergnügt aalte sie sich im warmen Wasser – bis ihr einfiel, daß sie etwas vorhatte. Sie gönnte sich noch eine kalte Dusche, sprang dann rasch aus der Wanne und zog sich an. Dann schlüpfte sie in ihre gelben Gummistiefel, lieh sich ohne viel zu fragen Lianes Regenmantel aus und bat die Mutter, ihr ihren Regenhut zu leihen.
„Was hast du vor?“ fragte Frau Schmidt.
„Ich will Vati entgegengehen.“
„Gibt’s was zu besprechen?“
„Ja.“ Monika, die keineswegs die Geheimnisvolle spielen wollte, holte den Block aus der Schublade, auf dem Frau Schmidt ihre Einkaufsnotizen zu machen pflegte. „Wegen Amadeus!“ schrieb sie auf den Zettel.
Frau Schmidt las die Mitteilung und riß sie dann rasch in kleine Fetzen – ganz sicher konnte man nicht sein, ob Amadeus am Ende auch noch lesen konnte. „Schon gut, mein Liebes“, sagte sie, „aber dann mußt du dich beeilen.“
Monika pfiff Kaspar. Aber der erhob sich nur sehr zögernd. Er war froh, daß er ein warmes Plätzchen im Haus gefunden hatte und hatte offensichtlich genug vom Regenwetter.
„Pfui, wie unsportlich, Kaspar!“ tadelte Monika ihn. „Aber von mir aus. Bleib, wo du bist. Beklage dich nicht, wenn Amadeus dich vergrault. Das hast du dir dann selber zuzuschreiben.“
Rasch gab sie der Mutter einen Abschiedskuß und lief ins Freie. Immer noch strömte das Wasser vom Himmel. Es war einer jener Landregen, die tagelang anhalten können. Monika machte er nichts aus. Mit weit ausholenden Schritten wanderte sie zielbewußt die schmale asphaltierte Straße entlang, die nach Heidholzen führte. Sie durchquerte einen kleinen Wald und pfiff dabei vor sich hin. Obwohl sie wußte, daß hier weit und breit keine Gefahr lauerte, war es ihr doch immer wieder ein wenig unheimlich, so ganz allein, ohne Kaspar und ohne Bodo, in freier Natur zu sein.
Als sie sich plötzlich gepackt fühlte, erschrak sie fast zu Tode. Kein Geräusch und kein Schritt hatte sie vor diesem Überfall gewarnt.
„Hilfe!“ schrie sie. „Lassen Sie mich los. Was fällt Ihnen ein!“
Sie trat nach hinten aus – aber da war kein Widerstand –, sie kämpfte mit aller Macht, um sich loszureißen. Starke Arme hielten sie unerbittlich umschlungen.
Nach wenigen Minuten – vielleicht waren es aber auch nur Sekunden – legte sich ihre Panik, und sie konnte wieder klar denken. Sie gab allen Widerstand auf, machte sich ganz schlapp und fragte: „Was wollen Sie eigentlich von mir?“
Darauf bekam sie keine Antwort, aber sie fühlte, wie sie zurückgezerrt wurde – nicht in den Wald, wie sie gefürchtet hatte, sondern in Richtung auf das Haus am Seerosenteich.
Monika versuchte, ganz ruhig zu atmen. Sie sah an sich herab. Deutlich fühlte sie die Arme, die sie umschlangen. Aber zu sehen war nichts von ihnen.
Plötzlich ging ihr ein Licht auf. „Amadeus! Du bist es!“ schrie sie. „Was soll der Unfug! Loslassen! Aber sofort!“
Auf der Stelle war sie frei.
Aufatmend rieb sie sich die Oberarme. „Amadeus, du solltest dich schämen!“ sagte sie streng. „Einem hilflosen jungen Mädchen im Freien aufzulauern! Das ist nun gar nicht mehr witzig. In Zukunft werde ich nie mehr ohne Kaspar Spazierengehen. Dann merke ich wenigstens rechtzeitig, wenn du in der Nähe bist.“ Entschlossen setzte sie ihren Weg fort.
Genau am Ende des Wäldchens stieß sie gegen eine unsichtbare Mauer. Sie versuchte, nach rechts, sie versuchte, nach links auszuweichen. Aber die Wand vor ihr wollte nicht weichen. Sie war nicht hart, nicht so hart, daß sie sich an ihr hätte stoßen können. Aber sie war einfach da, und sie war unüberwindlich.
„Ich weiß, daß du es bist, Amadeus!“ rief Monika. „Wahrscheinlich meinst du es gar nicht böse, es soll wohl ein Spiel sein … aber ich habe die Nase voll davon. Hör auf damit!“
Doch die unsichtbare Mauer blieb vor ihr stehen.
Monika versuchte es mit einer List. „Ah, jetzt verstehe ich, Amadeus. Hier ist die Grenze deines Reiches, wie? Über dieses Wäldchen kommst du nicht hinaus. Gib’s schon zu! Sonst würdest du dir nicht soviel Mühe geben, mich zurückzuhalten. Wahrscheinlich willst du nicht, daß ich allein mit Vati rede. Warum kommst du nicht einfach mit, wenn du kannst? Aber der springende Punkt ist … du kannst nicht!“
Von einer Sekunde zur anderen löste die unsichtbare Wand sich auf, und vor Monika war nichts mehr als der sanft strömende Regen, durch den sie ungehindert hindurchschritt.
Sie begann zu laufen, denn durch die Kämpfe mit Amadeus hatte sie Zeit verloren. Dabei überlegte sie. Es war natürlich möglich, daß Amadeus sie begleitete. Aber sie war sich ziemlich sicher, daß er es nicht tat. Ihr gegenüber pflegte er zwar vorzugeben, gänzlich frei zu sein. Aber sie hatte immer schon den Eindruck gehabt, daß er an das Haus am Seerosenteich und das Gebiet, das es umgab, gebannt war. Sein Reich hörte jenseits der großen Wiese an der Kreuzung auf, an der sie und Ingrid sich auf dem Schulweg morgens trafen und mittags wieder trennten, und auf der anderen Seite hinter der Schloßruine, die das Haus auf einem Hügel hinter dem Teich überragte. Jetzt hatte sie also noch einen dritten Grenzstrich gefunden: den Waldrand, von dem man schon den Weiler Heidholzen sehen konnte, fünf weiß gekalkte Bauernhäuser mit entsprechenden sogenannten „Beihäusern“, in denen die älteren Leute lebten und die auch an Sommergäste vermietet wurden.
Von hier aus lief die Straße durch Wiesen und Wälder geradewegs auf Heidholzen zu. In fünf Minuten hatte Monika den Ort erreicht, wanderte vorbei an dem natürlichen Brunnen, dessen Wasser auch im Frühlingsregen in den ausgehöhlten Baumstamm plätscherte. Flüchtig dachte sie an Ingrid, als sie am letzten Haus vorbeikam, in dem die Freundin mit ihren Eltern lebte.
Am Ortsausgang stellte sie sich auf. Sie hatte das Gefühl, reichlich Zeit verloren zu haben, aber gleichzeitig wußte sie, daß es dumm war, sich deswegen Sorgen zu machen. Es gab für ein Auto nur diese einzige Straße zum Haus am Seerosenteich, auf der sie gekommen war. Also konnte sie ihren Vater nicht verpaßt haben.
Erst wenige Minuten stand sie am Straßenrand, als ein kleiner roter Flitzer ein paar Meter vor ihr hielt.
Ein junger Mann streckte den Kopf aus dem heruntergekurbelten Wagenfenster und fragte: „Kann ich dich ein Stück mitnehmen?“ Er lächelte freundlich.