Der alte Trostdoktor. Lise Gast

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Der alte Trostdoktor - Lise Gast


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von sechzigjahrelanger Arbeit.»

      «Sie arbeiten wohl nicht?» fragte Jörg hitzig. Er verstand wohl, was der Alte meinte, fand diese Einstellung aber übertrieben. «Außerdem leben die Leute hier ja gar nicht mehr von der Landwirtschaft oder vom Holz oder so. Wer schlau ist, richtet sein Haus schön ein und nimmt Sommergäste.»

      «Nu freilich, freilich. Aber es gibt auch andere.»

      «Ach, niemand erkennt das an», murrte Jörg. «Ich meine, so eine Ansicht, wie Sie sie haben – oder Heidel. Daß man sich immer in die andern versetzt – und Rücksicht auf sie nimmt.»

      «So? Findest du?» fragte der Doktor, schaltete und fuhr los. Er sah Jörg nicht an. Der blickte auch geradeaus.

      «Genau. Ich finde das», sagte er. Es klang angriffslustig. «Kein Mensch auf der Welt gibt Ihnen was, wovon er sich nicht selbst einen Vorteil verspricht. Alle fragen und denken nur: Was hab’ ich davon? Was krieg’ ich dafür? – Oder nicht?»

      «Meinst du?»

      »Ja. Sie vielleicht nicht – und Ihre Frau auch nicht – und Heidel meinetwegen», gab Jörg widerwillig zu. Er merkte, wie ernst der Doktor dieses Gespräch, das von ungefähr angefangen hatte, jetzt nahm. «Aber Sie sind Ausnahmen. Ich bin viel herumgekommen, hab’ Lehrer kennen gelernt und Jungen und die Eltern von diesen Jungen – nun, so allerhand Menschen eben –» er brach ab. Der Doktor zog den Wagen geschickt durch eine enge Rechtskurve. Birken und Lärchen leuchteten golden zwischen dem Nadelholz. Es roch nach bitterm Tannenduft und Harz. Jörg sog den Geruch ein, immer vermeinte er ihn später zu spüren, wenn er an dieses Gespräch zurückdachte.

      «Es gibt aber einen, der alles gegeben hat für die andern, sogar sein Leben», sagte der Doktor leise und ernst. «Weißt du das nicht?» Und als Jörg verbissen schwieg, fuhr er ebenso leise fort: «Keiner hat mehr Liebe denn der, so sein Leben gibt für seine Brüder. – Weißt du nicht, wer das gesagt hat? Und danach gehandelt?»

      «Doch. Natürlich weiß ich das.» Jörg sagte es laut und hart. «Mit solchen Sprüchen wird man ja gefüttert. Schön, gut. Er wollte die Menschheit erlösen. Das war sein Ziel. Dafür tat er es.»

      «Er tat es für uns. Für die anderen. Für seinen Nächsten», erwiderte der Doktor.

      «Na ja», gab Jörg zu, «aber wir, wir! Ich will die Menschheit nicht erlösen, ich könnte es doch nicht. Warum soll ich da –», er schwieg. Der Doktor schwieg auch. Schließlich sagte er, und es klang ein wenig anders als vorhin, als er ernst gesprochen hatte, – mehr wie sonst, verschmitzt und hinterhältig: «Du hast vorhin gesagt: Was hab’ ich davon. Ich –» er betonte dieses Wörtchen ein wenig stärker als sonst – «ich habe immer gefunden, daß man sehr wenig davon hat, wenn man immer was davon haben will.»

      Jörg mußte gegen seinen Willen ein bißchen lachen.

      «Ach, das klingt witzig –»

      «Meinst du? Ich weiß nicht. Man sollte es ausprobieren. Auch seinen Nächsten zu lieben, muß man erst praktisch versucht haben, ehe man darüber zu urteilen vermag.»

      Jörg schwieg. Nach einer langen Zeit sagte er leise, aber fest:

      «Solche Liebe, wie Sie meinen, gibt es gar nicht.»

      «Hm. Und die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern?» fragte der Doktor behutsam. «Glaubst du, daß dich deine Mutter liebt, auch wenn sie dich nicht bei sich hat?»

      Er war sich bewußt, daß dies eine gefährliche Frage war. Einmal aber hatte er sie stellen wollen, schon lange. Jörg sah durch die Windschutzscheibe geradeaus.

      «Nein», sagte er. Es klang kurz, knapp, trocken, wie ein Peitschenhieb. Von da an schwiegen sie beide, die ganze folgende Fahrt lang.

      Der alte Trostdoktor wurde nicht nur für die Leiber seiner Patienten bemüht. Nachdenklich las er zum wiederholten Mal den Brief aus Hirschberg.

      «... Und weil Sie das Mädel von klein auf kennen, wend’ ich mich nun heute an Sie. Vielleicht reden Sie mal mit ihr?

      Seit ich nach Hirschberg gezogen bin, hat sie gebettelt, nach Krummhübel zurückzudürfen, und als sie dann dort die Stellung als Sekretärin fand, hab ich’s halt erlaubt. Die Kinder werden groß und müssen auf eigenen Füßen stehen. Und über den Sonntag kam sie ja auch zu mir, wenigstens manchmal. Aber glücklich ist sie nicht, das merkt eine Mutter doch. Und da tauchte nun neulich ein alter Bekannter wieder auf, das heißt, alt – er ist genau zehn Jahre älter als Hermi. Früher mochte sie ihn immer recht gern, und inzwischen ist er auch was geworden. Er möchte sie vom Fleck weg heiraten, aber sie sagt nicht ja und nicht nein, und wenn ich sie frage, rennt sie aus der Stube, und ich höre sie heulen. Lieber Herr Doktor, Sie können doch so gut mit Leuten reden, würden Sie sich Hermi mal vornehmen? Ich wäre Ihnen so dankbar! Wenn man keinen Mann mehr hat, ist es oft schwer, die Kinder richtig zu behandeln, und Sie waren immer wie ein Vater zu ihr. Ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar.

      Ihre ...»

      «Hermine Roland», sagte der Doktor und schob die Brille, die er beim Lesen vorn auf der Nasenspitze getragen hatte, wieder zurück und ließ dann die Hand ein wenig über den Augen, während er den Ellbogen aufstützte. Hermi Roland, wie die Mutter, so hieß auch die Tochter, er hatte ihr selbst zur Welt geholfen. Was für ein nettes Mädel war sie geworden! Oft war sie hier im Haus gewesen, damals, als Jorg noch hier war ...

      Jorg. Der Doktor atmete ein wenig tiefer als sonst, vorsichtig, als fürchtete er, sich Schmerzen zu bereiten. Wie lange war es her, daß er nun dort lag, in Breslau in der Universitätsklinik, betreut von den besten Ärzten, sicherlich, trotzdem wie in einem Jenseits, weit, weit fort. Seit Mai, vier Monate also. Dr. Bruckmann wußte das genau, auf den Tag, sein Herz zählte jeden, jeden Tag ...

      Noch war Hoffnung, behaupteten die Kollegen. Wirklich? Bestand noch welche? Glaubte er selbst noch daran? Mit einem Ruck stand er auf. Das Wartezimmer war leer, er konnte fort, Besuche machen. So viele warteten auf ihn. Plötzlich erschien ihm kein Besuch bei Kranken so dringlich wie der bei diesem jungen Mädel, das gesund war. Gegen seine Gewohnheit nahm er nicht den Wagen, sondern ging die paar Ecken zu Fuß. Die Luft tat ihm wohl, er sog sie durstig ein. Dieser Sprechstubengeruch, man merkte ihn schon gar nicht mehr, aber er war scheußlich. Mehr hinaus müßte man, hinaus, hinauf.

      Das hatte Jorg auch immer gesagt. Immer hatte es ihn zu den jungen Menschen gezogen, den Gleichgesinnten, die hinaufstrebten in die Höhe zum Segelfliegen. Und dann war das Unglück geschehen. Er lebte noch, freilich. Ob er aber jemals wieder leben würde, wie man es richtig versteht?

      Das war das Haus. Der Doktor läutete. Vielleicht war Hermi gar nicht da, ein junges Mädel geht abends gern mal aus, vielleicht –. Doch. Sie öffnete selbst, und einen Augenblick lang leuchtete ihr Gesicht. Dann riß jähes Erschrecken ihre Brauen hoch. «Herr Doktor, was ist? Kommen Sie –?»

      «Ich komm’ bloß zufällig mal vorbei, erschrick doch nicht –» sagte er beruhigend und hielt ihre Hand ein wenig länger fest als gewöhnlich, «darf der alte Trostdoktor nicht auch mal zu einem gesunden jungen Mädel zu Besuch kommen? Na siehste. Und hübsch hast du es hier, so hübsch und gemütlich!» Er setzte sich schwer und ein wenig ächzend auf das alte, mit einem modernen Stoff reizend bezogene Sofa und zog sie neben sich. Dann sah er sie an, freundlich, liebevoll – und plötzlich wußte er alles. «’s is der Jorg, gell ja?» fragte er leise. «Deine Mutter hat mir nämlich geschrieben, daß du den – nun, den andern eben, den von vorher, nicht magst. Und ich sollte mal mit dir reden. Ich sag dir das lieber alles, wie es ist. – Also der Jorg.»

      Sie nickte, die Tränen verschluckend. Er klopfte leise und beruhigend auf ihre Hand: «Ja, was soll man da groß sagen. Wenn ich nicht selbst mal jung gewesen wäre, würde ich dir jetzt Zureden: Vergiß ihn, nimm den andern. Aber –»

      «Und das raten Sie mir nicht?» fragte sie in jäh aufbrechender Hoffnung. «Ist etwas – geht es demjorg besser?»

      Er lachte trübe. «Du darfst mich nicht mißverstehen. Es geht ihm unverändert. Leider. Gehimquetschung – da ist alles drin, alles Böse – freilich


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