Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle

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Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle


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zu begleiten.

      »Gute Nacht.« Frederica küsste ihre Eltern auf die Wangen, dann folgte sie dem Hausmädchen in den zweiten Stock hinauf.

      Maureen trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Sie trug immer noch ihren Mantel, den Hut und die Handschuhe.

      »Ich fühle mich kein bisschen müde. Ich kann jetzt nicht zu Bett gehen und schlafen. Ich würde ohnehin kein Auge zu tun.«

      »Ich habe den Kutscher bereits fortgeschickt. Du wirst dich also bis morgen gedulden müssen.« Philipps Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

      »Ach was, ich brauche keine Kutsche. Die Stadt ist nicht sehr groß, wir können zu Fuß gehen.«

      Philipp seufzte ungehalten.

      »Maureen, jetzt sei doch vernünftig! Es ist niemandem damit gedient, die Dinge zu überstürzen. Ich werde mich nun auch ein wenig ausruhen und freue mich dann auf ein hoffentlich schmackhaftes Dinner.«

      Er ging ebenfalls die Treppe hinauf. Maureen blieb allein in der Halle zurück und sah sich unschlüssig um. Nein, sie konnte nicht warten! Sie wollte nicht warten! Über siebzehn Jahre hatte sie ihre Eltern nicht gesehen. Jetzt war sie ihnen so nahe, nur wenige Straßenzüge trennten sie von ihnen.

      Kurzentschlossen öffnete sie die Tür und trat auf die Straße. In dem in den letzten Jahren neu entstandenen Stadtviertel, das allgemein nur New Town genannt wurde, waren die Gehwege gepflastert und auffallend sauber. Maureen ging am Rande des Nor’Loch entlang und überquerte das früher stinkende Sumpfloch, von dem nur noch ein kleiner Tümpel übrig geblieben war, auf der neuen Brücke. Nach wenigen Schritten erreichte sie die Royal Mile, das mittelalterliche Herz der Altstadt, und tauchte ein in ein verwirrendes Labyrinth aus Straßen, kleinen Gassen, dunklen Winkeln, Höfen und versteckten Durchgängen. Maureen, die mit Philipp einige Tage in Edinburgh verbracht hatte, war erstaunt, wie eng, schäbig und schmutzig sich die alte Stadt darbot. Damals hatte sie das überhaupt nicht bemerkt, war nur glücklich gewesen, mit Philipp ein neues Leben zu beginnen.

      Sie fragte zwei Passanten, der Kleidung nach Handwerker, nach dem Weg zu der Adresse, die auf dem Brief ihrer Mutter angegeben war. Die Männer musterten sie erstaunt, denn Maureens Garderobe und ihr Auftreten wiesen sie als Dame aus, und es kam nicht oft vor, dass eine Lady am frühen Abend allein durch die Altstadt spazierte. Sie gaben ihr aber in einem breiten, schottischen Dialekt bereitwillig Auskunft, und Maureen fand problemlos zur West Bow. Die steile, enge und mit hohen Häusern gesäumte Straße zog sich vom Lawnmarket, einem Teil der Royal Mile, hinunter zum Grassmarket. Nummer Sieben war ein schmales, fünfstöckiges Gebäude aus grauem Backstein, der an vielen Stellen abbröckelte. In dem dunklen Treppenhaus roch es muffig und nach undefinierbaren Essensdünsten. Maureen zog fröstelnd den dünnen Mantel enger um sich. Sie klopfte an die erste Tür im Erdgeschoss und musste nicht lange warten. So schnell, als hätte die alte, dicke Frau direkt hinter der Tür gelauert, wurde diese geöffnet. Aus der Wohnung schlug Maureen ein grässlicher Gestank nach faulendem Kohl entgegen. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück und stieß hervor:

      »Ich suche Laura Mowat. Sie muss hier im Haus wohnen.«

      Die Alte verzog ihr faltiges Gesicht und stieß ein Geräusch aus, das Maureen an das Grunzen eines Schweines erinnerte.

      »Wohnt nich mehr hier. Die is fort.«

      Die Alte wollte ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, aber Maureen stellte schnell einen Fuß in den Spalt.

      »Fort? Was heißt das? Wohin ist sie gegangen?«

      Mit einer Gewandtheit, die man ihr nicht zugetraut hätte, machte die Frau einen Schritt auf Maureen zu. Diese traf ein Schwall von übel riechendem Atem. Schnell drehte sie den Kopf zur Seite.

      »Na, weg isse. Hat die Miete nich zahlen können. Bin hier schließlich kein Armenhaus. Hier muss jeder pünktlich zahlen oder verschwinden.«

      »Sie wissen doch sicher, wo sie jetzt wohnt, oder?«, fragte Maureen hoffnungsvoll.

      »Nee, kümmre mich nich um andre Leute, hab selbst genügend Probleme.«

      Eine Welle der Enttäuschung schwappte über Maureen. Sie war so nahe am Ziel gewesen! Wie sollte sie in der großen Stadt nun ihre Eltern finden?

      Die Alte musterte sie in dem schwachen Licht der Ölfunzel von oben bis unten, griff dann nach Maureens Mantelärmel. Ihre wurstigen, schmutzigen Finger betasteten den feinen Seidenstoff. Sie stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

      »Was will denn ’ne so feine Dame von der Mowat?«

      Maureen holte eine Münze aus ihrer Börse und hielt sie der Frau hin.

      »Das wird Ihnen die Auskunft, wo Laura Mowat zu finden ist, wert sein, nicht wahr?«

      Maureen konnte ihre Hand gar nicht so schnell fortziehen, wie die Alte nach der Münze grapschte und in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ.

      »Weiß wirklich nich, wo die Mowat hin is ...«

      Wie dumm von mir, dachte Maureen, jetzt hat sie das Geld, und ich bin genauso schlau wie zuvor. Vielleicht wäre sie doch besser mit Philipp hergekommen. Vor einem Mann hätte die Vettel bestimmt mehr Respekt gezeigt. Maureen seufzte und wandte sich ab. Es war sinnlos, sich weiter mit der Frau zu unterhalten, außerdem begann ihr Magen über den widerwärtigen Geruch zu rebellieren.

      »Aber sie geht jeden Tag zum Friedhof«, rief die Alte plötzlich.

      Maureen drehte sich wieder um. »Wie bitte?«

      »Ja, ja. Zumindest hat se das gemacht, als se noch hier wohnte. Jeden Tag! Arme Frau, hat doch ihren Mann dort begraben müssen.«

      Maureens Beine begannen so sehr zu zittern, dass sie sich an die Wand lehnen musste – ungeachtet der Tatsache, dass ihr Mantel beschmutzt wurde. Was sie die ganze Fahrt über befürchtet hatte, war zur schrecklichen Gewissheit geworden. Sie war zu spät gekommen! Ihr Vater war tot. Gestorben, ohne dass sie, Maureen, noch einmal mit ihm hatte sprechen können. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und sie kämpfte mit den Tränen.

      »Geht’s Ihnen nich gut?« Die Alte kam zögernd näher und griff nach Maureens Arm. »Wolln Se ’nen Becher Wasser?«

      Maureen schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zur Seite.

      »Nein, danke. Es geht schon wieder.« Das Letzte, was sie wollte, war, aus einem Gefäß zu trinken, das die Lippen dieser Frau berührt hatten. »Welcher Friedhof?«, brachte sie mühsam hervor.

      »Hä?«

      »Zu welchem Friedhof geht Mrs Mowat?«

      »Aye, Greyfrairs. Aber da könn Se jetzt nich mehr hin. Die Tore schließen bei Dunkelheit.«

      Maureen nickte geistesabwesend, ließ die Alte stehen und tastete sich durch den düsteren Flur. Wieder auf der Straße atmete sie tief ein und aus. Auch wenn die Gassen mit Abfall überhäuft waren – gegen die Luft in dem baufälligen Haus roch es hier geradezu paradiesisch.

      Dann ging alles sehr schnell. Über ihr schrie eine laute Frauenstimme etwas Unverständliches. Im selben Moment, als Maureen nach oben sah, wurde sie auch schon ruckartig am Arm gepackt und zur Seite gerissen. Sie strauchelte und fand sich im nächsten Moment an einer breiten Männerbrust wieder. Alles, was sie erkennen konnte, war ein weißes, gestärktes Hemd und darüber eine dunkelbraune Weste. Neben ihr platschte eine übel riechende Flüssigkeit auf das Pflaster, die auf ihren Rock und auf ihren Mantel spritzte.

      »Oh!« Obwohl Maureen hochgewachsen war, musste sie den Kopf weit in den Nacken legen, um das Gesicht des Fremden erkennen zu können, der sie immer noch mit beiden Armen umklammert hielt. »Würden Sie mich bitte sofort loslassen?«

      Er tat es unverzüglich, und Maureen trat schnell einen Schritt von ihm fort.

      »Das war knapp.«

      Seine tiefe, wohlklingende Stimme mit dem unverkennbaren schottischen Akzent passte zu seiner Erscheinung. Er war sehr groß, verfügte über ein markantes, leicht vorspringendes Kinn und sein schwarzes


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