Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle

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Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle


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was ich heute von dir möchte, ist, zu erfahren, wo ich herkomme.« Sie drehte sich um und ließ Laura nicht aus den Augen. »Jeder Mensch ist ein Zweig eines großen Familienbaumes, und wenn man weiß, wo seine Wurzeln liegen, weiß man, wer man selbst ist. Kannst du das denn nicht verstehen?«

      »Nein, und ich möchte es auch nicht verstehen. Manchmal ist es besser, seine Abstammung zu vergessen, sie vollständig aus dem Gedächtnis zu tilgen, wenn die Erinnerung daran von großem Leid geprägt ist.« Müde strich sich Laura eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erwiderte provozierend Maureens Blick. »Was willst du eigentlich hören? Dass McCorkindale ein reicher und mächtiger Clanchef war? Tja, vor der Schlacht von Culloden traf das zu. Wenn du jedoch hören willst, dass er ein zärtlicher Ehemann und liebevoller Vater, gerecht und großzügig gegenüber seinen Dienstboten, gewesen war, so muss ich dich enttäuschen. McCorkindale war ein Tyrann! Der einzige Mensch, auf den er sich jemals verließ, war er selbst. Für ihn zählte nur eine Meinung – seine eigene! Er war selbstherrlich und hochmütig. Und er war brutal. Besonders, wenn er dem Bier oder dem Whisky zugesprochen hatte. Da er täglich trank, waren seine Frau und ich vor seinen Wutausbrüchen und Schlägen niemals sicher. Wenn er betrunken war, konnte niemand ihm etwas recht machen. Wegen einer harmlosen Fliege an der Wand schlug er mit seinem Schwert die gesamte Einrichtung kurz und klein. Einmal hackte er einem Jungen, kaum älter als zehn Jahre, die Hand ab, als dieser in der Halle stolperte und ihm Rotwein über sein Wams schüttete.« Laura machte eine kurze Pause und trat zu Maureen. Leicht legte sie ihr die Hand auf die Schulter. »War es das, was du hören wolltest? Bestimmt nicht, es ist aber die Wahrheit. Nein, eigentlich ist es nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Glaub mir, es ist besser, wenn du den Rest nie erfährst.«

      Maureen schluckte trocken, die Zunge klebte ihr am Gaumen.

      »Du sprichst von ihm, als wäre er tot. Philipps Recherchen haben ergeben, dass Archibald McCorkindale noch lebt.«

      »Für mich ist er tot, gestorben vor vielen, vielen Jahren. Was dich angeht, Maureen: Ich wollte dich nie bekommen, ich konnte es aber nicht ändern. Ich habe meine Pflicht getan, habe dich ausgetragen und dich nicht ausgesetzt oder in einem Fluss ertränkt, was ich eigentlich vorgehabt hatte. Selbst während der Geburt betete ich dafür, dieses unerwünschte Balg in meinem Bauch würde keinen Atemzug machen, wenn es auf die Welt kam. Nun, es war nicht Gottes Wille, und so wurde ich Mutter, ob ich wollte oder nicht.«

      Maureens Magen krampfte sich vor Übelkeit zusammen, ein stechender Schmerz ließ sie nach Luft schnappen.

      »Ich war dir immer eine Last.«

      Sie war verwundert, wie ruhig ihre Stimme in dieser Situation klang. All das, was Maureen ihr Leben lang gespürt hatte, hatte Laura mit wenigen und brutal offenen Worten bestätigt.

      »Das kann ich nicht leugnen.« Laura sprach ruhig, es schien, es wäre sie erleichtert, sich endlich nicht mehr verstellen zu müssen. »Das ganze Leben war eine einzige Last, und die Gewissheit, dass es bald zu Ende sein wird, hat für mich nichts Erschreckendes. Ich bin alt und krank. Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe? Ich will dich auch heute nicht, so wie ich dich nie gewollt habe.«

      Später wusste Maureen nicht mehr, wie sie nach draußen gelangt war. Erst als sie sich an die feuchte Hauswand lehnte und die Nässe durch ihre Kleidung hindurch an ihrem Rücken spürte, begann sie zu zittern. Maureen würgte, doch kein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Sie war wie erstarrt. Nimm dich zusammen!, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Du hast es immer geahnt. Trotzdem überkam Maureen ein Gefühl, als würde ihr das Herz mit glühenden Zangen aus der Brust gerissen. Ihre eigene Mutter hatte ihren Tod gewünscht! Sie zögerte, ob sie zu Laura zurückkehren und ihren Mantel holen sollte, denn der feuchte Nebel hatte ihr dünnes Kleid inzwischen durchnässt, und sie fror entsetzlich. Aber sie hatte jetzt nicht mehr die Kraft, Laura erneut gegenüberzutreten.

      Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging die Royal Mile in Richtung Holyrood hinunter. Sie brauchte frische Luft und wollte zu Fuß gehen, die Enge einer Kutsche hätte sie jetzt nicht ertragen. Der Nebel war so dicht, dass sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, und ihre Schritte auf dem Pflaster schienen von der wabernden grauen Masse geschluckt zu werden. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie hatte eine Tür geöffnet, die jahrelang verschlossen gewesen war, und hatte den Vorraum zur Hölle betreten. Trotzdem bedauerte sie es nicht, endlich die Wahrheit zu wissen. Nun wusste sie Bescheid, mochte es auch noch so schmerzhaft sein. Nun konnte sie mit ihrer Familie nach Cornwall zurückkehren – ihrer Mutter war sie nichts mehr schuldig.

      An einer Ecke der High Street tauchten plötzlich zwei Männer neben ihr auf. Einer umklammerte sie von hinten so fest, dass Maureen fast keine Luft mehr bekannt, während der andere mit einer Hand ihr Kinn hob und sie abschätzend betrachtete. Sein Atem stank nach Fäulnis und Bier.

      »Na, Süße, so allein unterwegs? Haste Lust auf uns zwei?«

      »Lassen Sie mich sofort los!«

      Mit aller Kraft trat Maureen um sich, und der Mann, der sie umklammert hielt, schrie auf. Offenbar war ihr Tritt erfolgreich gewesen.

      »Hey, das ist ja eine ganz Wilde! Ich mag temperamentvolle Frauen.«

      Durch den dünnen Stoff ihres Kleides, befingerte er ihre Brust, sie spürte die schwielige Hand und die Angst nahm ihr den Atem. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, bei Dunkelheit allein durch die Altstadt zu gehen!

      »Olala, das ist aber ein feines Stöffchen, du machst wohl auf Dame, was?«, raunte einer der Kerle. »Bei dem Wetter musste froh sein, wenn du überhaupt Kundschaft bekommst.«

      Verzweifelt versuchte Maureen sich zu befreien, doch der Mann hatte dazugelernt. Sein Griff war wie aus Eisen, noch einmal würde er sich nicht treten lassen.

      »Ich bin eine ehrbare Frau.«

      Im selben Augenblick wusste Maureen, wie dumm dieser Satz klang. Keine ehrbare Frau war um diese Uhrzeit und bei dem Wetter allein in der Altstadt unterwegs. Trotzdem nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und rief: »Wenn mein Mann davon erfährt, wird er euch töten!«

      Tatsächlich wurde die Umklammerung nun ein wenig gelockert, und ein bärtiges, schmutziges Gesicht kam immer näher. Aufgesprungene Lippen versuchten sie zu küssen. Angewidert von dem üblen Geruch, den der Mann verströmte, drehte Maureen den Kopf zur Seite.

      »Hey, Rob, ich glaube, das ist gar keine Hure ...«

      »Das glaube ich auch, meine Herren! Und jetzt ist es wohl besser, ihr nehmt eure Füße in die Hand und macht, dass ihr wegkommt. Oder wollt ihr Bekanntschaft mit meinem kleinen Freund hier machen?«

      Erleichtert hörte Maureen die fremde Stimme und sah das Aufblitzen einer Pistole im Nebel. Sie wurde so hastig losgelassen, dass sie taumelte. Der Fremde konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie in den Straßenschmutz fiel.

      »Ich danke Ihnen. Sie ...«

      Maureen stockte. Sie hatte ihren Blick zum Gesicht ihres Retters erhoben. Alan McLaud! Im selben Moment erkannte er sie ebenfalls.

      »Ach, sieh mal einer an! Tja, ich scheine das zweifelhafte Vergnügen zu haben, stets die falschen Frauen zu retten.«

      Maureen ballte ihre Hände zu Fäusten und holte tief Luft. Sie wollte keineswegs die Beherrschung verlieren. McLaud wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, er lächelte spöttisch.

      »Ich zweifle ernsthaft daran, dass Sie wirklich eine Lady sind. Dafür treiben Sie sich zu oft an zwielichtigen Orten zu denkbar unüblichen Uhrzeiten und darüber hinaus in äußerst fragwürdiger Gesellschaft herum. Aber wissen Sie was? Genau das macht Sie interessant, denn ich mag keine Ladys – besondere keine englischen.«

      »Sie ... Sie ... unverschämter Kerl!«

      Alan McLaud lachte laut.

      »Ich warte noch immer auf den Besuch Ihres angeblichen Mannes. Oder sollte er etwa ein Feigling sein?« In gespielter Verwunderung schlug er sich gegen die Stirn. »Aber natürlich ist er ein Feigling! Er ist schließlich Engländer! Die sind doch nur stark, wenn die gesamte Armee hinter ihnen steht.«

      Maureen


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