Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
Читать онлайн книгу.durch Unzaga geboren. Letztlich ist es in unserem Zusammenhang auch ziemlich egal, wer den Fallrückzieher erfand. Wichtiger ist, dass die Auseinandersetzung die Bedeutung aufzeigt, die man der in den 1920er Jahren an der Mündung des Río de la Plata herrschenden Fantasie beimaß. Angesichts der beschämenden ablehnenden Haltung des Fußball-Mutterlandes gegenüber Neuerungen kann man sich Ellis dann sogar tatsächlich gut als den ersten Mann vorstellen, der einen Fallrückzieher auf britischem Boden hinlegte.
Uruguay – Argentinien 4:2, WM-Finale, El Centenario, Montevideo, 30. Juli 1930.
Der argentinische Fußball entwickelte seinen ganz eigenen Gründungsmythos. Er beruht größtenteils auf einem Besuch der ungarischen Mannschaft von Ferencváros Budapest im Jahre 1922. Deren Vorführung des österreichischen „Scheiberlns“ revolutionierte angeblich die Ansichten der Einheimischen über das Spiel. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Tournee lediglich bereits stattfindende Umbrüche bestätigte: weg vom körperbetonten britischen Stil, hin zu einer Spielweise, die stärker auf individueller technischer Klasse beruhte.
Mit den Technik-Experimenten ging eine Bereitschaft einher, in gleichwohl vorsichtiger Weise an der Taktik zu basteln. „Südamerikanische Teams hatten eine bessere Ballbehandlung und eine stärker taktisch geprägte Spielauffassung“, sagte Francisco Varallo, seines Zeichens rechter Halbstürmer Argentiniens im ersten WM-Finale. „Zu jener Zeit hatten wir fünf Stürmer, wobei sich der Achter und der Zehner zurückfallen ließen und die Flügelspieler Flanken nach innen schlugen.“ Diese Halbstürmer sah man bald in der Schlüsselposition für die kreativen Momente, und der Fußball entwickelte einen Kult um die Gambeta, den slalomartigen Dribbelstil. Sowohl in Argentinien als auch in Uruguay erzählt man sich die Geschichte eines Spielers, der leichtfüßig durch die Reihen des Gegners tanzte und den Lauf mit einem fulminanten Tor abschloss. Bei der Rückkehr in seine eigene Hälfte habe er dann seine Fußspuren im Staub verwischt, damit ihm niemals jemand seinen Trick nachmachen konnte.
Auch wenn sich die Geschichte sicherlich nie so zugetragen hat, zeigt sie doch das vorherrschende Wertesystem, das besonders deutlich wurde in der Zeit, als sich der argentinische Fußball von der internationalen Bühne zurückzog. Vor der WM 1934 hatte Argentinien durch Emigration viele Spieler verloren – in der siegreichen italienischen Mannschaft spielten beispielsweise vier Argentinier – und kassierte in der ersten Runde eine Niederlage gegen Schweden. Nachdem die eigene Bewerbung für die Ausrichtung des Turniers abgelehnt worden war, weigerte man sich, 1938 ein Team nach Frankreich zu schicken. Infolge des Zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden Isolation des Landes unter Juan Perón spielte Argentinien erst 1950 wieder international.
In der Zwischenzeit erlebte es ein goldenes Zeitalter: 1931 war eine Profiliga ins Leben gerufen worden, und die großen Stadien zogen gewaltige Zuschauermassen an. Zeitungen und Radioreportagen befeuerten das landesweite Interesse am Fußball. Das Spiel wurde für das Leben in Argentinien so bedeutsam, dass Jorge Luis Borges, der diesen Sport hasste, und Adolfo Bioy Casares, der ihn liebte, für ihre gemeinsame Kurzgeschichte „Esse est percipi“ eben den Fußball wählten, um zu zeigen, wie die Wahrnehmung der Wirklichkeit manipuliert werden kann. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Fan, der in einem Gespräch mit einem Vereinsvorsitzenden erfährt, dass der gesamte Fußball nur vorgespielt ist – mit abgesprochenen Ergebnissen und von Schauspielern dargestellten Kickern.
Der seit den 1920er Jahren entstandene argentinische Stil wurde immer spektakulärer. Er wurde später La Nuestra, „die unsere [Spielweise]“ genannt, und hatte seine Wurzeln in der Viveza criolla, der „hispano-amerikanischen Gewitztheit“. Der Begriff selbst scheint sich nach einem 3:1-Sieg der Argentinier über eine englische Elf im Jahr 1953 in der Öffentlichkeit verbreitet zu haben: Wie man hätte sehen können, konnte La Nuestra, also „unser Stil“, den der Gringos besiegen (auch wenn es sich strenggenommen nur um einen Schaukampf und nicht um ein richtiges Länderspiel gehandelt hatte). Der argentinische Fußball dieser Zeit lebte von seiner Freude an der Offensive. Zwischen September 1936 und April 1938 gab es in der argentinischen Meisterschaft kein einziges torloses Unentschieden. Nichtsdestotrotz waren Tore nur ein Aspekt.
In einer vielzitierten Anekdote aus seinem Roman Sobre héroes y tumbas, zu Deutsch: Über Helden und Gräber, erörtert Ernesto Sabato den Geist von La Nuestra. Dabei berichtet die Figur des Julien d’Arcangelo dem Helden namens Martín von einem Vorkommnis, an dem zwei von Independientes Innenstürmern der 1920er Jahre, Alberto Lalín und Manuel Seoane – die die Spitznamen La Chancha und El Negro trugen –, beteiligt waren. Diese beiden wurden als die Verkörperung der zwei verschiedenen Denkschulen des Fußball gesehen. „Eines Nachmittags sagte El Negro während der Halbzeitpause zu Lalín: ‚Spiel mir die Flanke zu, Mann, und ich kann nach vorne stürmen und ein Tor schießen.‘ Die zweite Halbzeit beginnt, Lalín flankt, natürlich bekommt El Negro den Ball, stürmt vorwärts und trifft. Seoane kommt mit ausgebreiteten Armen zurück, läuft auf Lalín zu und ruft: ‚Siehst du, Lalín, siehst du?‘ Lalín antwortet ihm: ‚Ja, aber mir macht das keinen Spaß.‘“ Diese Anekdote verkörpert anschaulich das Grundproblem des argentinischen Fußballs.
Von der Bedeutung her standen Tricks und Unterhaltung schließlich sogar in Konkurrenz zum Sieg. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte es in Großbritannien dieselbe Debatte gegeben: Sollte man weiter auf die „richtige Art“ spielen, also dribbeln (wenn auch längst nicht so spektakulär wie später in Argentinien), oder sich jenen Stil aneignen, mit dem man Spiele gewann? In den 20 Jahren der internationalen Isolation gab es nur wenige Spiele gegen Mannschaften von außerhalb Argentiniens, die Niederlagen und ein taktisches Umdenken hätten bringen können. Folglich kam es zu einer Blütezeit dieser unbändigen Spielweise. Vielleicht hätte sie dem argentinischen Fußball langfristig gar nicht gut getan. Solange sie anhielt, war sie allerdings die reinste Freude.
KAPITEL 3
Der dritte Verteidiger
Zur nachhaltigen Faszination des Fußballs gehört unter anderem die Ganzheitlichkeit des Spiels. Eine kleine Veränderung auf einem Teil des Platzes kann an anderen Stellen ebenso unerwartete wie drastische Folgen haben. Als die britischen Fußballverbände das International Board 1925 von einer Lockerung der Abseitsregel überzeugten, war dies die Reaktion auf eine schon länger anhaltende Torflaute. Notts County hatte die Abseitsfalle eingeführt, und bald beherrschten diese auch weitere Vereine – insbesondere Newcastle United mit dem Verteidigerpaar Frank Hudspeth und Bill McCracken – so gut, dass praktisch nur noch auf einem schmalen Streifen beiderseits der Mittellinie gespielt wurde. Mit Newcastles 0:0 beim FC Bury im Februar 1925 war das Maß voll. Mit diesem Ergebnis hatten die Magpies in jener Saison bereits das sechste torlose Unentschieden erreicht. Gleichzeitig fielen in der Saison insgesamt nur 2,58 Tore pro Spiel, für damalige Verhältnisse unglaublich wenig. Der Fußball war langweilig geworden, die Zuschauerzahlen sanken. Die FA kam ausnahmsweise einmal nicht nur zu der Erkenntnis, dass etwas unternommen werden musste – sie unternahm auch tatsächlich etwas.
Die Abseitsregel hatte seit 1866 nur geringfügige Änderungen erfahren. Sie schrieb vor, dass das Abseits für einen Angreifer dann aufgehoben war, wenn sich mindestens drei gegnerische Spieler zwischen ihm und dem Tor der anderen Mannschaft befanden. Nun aber reagierten die Funktionäre auf den zunehmenden Einsatz der Abseitsfalle. Ein Beispiel für einen solchen Einsatz findet sich in der Partie zwischen Schottland und England im Hampden Park im April 1906. Nachdem sich der linke Außenläufer Harry Makepeace verletzt hatte, zog Englands Kapitän S.S. Harris (Corinthians) nicht wie sonst üblich einen der Stürmer auf die Läuferreihe zurück, sondern verschob Linksverteidiger Herbert Burgess nach vorne und ließ mit einer hohen Abseitslinie spielen. Rechtsverteidiger Robert Crompton stand tief und kümmerte sich um lange Bälle und Durchbrüche. Der Rest der Mannschaft rückte bis auf etwa 20 Meter vor die schottische Torlinie vor und schnürte die Schotten quasi vor dem eigenen Tor ein.
„Nachdem Harris alle informiert hatte, dass man auf Sicherheit spielen wolle, wurde die Begegnung zu einer Farce“, schäumte der Schreiber eines