Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi. Mari Jungstedt
Читать онлайн книгу.zu den Leuten in die Häuser sehen. Einige hatten Kupfergefäße an der Küchenwand hängen, in einem anderen Haus entdeckte Fanny eine bunte Wanduhr. In einem Wohnzimmer sprang ein kleines Mädchen vom Sofa auf den Boden und wieder zurück und redete mit jemandem, den Fanny nicht sehen konnte. Dort stand ein Mann mit einem Handfeger in der Hand. Offenbar war ein wenig Dreck auf den Fußboden geraten, stellte Fanny sich vor und kniff die Lippen zusammen. Hinter einem anderen Küchenfenster stand ein Paar und kochte anscheinend gemeinsam das Abendessen.
Plötzlich wurde die Tür einer größeren Villa geöffnet. Ein älteres Paar kam heraus und ging munter plaudernd zu einem wartenden Taxi. Sie waren gut angezogen, und Fanny nahm das kräftige Parfüm der Frau wahr, als die beiden an ihr vorbeikamen. Sie merkten nicht, dass Fanny stehen blieb und sie ansah.
Sie fror in ihrer dünnen Jacke. Zu Hause warteten ihre Mutter und die stumme, düstere Wohnung. Ihre Mutter arbeitete bei Flexitronics in der Nachtschicht. Ihren Vater hatte Fanny nur zweimal im Leben getroffen, zuletzt mit fünf Jahren. Seine Band hatte einen Auftritt in Visby, und er war danach zu einem kurzen Besuch gekommen. Sie konnte sich nur an eine große, trockene Hand erinnern, die ihre gehalten hatte, und an braune Augen. Ihr Vater war schwarz wie die Nacht. Er war Rastaman und kam von Jamaica. Auf Fotos hatte sie seine langen, verschlungenen Locken gesehen. Die wurden Dreadlocks genannt, das hatte ihre Mutter erzählt.
Er wohnte in Stockholm und war Schlagzeuger in einer Band, außerdem hatte er in Farsta eine Frau und drei Kinder. Mehr wusste Fanny nicht.
Er ließ nie von sich hören, nicht einmal zu ihrem Geburtstag. Es kam vor, dass sie sich ausmalte, ihre Eltern lebten zusammen. Vielleicht würde ihre Mutter dann nicht so viel trinken. Vielleicht würde sie fröhlicher sein. Vielleicht würde Fanny sehr viel Arbeit erspart bleiben: Kochen, Aufräumen und Waschen, die Spaziergänge mit Pricken und das Einkaufen. Vielleicht würde sie dann kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn sie in den Stall ging. Fanny hätte gern gewusst, was ihr Vater sagen würde, wenn er wüsste, wie ihr Leben aussah. Aber ihm war das wohl egal, sie bedeutete ihm ja nichts.
Sie war nur einfach das Ergebnis seiner Affäre mit ihrer Mutter.
Das Erste, was Karin und Wittberg auffiel, waren die Skulpturen. Fast zwei Meter hoch, aus Beton, eine gesammelte Gruppe auf dem Grundstück. Eine stellte ein sich aufbäumendes Pferd dar, das verzweifelt die Wolken anzuwiehern schien, die andere erinnerte an ein Reh, die dritte an einen Elch mit überdimensionalem Kopf. Grotesk und gespenstisch standen sie im strömenden Regen auf der weiten platten Rasenfläche.
Sie liefen vom Auto zum Haus, dessen schlichte Veranda überdacht war. Typisch fünfziger Jahre, eine Art Bungalow mit Keller und schmutzig grau verputzter Fassade. Die Treppe war morsch, und die Gefahr einzubrechen schien sehr groß. Die Klingel war kaum zu hören. Nach etwa einer Minute wurde die Tür von einer großen kräftigen Frau von vielleicht siebzig geöffnet. Sie trug eine Strickjacke und ein geblümtes Kleid. Ihre üppigen Haare waren weiß.
»Wir kommen von der Polizei«, erklärte Wittberg. »Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen. Sind Sie Doris Johnsson, die Mutter von Bengt Johnsson?«
»Ja. Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt? Kommen Sie rein. Sie werden ja ganz nass.«
Sie ließen sich auf dem Ledersofa im Wohnzimmer nieder. Das Zimmer war voll gestopft mit Gegenständen. Außer der Sofagruppe gab es drei Sessel, eine rustikale Kommode, einen Fernseher, Ständer mit Blumen, ein Bücherregal. Auf den Fensterbänken drängten sich die Blumentöpfe. In jeder freien Ecke standen Glasfiguren aller Art. Sie alle hatten nur eine Gemeinsamkeit: Sie stellten Tiere dar. Hunde, Katzen, Igel, Eichhörnchen, Kühe, Pferde, Schweine, Kamele, Vögel. In unterschiedlichen Größen, Farben und Posen thronten sie auf Tischen und Konsolen, auf Fensterbänken und in Regalen.
»Sammeln Sie?«, fragte Karin unbeholfen.
Das gefurchte Gesicht strahlte auf.
»Schon seit vielen Jahren. Ich habe sechshundertsiebenundzwanzig Stück«, erzählte Bengans Mutter stolz. »Aber was kann ich für Sie tun?«
»Also, wir bringen leider eine traurige Nachricht.« Wittberg beugte sich vor.
»Ein Freund Ihres Sohnes ist tot aufgefunden worden, und wir haben den Verdacht, dass er ermordet worden ist. Er heißt Henry Dahlström.«
»Du meine Güte, Henry?« Bengans Mutter erbleichte. »Und er ist ermordet worden?«
»Es sieht leider so aus. Wir haben den Täter noch nicht, und deshalb möchten wir gern mit Henrys Bekanntenkreis sprechen. Wissen Sie, wo Bengt gerade steckt?«
»Nein, er hat diese Nacht nicht hier geschlafen.«
»Und wo dann?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesprochen?«, fragte Karin.
»Gestern Abend. Ich war unten im Keller und habe Wäsche aufgehängt, ich habe ihn also nicht gesehen. Er hat nur die Treppe herunter gerufen. Heute Morgen hat er angerufen und gesagt, dass er ein paar Tage bei einem Kumpel verbringen würde.«
»Und bei wem?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Hat er eine Telefonnummer hinterlassen?«
»Nein. Er ist doch ein erwachsener Mann. Ich hatte den Eindruck, dass er bei einer Frau ist.«
»Warum das?«
»Weil er so geheimnisvoll tat. Sonst sagt er immer, wo er ist.«
»Hat er per Festnetz angerufen oder Mobil?«
»Per Festnetz.«
»Haben Sie ein Nummerndisplay?«
»Ja, das habe ich.«
Sie erhob sich und ging in die Diele. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück.
»Nein, da ist nichts zu sehen. Ist offenbar eine Geheimnummer.«
»Hat er ein Handy?«
Doris Johnsson stand in der Türöffnung und sah die Gäste auf dem Sofa herausfordernd an.
»Ehe ich weitere Fragen beantworte, will ich wissen, worum es hier geht. Ich habe Henry schließlich auch gekannt. Und da müssen Sie mir schon sagen, was da passiert ist.«
»Ja, ja, sicher«, murmelte Wittberg, der gegen diese dominante Frau sichtlich nicht ankam. Karin war schon aufgefallen, wie höflich er sich ihr gegenüber verhielt.
»Gestern Abend wurde Dahlström von Ihrem Sohn und dem Hausmeister tot in seiner Dunkelkammer im Keller seines Hauses gefunden. Als der Hausmeister dann die Polizei anrufen ging, verschwand Bengt, und seither hat er nichts von sich hören lassen. Deshalb wäre es uns sehr wichtig, mit ihm in Kontakt zu kommen.«
»Er hatte natürlich Angst.«
»Das ist sehr gut möglich, aber wenn wir den Täter finden wollen, müssen wir mit allen sprechen, die vielleicht etwas gesehen haben oder die uns erzählen können, was Henry an den Tagen vor dem Mord gemacht hat. Haben Sie überhaupt keine Vorstellung, wo Bengt sein kann?«
»Tja, er hat ja so viele Bekannte. Aber natürlich kann ich mich ans Telefon setzen und mich erkundigen.«
»Wann haben Sie Bengt zuletzt gesehen, und jetzt meine ich wirklich, gesehen?«, warf Karin dazwischen.
»Mal überlegen, also vor gestern Abend, meinen Sie. Das war gestern Morgen. Er hat wie immer lange geschlafen. Ist wohl gegen elf zum Frühstück erschienen, als ich gerade zu Mittag essen wollte. Dann ist er weggegangen. Er hat nicht gesagt, wohin er wollte.«
»Wie kam er Ihnen vor?«
»Wie immer. Er wirkte wirklich ganz normal.«
»Wissen Sie, ob in letzter Zeit irgendetwas Besonderes passiert ist?«
Doris Johnsson zupfte an ihrem Rock herum.
»Nein«, sagte sie zögernd.
Plötzlich