Gib mir die Hand. Rudolf Stratz

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Gib mir die Hand - Rudolf Stratz


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die glückliche Unwissenheit, in der Sie leben. Wir anderen Sterblichen können seit Wochen und Monaten schon nicht mehr schlafen vor Sorge wegen des drohenden Weizenausfuhrverbotes, das uns infolge der Missernte, im inneren Russland beschert werden soll, und Sie . . .“

      „Ja, gehört hab’ ich auch davon! Aber es ist ja noch nicht so weit . . .“

      „Das Wetter steht am Himmel. Ob es sich entladet, wissen wir noch nicht. Aber jedenfalls . . . Sie haben doch oft von Ihrem Landhaus an der Kleinen Fontäne aus gesehen, wie die Möwen, lange ehe ein Sturm ausbrach, an die Küste zurückgeflogen kamen. Sehen Sie, ebenso fährt jetzt jeder, der in Odessa Geschäfte hat, eiligst herein. Denn drei Viertel unseres Handels besteht eben im Getreideexport, der uns durch das Verbot unterbunden werden soll. Unsere ganze Hochfinanz ist im Zug vertreten. Sie können in jedem Coupé eine andere Sprache hören . . . Russisch . . . Deutsch . . . Griechisch . . . Italienisch . . . alles durcheinander . . .“

      Man hielt in der letzten Station vor Odessa. Es war das alte Bild: Haufen von zerlumpten, in abenteuerliche Fetzen gekleideten Juden, die feilschend und mit den Händen fuchtelnd scharenweise vor den Wagentüren standen, in anderen Gruppen mehr abseits beisammen hockten oder müssig lauernd auf und ab strichen. Ein paar aussteigende Gutsbesitzer schritten, Kopfkissen, Esskörbe, Leintücher und all das sonstige Zubehör eines reisenden Russen mit sich schleppend, den Gang entlang. Lisa Sandbauer trat, um ihnen Platz zu machen, in ihr Abteil zurück, und Karl Görwihl benutzte die Gelegenheit zur Verabschiedung. Er, der die Verhältnisse im Hause Sandbauer junior ebenso wie jedes andere Mitglied der deutschen Kolonie Odessas kannte, musste ja merken, wie wenig ihr an einem Gespräch über die Getreidesperre gelegen war und wie wenig es ihr gelang, das seelische Fieber zu verbergen, das sie immer stärker erfasste, je mehr sie sich dem Bahnhof näherten, wo jetzt Nicolai Sandbauer, ihr Gatte, wohl schon ihrer harrend stand. So lüftete er denn mit einem respektvollen „Auf Wiedersehen, gnädige Frau!“ seine Mütze und kehrte in sein nahegelegenes Coupé zurück.

      Zwei deutsch-russische Kaufleute sassen da, rauchten Papyros und tranken aus Gläsern den heissen Tee, den der Wagendiener von der Station gebracht. Der dritte blickte neugierig zum Fenster hinaus. Ihn interessierte alles. Er war ein Reichsdeutscher, ein Grosskaufmann aus Hamburg, Karl Görwihls Heimat, den Rohzuckerund Petroleumangelegenheiten nach Odessa trieben.

      Eine Weile liess sein Landsmann ihn gewähren. Dann aber, da jener seine Augen nicht von dem abenteuerlichen Gewimmel der Hebräer auf dem Bahnhof wenden konnte, sagte er, während die Lokomotive sich wieder in Bewegung setzte: „Wenn Sie etwas Schönes sehen wollen, dann schauen Sie lieber in den Wagenkorridor hinein.“

      Der andere folgte der Richtung seines Blickes und murmelte unwillkürlich: „Oh . . .“ Lisa Sandbauer war wieder auf den Gang hinausgetreten und stand unbeweglich wie vorher da. Das Sonnenlicht überflutete ihre hohe Gestalt, die sich deutlich in mädchenhafter Schlankheit unter dem weiten grauen Staubmantel abzeichnete. Sie hielt den Kopf in einer unbewusst verächtlichen Haltung zurückgelegt und die Augen halb geschlossen. Ihre schwarz behandschuhte Rechte spielte nervös mit dem Sonnenschirm. Zuweilen gab sie, ohne ihre Stellung zu ändern, der im Innern des Coupés packenden Kammerjungfer halblaut, mit müder Stimme ein paar Anweisungen. Aber sie tat das ganz mechanisch. Ihre Augen und ihr Geist waren draussen in der Ferne.

      „Sehen Sie, was wir für Frauen in Odessa haben!“ sagte Karl Görwihl mit einem gewissen Stolz. „Sie ist doch schön . . . was?“

      „Ja. Sehr schön! Und heisst?“

      „Sie kennen doch die Firma Sandbauer und Sohn in Odessa?“

      „Die grossen Getreideexporteure — gewiss!“

      „Nun — sie ist die Frau von Nicolai Sandbauer junior.“

      „Und der spielt bei Ihnen wohl eine bedeutende Rolle?“

      „Es ist eines unserer ersten Häuser. Die Sandbauer zählen zu den wenigen noch übrigen deutschen Familien, die vor hundert Jahren Odessa mitbegründet haben. Sie wissen: das ganze Land hier war vorher türkisch. Was die Stadt seitdem in Gutem und Bösem erlebt hat, haben die Sandbauer miterlebt. So etwas gibt — auch abgesehen von ihrem vielen Geld — einem Hause einen gewissen Schimmer. Und Nicolai Sandbauer versteht zu repräsentieren — das muss man ihm lassen. Ein schöner Mann! Sie werden ihn auf dem Bahnhof sehen, wenn er seine Frau abholt . . .“

      „Wie lange sind sie denn schon verheiratet?“

      „Sechs, sieben Jahre.“

      „Haben sie Kinder?“

      „Sie hatten eines. Das ist gestorben . . .“

      „Und nun war Frau Sandbauer verreist?“

      „Über ein halbes Jahr!“

      „Und das scheint ihrem Mann nicht zu lange . .?“

      „In den letzten Jahren, seit dem Tod des Kindes, ist sie, glaub’ ich, beinahe ebensooft im Ausland gewesen wie hier in Odessa . . .“

      Der Geschäftsfreund schaute wieder hinaus auf den Gang. Lisa lehnte da, den Blick auf das Korridorfenster gerichtet, durch das sie eine weitere Aussicht hatte als durch die schmale kleine Scheibe im Abteil. Ihr Gesicht, dessen schönes Profil sich scharf vom Licht abhob, war teilnahmslos. Sie erschien ganz anders als sonst eine Frau, die nach langer Trennung zu ihrem Mann und den Ihrigen, in ihr Haus und ihre Heimat zurückkehrt.

      „Sehr stürmisch wird sich das Wiedersehen zwischen den Gatten wohl nicht gestalten . . .“ sagte der Hamburger endlich in halb fragendem Ton.

      Die anderen erwiderten nichts und blickten sich an. Es lag ein gemeinsames Lächeln des Einverständnisses auf ihren Lippen. Sie und jeder Mensch ihrer Kreise in Odessa wussten natürlich, wie es um das Sandbauersche Familienleben stand.

      Und auch der Hanseate begriff das jetzt und meinte: „Da ist wohl nicht alles ganz so, wie es sein sollte?“

      „Nein. Wahrhaftig nicht.“

      „Und warum ist denn die Ehe nicht glücklich? Eine, so schöne Frau . . .“

      Karl Görwihl zuckte die Achseln. „Sie ist unglücklich verliebt.“

      „Was Sie sagen . . .“

      „Und wissen Sie, in wen?“

      „Wie kann ich das erraten?“

      „In ihren eigenen Mann.“

      Der andere riss die Augen auf. „Wie? In ihren eigenen Mann?“

      „Ja.“

      „Aber erlauben Sie . . . das verstehe ich nicht recht . . . da könnte der doch nur froh sein!“

      „Wenn Sie jetzt nach Odessa kommen,“ sagte Karl Görwihl und trocknete sich den Schweiss von der Stirne, „so werden Sie sich Abends natürlich auf die grosse Terrasse über dem Hafen, den Boulevard, setzen. Es ist der einzige Ort, wo man nach Sonnenuntergang wenigstens eine Ahnung von Abkühlung hat. Alle Welt ist dort. Man trinkt Tee . . . die Musik spielt . . . man erzählt sich das Neueste . . . nun . . . und da werden Sie unfehlbar auch Nicolai Sandbauer finden . . . Abend für Abend in Gesellschaft der schönen Madame Yannopoulo und ihres Mannes. Der sitzt natürlich anstandshalber auch dabei.“

      „Wer ist denn das?“

      „Ein Grieche. Ein Schiffsmakler dritten Ranges. Eine etwas dunkle Persönlichkeit. Seine Frau ist eine Polin. Ich, als ehrenfester deutscher Gatte und Familienvater, finde gar nichts so besonders Bestechendes an ihr. Aber Nicolai Sandbauer ist anderer Ansicht.“

      „Ach so . . . und wegen dieser Madame Yannopoulo . . .“

      „Die ist es jetzt! Der Name tut nichts zur Sache! Vor einem Jahre war es noch Madame Gervasi — vorher wieder eine Griechin — Madame Skaramanga — dazwischen die Bartolecci . . . die Dialegmeno . . . wer kann all die Freundinnen Nicolai Sandbauers im Kopf behalten? Da hätte man viel zu tun. Sicher ist nur, dass er sich um jede andere Frau mehr kümmert als um seine eigene. Die liess er schon, nachdem sie kaum ein, zwei Jahre verheiratet waren, ruhig


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