Die Abenteuer des Huckleberry Finn. Mark Twain
Читать онлайн книгу.dass es der Nigger war?«
»O nein, nicht alle. Noch immer denken einige, der hat’s getan. Aber jetzt werden sie ja den Nigger bald fassen, und vielleicht können sie’s aus ihm rausquetschen.«
»Wieso – sind sie denn noch immer hinter ihm her?«
»Also – bist du naiv! Nicht alle Tage liegen dreihundert Dollar auf der Straße, und man braucht sie bloß aufheben. Ein paar glauben, der Nigger ist nicht weit von hier. Zu denen gehör ich – aber ich hab’s nicht groß erzählt. Vor ein paar Tagen unterhalt ich mich mit nem Ehepaar, das nebenan in der Blockhütte wohnt, und die zwei erzählen mir so nebenbei, dass fast nie einer auf die Insel da drüben kommt, die hier Jackson’s Island heißt. Wohnt denn da niemand? frag ich. Nein, niemand, sagen die. Ich hab nichts mehr gesagt, aber ich hab mir so meine Gedanken gemacht. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich an der Inselspitze drüben ein, zwei Tage vorher Rauch gesehn habe, also denk ich mir, nicht ausgeschlossen, dass der Nigger sich da drüben versteckt hält; jedenfalls, sag ich mir, lohnt sich wohl der Aufwand, da mal nachzuforschen. Seither hab ich kein Rauch mehr gesehn, also, denk ich, ist er wohl jetzt weg, wenn er’s war; aber mein Mann will doch mal rüber und nachsehn – er und noch einer. Er ist unterwegs gewesen, weiter oben am Fluss; aber heute ist er wieder zurück, und ich hab’s ihm sofort erzählt, wie er vor zwei Stunden gekommen ist.«
Ich war so unruhig geworden, dass ich nicht mehr stillsitzen konnte. Ich musste was mit meinen Händen tun; so hab ich ne Nadel genommen und wollt sie einfädeln. Meine Hände haben gezittert – es war hoffnungslos. Als die Frau mit Reden aufhörte, sah sie hoch, und sie guckte mich ganz komisch an und hat ein bisschen gelächelt. Ich hab die Nadel und den Faden weggelegt und tat interessiert – und ich war’s auch – und sag:
»Dreihundert Dollar sind ne Stange Geld. Hätt doch bloß meine Mutter die! Fährt Ihr Mann heut abend noch rüber?«
»Aber sicher. Er ist mit dem Mann, von dem ich dir erzählt habe, in die Stadt und will ein Boot besorgen und schaun, ob sie noch ne Flinte leihen können. Nach Mitternacht wollen sie rüber.«
»Könnten die nicht besser sehn, wenn sie bis am Tag warten?«
»Klar. Aber dann kann der Nigger doch auch besser sehn, oder? Nach Mitternacht schläft er wahrscheinlich, und sie können durch den Wald schleichen und im Dunkeln sein Lagerfeuer umso leichter aufspüren, wenn er noch eins hat.«
»Da hab ich nicht dran gedacht.«
Die Frau guckte mich weiter so komisch an. Ich hab mich kein bisschen mehr wohlgefühlt. Auf einmal sagt sie:
»Was hast du gesagt, wie du heißt, Kleine?«
»M-Mary Williams.«
Irgendwie kam’s mir vor, als hätt ich vorher nicht Mary gesagt, deswegen hab ich nicht hochgesehn; kam mir vor, als hätt ich Sarah gesagt; deswegen war ich ziemlich durcheinander und hatte Angst, dass man’s mir vielleicht ansah. Hätt doch bloß die Frau noch was gesagt! Endlich sagt sie:
»Kleine, ich denk, du hast Sarah gesagt, wie du reingekommen bist?«
»Hm, ja, hab ich. Sarah Mary Williams. Sarah ist mein erster Name. Einige nennen mich Sarah, einige Mary.«
»Ach – so ist das?«
»Hm-m, Ma’m.«
Ich fühlte mich jetzt wieder wohler, aber trotzdem wär ich lieber aus dem Haus gewesen. Ich hab mich noch immer nicht getraut hochzugucken.
Aber da hat die Frau wieder drauflos geschwätzt, was für schwere Zeiten das sind, und wie ärmlich sie leben müssten, und wie die Ratten hier rumspazieren, als würd denen das Haus gehören und so weiter und so fort, und da war’s mir wieder wohler. Mit den Ratten hatte sie recht. Alle Naslang hat eine ihre Schnauze aus einem Loch in der Ecke gesteckt. Sie müsste was griffbereit haben, wenn sie allein war, um nach denen zu werfen, sagte sie, sonst würden die ihr keine Ruhe lassen. Sie zeigte mir eine Bleistange, die zu einem Knoten gekrümmt war; mit der war sie sonst ne gute Schützin, sagte sie, aber sie hätt sich vor ein, zwei Tagen den Arm verrenkt und wüsst jetzt nicht, ob sie noch richtig werfen kann. Trotzdem hat sie auf ne Gelegenheit gelauert und warf auch gleich nach ner Ratte, aber sie traf weit daneben und schrie »autsch!«, der Arm tat ihr so weh. Dann wollte sie, dass ich es bei der nächsten probiere. Lieber wär ich verschwunden, eh ihr Alter wieder zurück war, aber ich hab’s natürlich nicht gezeigt. Ich nehm also das Ding, und bei der ersten Ratte, die ihre Nase rausstreckt, hab ich abgezogen, und wär die geblieben, wo sie war, wär sie ziemlich futsch gewesen. Das war erstklassig, sagt sie, und bestimmt würd ich aus der nächsten Matsch machen. Sie ist zu dem Bleiklumpen hin, schnappt ihn, trägt ihn zurück und bringt einen Strang Garn mit, bei dem ich ihr helfen soll. Ich halt meine beiden Hände hoch, und sie wickelt das Garn drum rum und schwätzt weiter von ihren Angelegenheiten und ihrem Mann seinen. Aber auf einmal hört sie mitten im Satz auf und sagt:
»Hab ein Auge auf die Ratten. Am besten, du legst das Blei in dein Schoß, griffbereit.«
Und genau in dem Moment lässt sie den Klumpen in mein Schoß fallen, und ich klatsch meine Schenkel über ihm zusammen, und sie schwätzt weiter. Aber bloß so ne Minute. Dann nimmt sie mir das Garn ab und guckt mich fest, aber sehr freundlich an und sagt:
»Komm schon – wie heißt du richtig?«
»Wa-Was?«
»Wie du richtig heißt. Bill oder Tom oder Bob? – oder wie?«
Ich glaube, ich hab gezittert wie Espenlaub und hab kaum mehr gewusst, was tun. Aber ich schaff es noch rauszubringen:
»Bitte machen Sie sich nicht lustig über ein armes Mädchen wie mich. Wenn ich hier störe, geh –«
»Nein, das tust du nicht. Setz dich und bleib, wo du bist. Ich tu dir nichts und erzähl auch niemand was weiter. Erzähl mir einfach dein Geheimnis und vertrau mir. Ich behalt’s bestimmt für mich; sogar helfen will ich dir. Und mein Alter auch, wenn du willst. Hör mal, du bist als Lehrling ausgerissen – das ist alles. Da ist doch nichts dabei. Und schon gar nichts Unrechtes. Man hat dich schlecht behandelt, und da hast du beschlossen abzuhauen. So was! – Mein Kind, ich würd dich doch nicht verpetzen! So, und jetzt erzähl mir alles – sei ’n braver Junge!«
Ich hab ihr also gesagt, es hätt kein Zweck, ihr noch länger was vorzuspielen, und ich wollt auch jetzt sofort mein Herz erleichtern und ihr alles erzählen, aber sie dürft nicht von ihrem Versprechen abrücken. Und da hab ich ihr lang und breit erzählt, mein Vater und meine Mutter sind tot, und das Gericht hat mich einem knausrigen alten Farmer in die Lehre gegeben, dreißig Meilen vom Fluss weg auf dem Land, und dieser Farmer hat mich so schlecht behandelt, dass ich’s nicht mehr ausgehalten habe; der ist jetzt für zwei Tage verreist, und die Gelegenheit hab ich benutzt und ein paar alte Kleider von seiner Tochter geklaut, und dann bin ich ausgerissen und die dreißig Meilen in drei Nächten hergekommen; nachts bin ich marschiert, und am Tag hab ich mich versteckt und geschlafen, und der Beutel mit Brot und Fleisch, den ich von zu Haus mitgenommen habe, hat mir den ganzen Weg gereicht, es war wirklich genug. Und bestimmt wird sich jetzt mein Onkel Abner Moore um mich kümmern, deswegen hab ich mich ja auch auf den Weg nach Goshen gemacht.
»Goshen – Kind? Das ist doch nicht Goshen. Das hier ist St. Petersburg. Goshen liegt zehn Meilen weiter oben. Wer hat dir denn gesagt, das sei Goshen?«
»’n Mann halt, den ich im Morgengrauen getroffen hab, als ich grad in den Wald reinwollte zum Schlafen, wie sonst auch. Wo der Weg sich gabelt, soll ich nach rechts abbiegen, hat er gesagt, und dann wär ich nach fünf Meilen in Goshen.«
»Der war bestimmt besoffen. Der hat dir genau das Falsche gesagt.«
»Hm, ja, benommen hat er sich schon wie ’n Betrunkner, aber das ist ja jetzt auch egal. Ich muss weiter. Noch vor Tagesanbruch will ich in Goshen sein.«
»Wart nen Moment. Ich geb dir noch was zu essen mit. Vielleicht kannst du’s brauchen.«
Sie brachte mir was und fragt mich auf einmal:
»Sag