Covent Garden Ladies: Ein Almanach für den Herrn von Welt. Хэлли Рубенхолд

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Covent Garden Ladies: Ein Almanach für den Herrn von Welt - Хэлли Рубенхолд


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eine unbesonnene Nacht am Spieltisch den Ruin bringen kann. Wenn »The Fleet«, Londons großes Schuldgefängnis, winkt, wandern das Porzellan, die Tischwäsche, die feinen Seidenwaren und allerlei Möbelstücke häufig ins Pfandleihhaus. Eine Familie, die zuvor den Luxus eines eigenen Hauses genossen hat, muss nun vielleicht in zwei Zimmern zur Miete unterkommen. In einer solchen Talsohle bedarf es oftmals nur eines kleinen Fehltritts zum Abgleiten in die Kriminalität. Möglich, dass diese unglücklichen Leute im Folgejahr ihr Vermögen wiedergewinnen, ihre Güter zurückholen und wieder in ihr Reihenhaus einziehen. Ebenso möglich aber auch, dass sie immer tiefer in das Heer der Armen hinein absinken.

      Es gibt im 18. Jahrhundert nichts Schlimmeres, als arm zu sein. Wir zartfühlenden modernen Menschen vermögen uns, wenn wir nicht gerade Gelegenheit hatten, bestimmte Teile Asiens, Afrikas oder Südamerikas zu bereisen, die harten Realitäten eines Lebens im Stande der Armut kaum auszumalen. Wirkliche Armut bedeutet, immerzu gegen die durch Unterernährung begünstigten Krankheiten anzukämpfen. Sie bedeutet ständigen Hunger, körperliches Unbehagen und entsetzliche Lebensbedingungen. Sie bedeutet, das Bett nicht nur mit anderen ungewaschenen Menschen zu teilen, sondern auch mit Ratten, Mäusen, Läusen, Flöhen und Wanzen; bedeutet, die schneidende Kälte durch zerlumpte Kleidung zu fühlen und nicht einmal Unterwäsche zum Wechseln zu haben. Im London des 18. Jahrhunderts arm zu sein, heißt, nichts zu sagen zu haben, nicht wählen zu können, praktisch keinerlei rechtlichen Schutz zu genießen und niemals wahre Gerechtigkeit zu finden. Und ganz besonders heißt es, von den Höhergestellten gefürchtet und geschmäht zu werden. Von den einen wird man geringschätzig behandelt, als sei man kein menschliches Wesen, von den anderen erst gar nicht beachtet. Wer arm ist, kann leicht Opfer der Gewalt werden, und vermutlich sucht er seine arme Seele mit großen Mengen von billigem, oft gepanschtem Gin zu betäuben. Es ist eine menschenunwürdige, jämmerliche Existenz, in die sich nicht jeder willig ergibt. Harte Arbeit könnte helfen, sich aus diesem Sumpf herauszuziehen, aber die meisten verfügbaren Stellen sind schlecht bezahlt. Ein Leben in Schande und Verbrechen bietet stets eine praktikable Alternative. Die Prostitution hilft vielen Frauen; dank ihrer können manche sogar bis in die höchsten Gesellschaftskreise aufsteigen. Taschendiebstahl, Raub, Einbruch, Hehlerei, Fälschung und das Verkuppeln wollüstiger Männer mit käuflichen Damen können ebenfalls recht profitabel sein, und ein Gleiches gilt fürs Falschspielen. Hat man das Pech, aus den untersten Schichten Londons zu stammen, bieten solche Betätigungen oft die einzige Hoffnung auf ein Überleben in dieser gnadenlosen Stadt.

      Die Geschichte der Harris’s List of Covent Garden Ladies ist auch die Geschichte dieser Menschen, die im 18. Jahrhundert an den Rändern der Gesellschaft herumgeistern. An der Leiter des sozialen Aufstiegs finden sie stets nur einen schwankenden Halt, und in den »normalen« Kreisen der ehrbaren Gesellschaft werden sie nie wirklich akzeptiert. Unsere Hauptfiguren John Harrison (alias Jack Harris), Samuel Derrick und Charlotte Hayes sind Repräsentanten dieses Milieus. Hier hat das Schicksal für uns eine interessante Auswahl aus den kleinen Chargenspielern (man könnte auch sagen: den Ausgestoßenen) der Geschichte zu einem Lehrstück versammelt – der abgebrühte Kriminelle, der unbeirrte, aber verarmte Poet und die Tochter einer Bordellwirtin. Wenn wir uns ihre Lebensgeschichte vor Augen führen, dürfen wir nicht vergessen, dass ihre Charaktere genauso das Produkt ihrer Zeit sind wie wir das der unseren. Ihre Werturteile und Voreingenommenheiten entstammen einer Epoche, die weit weniger nachsichtig war als die unsere. Man sollte nicht in den gleichen Fehler verfallen, zu dem die Moralisten jener Ära neigten, und glauben, dass es ihre Schlechtigkeit war, was sie zu ihrem Handeln trieb – das würde bedenklich an jene einfältige Beschränktheit erinnern, die damals selbst kleine Taschendiebe an den Galgen von Tyburn brachte. Wir haben nun einen ersten Einblick in die Welt unserer Protagonisten erhalten, mit ihren unsäglichen Schwierigkeiten, den Grausamkeiten, Missständen und krassen Ungleichheiten. Im Herzen all dieser Menschen pochte ein unbändiges Verlangen, keine solchen Qualen dulden zu müssen, auch wenn dies paradoxerweise das Leid anderer bedeutete.

      Vorneweg noch ein warnender Hinweis: Dies ist keine Geschichte, in der die Missetäter bestraft werden und die Ausgebeuteten Genugtuung erfahren. Wir haben es hier nicht mit dem sicheren, »vergoldeten« georgianischen Zeitalter der Privilegierten zu tun, wie es Jane Austen beschreibt. Sie und ihresgleichen blicken aus dem Inneren der Gesellschaft nach außen, und ihre Blicke reichen nicht bis in die dunklen Winkel einer ihnen fremden Welt hinein. Die aberwitzigen Biografien der Harris’s List können mit keiner erbaulichen Moral aufwarten, und auch zwischen den Deckeln dieses Buches wird sich nichts dergleichen finden lassen. Doch für ihre richtig guten Storys hält die Geschichte eben auch nur sehr selten solch eine bequeme Moral parat.

      Kapitel 2

      Die Legende von Jack Harris

      Geboren wurde Jack Harris just in der Wiege der Illusionen: zwischen zwei Theaterhäusern. Nichts war so, wie es schien in Covent Garden, wo Schauspieler die Identität imaginärer Charaktere annahmen und maskierte Männer und Frauen anonym durch die vergnügungssüchtigen Scharen flanierten. Vor einer solchen Kulisse war es leicht, zu verschwinden oder ein anderer zu werden. Bis er stolz und leichtsinnig wurde, hatte sich Jack Harris nie direkt in den Glanz des Rampenlichts gestellt; nie hatte er jemanden ihn und seine Geschichte wirklich kennenlernen lassen. Er hatte sich gut versteckt gehalten, und das wenige, was er der Welt über sich enthüllte, war erstunken und erlogen.

      Nach seiner aufsehenerregenden Verhaftung 1758 wollten plötzlich all jene, die ihn immer nur als einen vor den Kulissen von Covent Garden hin und her huschenden Schatten wahrgenommen hatten, seine Geschichte hören. In all den Jahren zuvor hatte zwar nie jemand ein sonderliches Interesse an ihm gezeigt, doch nun beschloss er, mit der Hilfe eines Schmierenjournalisten seine Geschichte nachzuerzählen und eine Erklärung für seine Verderbtheit zu liefern:

      Schon lange bevor seine Eltern ihn in die Welt setzten, habe das Schicksal seine Familie zum Leiden ausersehen. Sein Vater, so gibt er an, stamme aus »einer angesehenen Familie aus Somersetshire«, habe jedoch das Unglück gehabt, als jüngerer Sohn ohne Erbe und mit mageren Aussichten geboren zu werden. Mit Harris’ Mutter schließt er eine Liebesehe, die denn auch prompt die Missbilligung seiner wohlanständigen Verwandten findet. Ohne Geld oder Posten ganz auf sich allein angewiesen, macht sich das junge Paar auf den Weg nach London, wo Harris senior durch »vielerlei Versprechungen großer Männer Ämter, Pfründe und Pensionen« in Aussicht gestellt worden sind. Er glaubt, als ein Spross der Landeigentümerklasse genügend Verbündete in der Regierung zu haben, auf deren Unterstützung er zählen könne. In der Hauptstadt angekommen, muss er jedoch leider feststellen, dass ihm die Türen verschlossen bleiben und dass Männer, die ihn zuvor ihrer Gunst versicherten, jetzt nur mit den Schultern zucken und ihm viel Glück bei den anderen wünschen. Als dann um 1725 Jack auf die Welt kommt, sind die Rücklagen der jungen Familie bald aufgebraucht. Um sich über Wasser zu halten, hat sein Vater keine andere Wahl, als zur Feder zu greifen. Befeuert durch seinen Zorn und das Gefühl, von jenen, die ihn mit falschen Hoffnungen nach London lockten, verraten worden zu sein, macht sich Harris senior in einer Serie wüster Beschimpfungen Luft und verabsäumt nicht, »ebenjene zu schmähen, die seine eigene Schmach so sehr befördert« haben. Von Geburt her ein Whig, beginnt Harris’ Vater nun auch, seine politische Positionierung zu überdenken. Wenn seine bisherigen Verbündeten unter der Aristokratie ihn nicht wollten, würde er eben die Seiten wechseln und sie aus den Reihen der Opposition attackieren. Von seinen angestammten Gesellschaftskreisen gemieden, macht sich Harris senior »unter den antiministeriellen Schreibern jener Zeit bald einen vielbeachteten Namen, und die Landpartei reihte ihn unter ihr Banner«.

      Wiewohl Verleumdung durch strenge Gesetze geahndet wird, spottet Harris’ Vater der Gefahren einer erbitterten Gegnerschaft zum Kabinettsvorsitzenden Sir Robert Walpole. Sobald er einmal seine Feder gespitzt und Blut geleckt hat, fällt es ihm schwer, sie wieder niederzulegen, besonders da seine feindseligen Ergüsse ihm nun endlich Geld und die Unterstützung einiger vermögender Hintermänner einbringen. Der Horizont scheint sich für die Familie Harris wieder aufzuhellen, die nun in Erwägung zieht, ihrem ältesten Sohn eine standesgemäße Erziehung zukommen zu lassen. Dann aber – Vater Harris steht »bereits im Begriff, mich an die Westminster-Schule zu schicken« – nehmen die Ereignisse eine eher unvorhergesehene schlimme Wendung: Harris senior wird verhaftet.

      Harris’


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