Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle

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Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle


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dem Abendessen, bei dem Frederica die innere Anspannung ihrer Mutter bemerkte und sich erstaunlich still verhielt, berichtete Maureen von der Begegnung mit Laura. Als sie geendet hatte, legte Philipp die Fingerspitzen aneinander und betrachtete seine Nägel.

      »Ich kann nachvollziehen, wie enttäuscht du bist«, sagte er langsam und ohne aufzusehen. »Wenn du jedoch ehrlich zu dir selbst bist – hast du von Laura ein anderes Verhalten erwartet? Nachdem deine Eltern jahrelang nichts von sich hören ließen, nicht auf deine zahlreichen Briefe geantwortet haben ... Überhaupt, wenn man das Verhalten deiner Mutter während deiner Kindheit betrachtet, so kommt ihre heutige Zurückweisung nicht überraschend für dich, oder?«

      Stumm schüttelte Maureen den Kopf, denn sie brachte kein Wort hervor. Die Tränen schnürten ihr die Kehle zu, sie konnte aber nicht weinen. Die Jahre der Trennung hatten nichts verändert, Laura empfand heute nicht mehr Liebe als früher für sie. Ihr Vater war tot, gestorben an gebrochenem Herzen über den Verlust seiner Heimat und vielleicht auch vor Sehnsucht nach seiner einzigen Tochter. Maureen wünschte sich, einmal richtig weinen zu können. Das würde ihr Erleichterung verschaffen, aber es drang nicht mehr als ein trockenes Schluchzen aus ihrer Kehle. Trotz allem, was heute vorgefallen war – Laura war und blieb ihre Mutter, und sie würde Schottland nicht ohne sie wieder verlassen.

      Zu Maureens großer Freude verlief die erste Begegnung zwischen Frederica und ihrer Großmutter überraschend harmonisch. Sie hatte Frederica über die Umstände, unter denen Laura lebte, aufgeklärt, und auch wenn das Mädchen entsetzt war, ließ sie sich nichts anmerken. Zu dritt saßen sie an dem wackligen Tisch – Maureen hatte sich aus der Schenke einen Stuhl ausgeliehen – tranken heißen Tee, den Maureen mitgebracht hatte, und Frederica plauderte unbeschwert und erzählte von Trenance Cove. So verschlossen und hart war Lauras Herz doch nicht, als dass sie ihre Enkelin abweisend behandelt hätte. Maureen kam aus dem Staunen nicht heraus, als Laura gezielte Fragen nach ihrem Heim und nach Cornwall stellte, die Frederica bereitwillig beantwortete. Allerdings verspürte Maureen auch ein wenig Bitterkeit, denn eine solche Unterhaltung mit ihrer Mutter hätte sie selbst gewünscht. Sie verbot sich aber Eifersucht, war stattdessen dankbar, ihre Mutter und ihre Tochter in einer solchen Harmonie zu erleben.

      Nach einer Stunde drängte Maureen zum Aufbruch, denn sie bemerkte, wie der Besuch Laura erschöpfte. Frederica wäre gern noch länger geblieben, daher fragte sie, als sie Laura die Hand gab: »Ich darf doch wiederkommen?«

      Laura nickte. »Gern, mein Kind, aber ich glaube, ihr werdet bald nach England zurückkehren.« Fragend sah sie zu Maureen.

      »Wir haben keine Eile«, antwortete Maureen mit leicht gerunzelter Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, von Laura jemals mein Kind genannt worden zu sein. Wie konnte es möglich sein, dass Frederica Lauras Herz offenbar erobert hatte, und ihr selbst war es niemals gelungen? »Ich werde so lange in Schottland bleiben, wie du mich brauchst«, fuhr sie schnell fort. »Oder bis du einwilligst, uns in den Süden zu begleiten.«

      Lauras Blick verdüsterte sich, sie schwieg jedoch. Hielt sie sich wegen Frederica zurück? Maureen wusste nicht, was in ihrer Mutter vor sich ging. Sie hatte sie noch nie verstanden. Einen Moment verspürte sie den Drang, so schnell wie möglich wieder abzureisen, aber sie konnte nicht einfach wieder davonlaufen, wie sie es als junges Mädchen getan hatte. Selbstverständlich würde sie sich um Laura kümmern und sich auch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, auch wenn Laura es ihr nicht leicht machen würde. Am meisten wünschte sich Maureen, dass Laura sich überwinden und Philipp die Hand reichen würde. Sie, Maureen, würde dazu nicht viel beitragen können, aber vielleicht vermochte Frederica, dieses Wunder geschehen zu lassen.

      Die nächsten zwei Wochen verliefen in gleichförmiger Monotonie. Frederica hatte sich mit einer Nachbarstochter angefreundet. Die Baines bewohnten ebenfalls ein Haus am Charlotte Square, im Winter zogen sie auf ihren Landsitz in der Nähe von Kelso, da es dort milder als in Edinburgh war. Mrs Baines hatte Maureen bald zum Tee eingeladen, so hatten sich die Familien kennengelernt. Sie war eine freundliche Dame, mit der sich gut plaudern ließ. Maureen war dankbar, dass Frederica ihre neue Freundin jederzeit besuchen durfte, denn sie selbst verbrachte so viel Zeit wie möglich bei ihrer Mutter und konnte sich in dieser Zeit nicht ausreichend um ihre Tochter kümmern.

      Maureen gegenüber verhielt sich Laura nach wie vor reserviert, aber nicht mehr so unfreundlich wie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Friedhof. Frederica hatte ihre Großmutter noch ein paar Mal besucht, zog es jetzt jedoch vor, sich lieber mit der gleichaltrigen Linda Baines die Zeit zu vertreiben. Maureen verstand, dass ein junges Mädchen nicht tagaus, tagein am Bett einer alten, kranken Frau sitzen mochte.

      »Wenn sie wenigstens von früher erzählen würde«, sagte Frederica und seufzte verhalten. »Ich würde gern etwas über das Leben im Hochland erfahren, aber immer, wenn ich sie frage, dann sieht sie mich an, als würde sie mich gar nicht bemerken. Ich weiß dann gar nicht, ob sie mir überhaupt zugehört hat. Dabei war sie zuerst so freundlich zu mir.«

      »Deiner Großmutter geht es nicht gut, Frederica«, versuchte Maureen Lauras Verhalten zu erklären. »Sie muss sich schonen, denn das Sprechen strengt sie an. Es hat nichts mit dir zu tun.«

      Maureen und Laura sprachen ebenso wenig über die Vergangenheit, wie Laura sich über die Zukunft äußerte. Der Herbst war nicht mehr fern, und Maureen machte sich ernsthafte Sorgen. Der Husten ihrer Mutter hatte sich mit den fallenden Temperaturen verschlimmert, und sie hoffte, Laura würde endlich zustimmen, ihr restliches Leben im klimatisch angenehmeren Cornwall zu verbringen. Philipp gegenüber hatte sie davon noch nichts erwähnt, denn sie befürchtete seine Ablehnung. Sie konnte ihre kranke Mutter aber unmöglich während der kalten, stürmischen Monate in Schottland zurücklassen.

      An einem regnerischen Tag machte Maureen einen neuen Versuch, ihre Mutter zu überzeugen, mit ihnen zu gehen, zumal Philipp ihre baldige Abreise angedeutet hat. Zur Parlamentseröffnung im November musste er spätestens wieder in London sein.

      »Mutter, der Winter kommt bald. Du kannst in diesem Loch nicht bleiben. Bitte, komm mit uns nach Cornwall! Die Wintermonate sind dort mild, nur selten gibt es Frost oder Schnee. Du wirst sehen, in wenigen Wochen bist du wieder gesund.«

      Lauras Miene verschloss sich, zwei steile Falten zogen sich von den Mundwinkeln zu ihrem Kinn. Sie wandte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn stumm. Ebenso hartnäckig weigerte Laura sich, einen Arzt zu konsultieren. Schließlich wusste sich Maureen keinen anderen Rat, als Philipp zu bitten, einen guten Mediziner zu finden und diesen zu Laura zu bringen. Philipp hörte sich um, und Mr. Baines empfahl einen Arzt, der in der Nähe des Charlotte Square seine Praxis betrieb. Es handelte sich um einen Schotten, der sich aber auch bei den Engländern einen guten Ruf als kompetenter Arzt erworben hatte. Philipp vereinbarte, ihn am folgenden Mittag mit der Kutsche abzuholen. Gemeinsam mit Maureen fuhren sie in die Altstadt und betraten die heruntergekommene Schenke. Entsetzt zog der Arzt die Luft ein, und während er die schmale Stiege zu Lauras Zimmer hinaufstieg, schüttelte er irritiert den Kopf.

      »Ich weiß ja nicht, was feine Leute wie Sie mit armen Menschen zu schaffen haben.« Er rümpfte die Nase und zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. »Normalerweise begebe ich mich nicht in eine solche Umgebung.«

      Philipp lächelte freundlich und verzichtete auf eine Antwort. Er würde den Arzt großzügig entlohnen, also sollte er seine Pflicht tun und keine Fragen stellen.

      Nach anfänglichem Sträuben erklärte sich Laura bereit, sich untersuchen zu lassen. Sie bestand aber darauf, mit dem Arzt allein zu sein. Maureen und Philipp warteten in der schummrigen Schankstube, tranken dunkles Bier und ignorierten die verwunderten Blicke der anderen Gäste. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Arzt herunterkam und sich an ihren Tisch setzte. Mit gerunzelter Stirn sah er von Maureen zu Philipp.

      »Die Frau ist todkrank«, kam er ohne Umschweife zur Sache. »Ihre Lunge ist vollkommen zerstört. Mit jedem Hustenanfall zersetzt sie sich weiter. Mrs Mowat weiß über ihren Zustand Bescheid, sie ahnt schon länger, dass ihre Zeit abgelaufen ist.«

      Maureen schlug sich eine Hand vor den Mund.

      »Oh, nein! Ich dachte nicht, dass es so schlimm um sie steht. Kann man denn gar nichts dagegen tun?«

      Der


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