Gib mir die Hand. Rudolf Stratz

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Gib mir die Hand - Rudolf Stratz


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Sandbauer aber, ihrem einzigen Sohn, war das ritterliche Erbteil seiner Vorfahren mütterlicherseits noch einmal aufgelebt. Wie er da, um seine Frau zu erwarten, auf dem Bahnhof stand, ein auffallend schöner, schlanker, mittelgrosser Mann mit spitzgeschnittenem blondem Vollbart und leichtgewellten Schnurrbartenden, einen weissen Tropenhelm mit Nackenschleier über dem von einem weissen Sonnenschirm beschatteten, etwas weichlichen Gesicht, von Kopf bis zu Fuss weiss gekleidet und in weissen Strandschuhen — wie er da, Lisa erblickend, in einem plötzlich wie ein Sonnenstrahl aufleuchtenden Lächeln seine weissen Zähne zeigte und, ehe er noch elastischen Schritts ihren Wagen erreichte, ihr einen lässig-vornehmen Gruss mit der Hand entgegensandte, da glich er viel weniger einem im Kontor mit Weizen und Mais handelnden Kaufmann als irgend einem hochgeborenen Künstler des Lebensgenusses, dem die von Kind auf gewohnte Freiheit von Sorge und Zwang eine natürliche Liebenswürdigkeit bewahrt hat.

      Sie sah sein Lächeln, aber sie erwiderte es nicht. Dies Lächeln hatte er für alle. Stumm reichte sie ihm die Hand, um sich von ihm aus dem Wagen helfen zu lassen. Dann neigte er den Kopf und näherte seinen parfümierten Schnurrbart rasch nach russischer Sitte rechts und links ihrer Wange. Sie liess es geschehen, blass, mit niedergeschlagenen Augen, ohne ihn selbst zu küssen. Sie bot alle Kraft auf, um ganz ruhig zu bleiben, vor ihm und all den aussteigenden Bekannten.

      Und ihre Stimme klang dann auch ernst, aber unbefangen, als sie sofort halblaut frug: „Wie geht es mit Papa?“

      „Unverändert, seit ich zuletzt nach Wien telegraphierte. Die Ärzte können auch nichts weiter sagen.“

      „Kümmert er sich denn noch um die Geschäfte?“

      „Und wie! Jeden Tag macht er mir eine Szene! Aber dazwischen kommen bei ihm so . . . sozusagen Dämmerstunden. Dann verliert er sich ganz in die Vergangenheit . . . redet von Menschen und Sachen, die längst nicht mehr sind . . .“

      Nicolai Sandbauer liess das Haupt sinken und seufzte schwer, während sie dem Ausgang zuschritten. Sein schönes spitzbärtiges Gesicht zeigte tiefe Betrübnis. Wer ihn sah und grüsste, die deutschen Kaufleute, die ihm zunickten, der anatolische Getreidespekulant Tedesco, der im Vorbeihinken zwei Finger an den Rand seines roten Fess legte, die jüdischen Makler, die ehrerbietig die Kappen vom Kopf rissen, ein jeder musste sehen, wie nahe ihm die Krankheit des Vaters ging. Und dabei standen Vater und Sohn seit Jahren miteinander so schlecht wie möglich. Das wusste ganz Odessa. Diese Haltung voll edler männlicher Trauer konnte niemanden täuschen. Also warum diese Komödie? Lisa frug sich das mit einem leisen Grauen. Aber dies Schauspielerische in seinem Wesen — das war eben er! Er war unaufrichtig gegen alle Welt — und am meisten vielleicht gegen sich selbst. Er bildete sich am Ende in diesem Augenblick wirklich ein, er sei ein guter Sohn . . .

      „Hast du nicht zu sehr unter der Hitze gelitten, Lisinka?“ frug er mitleidig. Es lag eine beinahe weibliche Zartheit und Rücksicht in seinem Ton. Sie kannte niemanden, der die Frauen in ihren kleinen Schwächen so liebevoll verstand wie er, vielleicht weil er selbst etwas Weibliches und Weichliches in seiner Art besass. Aber ernst nahm er sie trotzdem nicht, so wenig wie sonst etwas auf der Welt. Er hatte ein stehendes, gutmütigironisches Lächeln. Damit entwaffnete er von vornherein jeden Widerspruch und Widerstand. Vor diesem Lächeln erstarb alles, was man im Herzen hatte und offenbaren wollte. Das wusste sie schon lange. Wie hatte sie sich früher nach einem Ausbruch des Zorns bei ihm gesehnt, nach einem rauhen Wort . . . ja nach einem harten Griff um ihr Handgelenk — alles lieber als diese ewige sonnige Heiterkeit, die sich aus allem im Leben nur ein Spielzeug machte, das man nach kurzem gelangweilt wieder wegwarf, selbst aus der Ehe und der eigenen Frau . . .

      Jetzt war sie längst hoffnungslos, Ängstlich, wie man eine wunde Stelle vor Berührung hütet, wahrte sie vor ihm ihr Inneres, ohne dass er, immer nur mit sich beschäftigt, das wohl überhaupt merkte, und so frug sie auch jetzt, während sie vor den Bahnhof traten, wo die Sandbauersche Equipage, mit zwei langschweifigen seidenschwarzen Orlofftrabern bespannt, Harrte: „Hör einmal: du hast ja da einen Tataren als Kutscher!“

      „Freilich. Es ist ein Fürst. Er heisst Abdul.“

      „Kein Mensch hat doch hier in Odessa einen Tataren.“

      „Gerade deswegen!“ Nicolai musterte zufrieden den schlitzäugigen, untertänig grinsenden Fürsten, der in seinem unförmlich dicken, an den Hüften ausmattierten blauen Weiberrock auf dem Bock thronte. „Das ist doch etwas Neues.“

      „Aber die Pferde sind die alten?“

      „Ja, die alten.“

      Sie nickte müde. Ein Gespräch über Diener und Pferde . . . das war der Boden, auf dem sie beide sich noch fanden. Keinen Schritt weiter über die Alltäglichkeit eines gemeinsamen Haushalts hinaus! So war es bis zu der Trennung vor einem halben Jahr gewesen, so fing es jetzt wieder an. So allein war dies Beisammenleben wenigstens äusserlich zu ertragen.

      Ja — nun war man wieder in Odessa. Da dehnte sich vor ihr endlos die Puschkinstrasse, zu beiden Seiten von orthodoxen Kirchen flankiert, deren grüne Zwiebelkuppeln sich in ganzen Bündeln, von goldflimmernden Kreuzen überragt, von dem sattblauen Himmel abzeichneten. Von da oben klang rasches, aufgeregtes Glockengeläute. Schwärme von Bettlern kauerten unten an den Treppenstufen und klagten.

      Sie wandte, während der Diener, ein riesiger Grossrusse, für das Gepäck sorgte, den Blick von diesen Jammergestalten ab nach der weiten freien Fläche, die seitlings den Bahnhof umgab. „Da haben doch sonst Holzbuden gestanden, nicht?“

      Ihr Gatte nickte, sich eine Zigarette drehend. „Man hat sie angezündet, alle. Auch weiter drüben, den ganzen alten Bazar.“

      „Ja warum denn?“

      „Wir hatten doch im Frühjahr wieder hier die Pest! Irgend so ein verwünschter Krimscher Tatar, der nach Mekka gepilgert war, hat sie eingeschleppt. Und gerade in diesen Bretterbuden, in diesem Schmutz war sie nicht auszurotten. Da brannten die Behörden einfach die ganze Geschichte nieder.“

      „Und die Pest hat aufgehört?“

      „Natürlich hat sie aufgehört! Das fehlte uns noch! Zu diesem angeblich drohenden Ausfuhrverbot auch noch Pest und Quarantäne! Zehn Prozent Wechseldiskont dazu . . . es ist schon ein Genuss, jetzt in Russland Geschäfte zu machen.“

      „Dieser Tage haben wir hier, damit gar nichts fehlt, auch wieder Judenkrawalle“ gehabt,“ fuhr er fort, und wies auf die kleinen Häuser zu beiden Seiten der Strasse. Hier lebten zum grössten Teil Trödeljuden in dürftigen unsauberen Lädchen und Stübchen. Kein Stück Glas war da ganz geblieben! Nicht nur die Scheiben, selbst die Holzrahmen hatten die Steinwürfe der betrunkenen Barfüssler und Hafenstrolche zertrümmert. Nur wo hinter dem Fensterkreuz ein Kruzifix, oder Muttergottesbild stand — als Zeichen, dass da Christen wohnten —, hatte das Zerstörungswerk eine Strassennummer übersprungen, um bei der nächsten mit doppeltem Glaubenseifer einzusetzen. Vereinzelte weisse Flöckchen schwebten in der Luft oder spielten am Boden: die Überreste der aufgeschnittenen Federbetten. An einer, Stelle waren auf dem Pflaster tellergrosse rostbraune Flecken. Die Menschen gingen achtlos über das eingetrocknete Blut hinweg oder standen plaudernd an den schon wieder geöffneten Magazinen. Überhaupt hatte die Gasse sonst ganz ihr gewohntes Aussehen.

      „Sind viele Menschen verletzt worden?“ frug Lisa bang.

      Nicolai zuckte die Achseln. Er wusste es nicht. Und es interessierte ihn wohl auch wenig. „Die Tumulte dauern noch fort!“ sagte er. „Es heisst, der Gouverneur will schiessen lassen, wenn es nicht bald Ruhe gibt.“

      Zwei Kosaken ritten langsam die Puschkinstrasse herauf, bärtige finstere Kerle auf kleinen zottigen Pferden, in der Rechten die Nagaika, die gefürchtete schwere Peitsche schwingend. Wo ihre Hufe auf dem Granit klapperten, wich alles auseinander. Lisa schaute nur flüchtig zu ihnen hin. Sie, das Kind Odessas, kannte ja seit ihrer frühesten Jugend das Bild dieser stetig wie Naturereignisse sich wiederholenden Judenverfolgungen in Südrussland. Man gewöhnte sich daran. Man betrachtete es schliesslich als unvermeidlich. Früher war es noch schlimmer gewesen. Sie hatte oft von ihrem Vater gehört, wie damals die europäischen Grosskaufleute sich und ihr ganzes Personal mit Jagdgewehren und Revolvern bewaffnet und ihre Gewölbe in verschanzte


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