360 Grad - heisse Erzählungen. Marianne Sophia Wise
Читать онлайн книгу.Mit breitem Grinsen nehme ich es entgegen. Ich sage:
„Ja, es schafft auf den ersten Blick keine Struktur, die man ohne den Kontext verstehen kann. Aber es ist irgendwie ziemlich gut, die Form ist wirklich geschmeidig – eine Art koreanische Dystopie.“
„Nord oder Süd? Was glaubst du?“
Süß! Er hat einen Witz gemacht. Ich lache, aber nicht zu laut, nehme das Gespräch auf – es läuft wie am Schnürchen. Ich denke, dass es die anderen sehen müssen, wie mega heiß ich auf ihn und dieses Projekt bin. Ich stehe mir selbst im Weg und bis auf weiteres läuft es, wie es soll. Er ist zu mir gekommen, alleine. Das bedeutet etwas. Der Dialog ist ein Tanz. Ich erhebe die Stimme, sage:
„Bedeutung ist eine Konstruktion, die über den Trieb hinausgeht.“
Er antwortet:
„Der Trieb ist eine Konstruktion, die sich der Bedeutung entzieht.“
Ich habe Lust vor ihm auf die Knie zu fallen – mitten in diesem Menschenmeer, das plaudert und trinkt. Eine Performance für zwei, mit Mund und Schwanz. Mein Mund, sein Schwanz. Und ich könnte sein Hemd aufreißen, ihn auspacken und meine Finger über seinen Brustkorb gleiten lassen. Ich bin sicher, dass er behaart ist. Sein Bauch ist rundlich. Ich glaube nicht, dass er trainiert. Höchstens noch Yoga. Mit bloßen Füßen auf einer Matte. Ich versuche ihn nicht mit einem dunkelhaarigen Pfeil vor mir zu sehen, der vom Nabel ausgehend über die Rundung des Bauches zeigt – der Hüftknochen, der aus dem Hosenbund blitzt, die Andeutung seines steifen Penis hinter losen Hosen, die spielend leicht heruntergezogen werden können.
Sein Schwanz, gemütlich wippend, dick, warm. Seine breite Hand mit behaarten Knöcheln, die ihn nonchalant, fast gleichgültig umfasst. Wir bewegen uns durch den Raum, diskutieren. Die Menschen schauen ab und zu. Meistens auf ihn. Auch ein bisschen auf mich, weil sie nicht verstehen können, was er mit jemandem wie mir zu tun hat. Würden sie mich kennen, würden sie noch mehr glotzen. Wenn sie wüssten, was ich heute Abend mit ihm vorhabe.
„Wie heißt du eigentlich? Ich heiße …“
Nein, du bekommst meinen Namen nicht. Ich tue so, als wäre mir nicht bewusst, dass er mit der Kunstakademie zehn Jahre, bevor ich selbst hineingekommen bin, fertig geworden ist. Wir haben viele gemeinsame Bekannte. Er weiß nicht, wer ich bin, obwohl er sagt, dass er mich von Abenden wie diesen kennt. Ich verrate ihm meinen Vornamen, das muss genug sein. Er fragt:
„Du bist selbst künstlerisch tätig, nicht wahr?“
Er wirkt aufrichtig neugierig. Nicht so, als würde er denken, dass ich mit Händen und Fingern über seine Muskeln und seine Haut streichen möchte, in die Richtung seines Schwanzes. Aber das will ich. So bin ich.
„Ich? Nein. Nicht wirklich. Ich bin mehr eine Art Musiker – kreativ.“
„Gott sei Dank! Ich kann Künstler nicht ertragen, ha ha. Die sind allesamt so abscheulich emotional. Und habgierig.“
Jetzt denke ich an seine Oberschenkel. Sie sehen stark aus. Ich betrachte sein Schlüsselbein, das gerade noch in der Öffnung seines Shirts zu sehen ist. Ich beobachte seinen Kiefer, die Art, wie er seinen Nacken beugt, um meine Worte in all dem Lärm zu hören. Ich stecke die eine Hand tiefer in die Hosentasche, pule an etwas eingetrocknetem Kleber an meinem Daumen. Die andere Hand ist damit beschäftigt, das Glas zu leeren.
„He he. Wie das?“
„Es ist doch diese Selbstauslieferung, die manche in ihrer Kunst anwenden, nicht wahr? Die Art und Weise, wie sie andere vollkommen schonungslos dazu benutzen, sich auszudrücken. Das ist doch verstörend und … vulgär.“
Er spuckt das Gesagte aus. Dass ich mich für einen Paranoiden begeistern könnte, hätte ich mir nie gedacht, aber offenbar passiert mir das gerade. Er hat eine Scheißangst davor, in einem Kunstwerk verarbeitet zu werden. Und gleichzeitig ist es das, wozu er Lust hat. Weder ich noch er betrachten das, was rund um uns an den Wänden hängt.
„Stimmt. Aber … bei der künstlerischen Freiheit kann man auch nicht einfach Kompromisse eingehen. Im Prinzip. Weil dann wären wir ja wieder zurück im Dritten Reich oder in der McCarthy-Ära oder einfach in der vergangenen Regierung.“
„Ja klar. Versteh mich nicht falsch. Kennst du die Künstlerin, die sich ISM nennt?“
Ich lasse es mir nicht anmerken, aber es ist lustig ihn gerade diesen Namen nennen zu hören.
„Was ist mit ISM? Und wie kannst du dir sicher sein, dass es eine Künstlerin ist?“
„Nun ja, natürlich hat sie niemand gesehen und es ist ja auch nur ein Pseudonym, um interessanter zu wirken, aber ich bin mir da doch ziemlich sicher. Ziemlich prätentiös, oder? Ein geheimnisvoller Künstler. Sich hinter diesem Namen zu verstecken? Ismus? Ich glaube übrigens, dass sie mich gemalt hat. Das kann man doch verdammt nochmal nicht einfach machen.“
Nun ist er in Rage – ich nicht so sehr. Nur ein bisschen, aber nicht genug, um ihn aufzustacheln.
„Warum?“
„Come on. Hast du die Werke gesehen?“
„Ja. Diese ausgestreckten Männer, oder? Konzeptartig mit irgendetwas anderem aufgezogen, nicht wahr?“
„Ja genau! Grauenhafte, grauenhafte Bilder.“
„Und warum glaubst du, du wärst einer dieser Männer?“
Er beugt sich zu mir. Ich kann ihn riechen. Supersexy, schweineteurer Duft.
„Es war eines der Werke, die vergangenes Jahr ausgestellt wurden und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auf einem davon abgebildet bin. Es ist derart schweinisch und liederlich. Ich habe nie etwas mit ihr zu tun gehabt, aber sie macht so etwas einfach. Sie missbraucht die Leute für ihre eigenen Ambitionen.“
Nun riecht er intensiv. Hitze und Wut steigen auf. An seinen Schläfen kann ich Feuchtigkeit glitzern sehen. Ich inhaliere ihn. Ich kämpfe damit nicht auszusprechen, dass ich ihn hier und jetzt haben will, darum sage ich:
„Pfui Teufel. Und so gut malt ISM nicht mal. Aus rein künstlerischer Sicht ist das doch ziemlich ordinär. Sehr durchdacht.“
„Absolut! Aber kennst du sie nun eigentlich? Das dürfte doch deine Generation sein, oder?“
Jetzt wird er ein bisschen nervig und wirkt mittelalterlich. Ich fühle einen Ansatz von Zweifel in mir hochsteigen, ob das hier ein Fehler sein könnte, bin aber immer noch heiß auf ihn. Er berührt mich an den Schultern, sieht mich mit seinen blauen Augen an und beugt sich so weit zu mir hinüber, dass ich seinen Schweiß wahrnehme. Ich frage mich, wie die Haut auf seinem Brustkorb schmeckt, denke daran, meinen Mund und meine Zunge um seine Brustwarze zu schlingen, um das Salz zu lecken und meine Finger in den Haaren zu vergraben, von denen ich denke, dass sie da sind. Seinem Fleisch entlang nach unten. Ich kaue an meiner Unterlippe, um ihn nicht zu küssen – nippe am Wein.
„Ich war nicht ehrlich zu dir. Ich kenne ISM. Ich kann dir die Geschichten zu den Bildern erzählen, aber nicht hier. Hier sind zu viele Menschen. Wollen wir abhauen – uns ein netteres Plätzchen suchen?“
Selbstverständlich.
Wir betreten einen Hinterhof nicht weit von der Party, auf welcher der heutige Abend begann. Einer der Sorte, in der man sich verirren konnte, aber das tun wir nicht. Auf dem Weg hierher haben wir einige Male Halt gemacht und eine Flasche geklaut. Ich lade ihn ein an meinem Joint zu ziehen, was er macht, obwohl er äußerlich wie eine kleinkarierte Person aussieht. Er atmet den Rauch tief ein – um seinen Mund glüht es orangefarben im Blau der Dunkelheit. Wir reden darüber sich zur Verfügung zu stellen. Für Erlebnisse und für die Kunst. Ich sage:
„Etwas von sich selbst zu verschenken, wie ein Objekt, das von jemand anderem wahrgenommen werden kann, ist eine radikale und extreme Erfahrung. Die größte Erfahrung. Es ist ein Zusammentreffen von Philosophie und Sexualität. Verstehst du? Das Objekt und die Sinne bilden eine Allianz, wo Abstraktion und Begeisterung ununterscheidbar und gleichzeitig nicht in Korrelation zueinander zu bringen sind. Nicht einfach nur eine