Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson

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Revolutionen auf dem Rasen - Jonathan Wilson


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Mai 1936 konnte Österreich in Wien schließlich den von Meisl so ersehnten Sieg gegen England feiern. Als er Hogan vor dem Spiel seine Mannschaft präsentierte, äußerte dieser Zweifel am Stehvermögen der Halbstürmer. Meisl entgegnete, dass er in den ersten 20 Minuten die vorentscheidende Führung erzielen und diese dann in der verbleibenden Spielzeit verteidigen wolle. Der Plan ging auf. Sindelar lockte den Vorstopper John Barker wiederholt aus der Verteidigung – ähnlich, wie es Nándor Hidegkuti 17 Jahre später mit Harry Johnstons machen sollte. Schnell lag England mit zwei Toren im Rückstand. Zwar verkürzte George Camsell in der zweiten Halbzeit kurz nach Wiederanpfiff noch auf 1:2, das änderte aber nichts an Österreichs Überlegenheit – auch wenn Meisl an der Seitenlinie sichtlich nervös war. „Wir wussten nicht, wo uns der Kopf stand“, gestand Jack Crayston. „Und es war widerlich heiß.“ Britische Mannschaften haben noch nie gut ausgesehen, wenn die Hitze ein stumpfsinniges Anstürmen über längere Zeit nicht zulässt und Ballkontrolle die bessere Wahl wäre.

      Nichtsdestotrotz hatte der Niedergang des „Wunderteams“ zu diesem Zeitpunkt längst begonnen. Die Österreicher mussten ihre führende Stellung auf dem Kontinent an die Italiener abtreten. Hinsichtlich der taktischen Formation wählte Italien – beinahe aus Versehen – einen Mittelweg zwischen dem englischen W-M-System und dem 2-3-5 der Donaustaaten. Der entscheidende Unterschied aber lag in ihrem Ethos. Der italienische Fußball „glich seine im Vergleich zum europäischen Rivalen [Österreich] weniger starke technische Beschlagenheit … durch seine forsche Art und die hervorragende Kondition der Spieler aus“, schrieb Glanville. Der Glaube an den Primat der Athletik mag im Faschismus ganz natürlich gewesen sein, er entsprach allerdings auch den Vorlieben des italienischen Nationaltrainers Vittorio Pozzo. Der Visionär mit dem buschigen Haar wurde zum führenden Genie des italienischen Fußballs der Zwischenkriegszeit.

      Pozzo war 1886 in der Nähe von Turin auf die Welt gekommen. Er machte zunächst als vielversprechender Sprinter auf sich aufmerksam und gewann bei den Studentenspielen von Piemont den 400-Meter-Lauf. Zum Fußball kam er erst, nachdem ihn sein Freund Giovanni Goccione, der spätere Mittelläufer von Juventus Turin, damit aufgezogen hatte, „wie ein Automobil zu laufen“. Goccione schlug Pozzo vor, mal „mit einem Ball vor sich“ loszurennen. Pozzo wurde allerdings nie ein großer Spieler und absolvierte stattdessen ein Studium.

      Zunächst studierte er an der Internationalen Handelsschule in Zürich, wo er Englisch, Französisch und Deutsch lernte, und dann in London. Der dortigen italienischen Gemeinde bald überdrüssig, zog es ihn Richtung Norden nach Bradford. Dort verschafften ihm die Beziehungen seines Vaters eine Stelle in der Wollproduktion. Ganz unvermittelt verliebte sich Pozzo in England samt dessen Fußball. Der Drang, seine neue Heimat besser kennenzulernen, zeigte sich in der Teilnahme an anglikanischen Gottesdiensten – trotz seiner katholischen Wurzeln. Seine Woche folgte bald dem englischen Muster: am Sonntag in die Kirche, fünf Tage arbeiten und am Samstag Fußball. Als seine Eltern ihn nach Italien zurückbeorderten, damit er in der Maschinenbaufirma seines Bruders aushelfe, weigerte sich Pozzo. Sein Vater strich ihm daraufhin den Unterhalt. Dennoch blieb Pozzo in England, wo er sich durch Sprachunterricht über Wasser hielt.

      Pozzos Lieblingsmannschaft war Manchester United. Das lag hauptsächlich am Stil der legendären Abwehrreihe mit Dick Duckworth, Charlie Roberts und Alec Bell. Bald hing Pozzo nach den Spielen regelmäßig am Spielerausgang von Old Trafford herum. Als er eines Samstags endlich genügend Mut gesammelt hatte, sprach er Roberts an. Pozzo erzählte ihm, dass er ein glühender Verehrer sei und wie sehr er sich darüber freuen würde, sich mit ihm über das Spiel zu unterhalten. So begann ihre lange Freundschaft, aus der sich jener Stil entwickelte, den Pozzo seine italienische Mannschaft 20 Jahre später spielen lassen sollte. Er verabscheute die Taktik mit drei Verteidigern und verlangte von seinen Mittelläufern, dass sie – ähnlich wie Roberts – lange Pässe auf die Flügel schlagen konnten. In diesem Punkt war Pozzo absolut eisern, was beispielsweise nach seiner erneuten Ernennung zum Nationaltrainer im Jahr 1924 dazu führte, dass er sich, ohne zu zögern, von Fulvio Bernardini trennte. Das Idol des römischen Publikums war nun einmal eher ein „Träger“ denn ein „Verteiler“.

      Zur Hochzeit seiner Schwester kehrte Pozzo schließlich doch nach Italien zurück und wurde prompt von seiner Familie daran gehindert, nach England zurückzukehren. Allerdings erhielt er bald den Posten des Generalsekretärs des italienischen Fußballverbandes, und anlässlich der Olympischen Spiele 1912 in Stockholm wurde er erstmals Trainer der Nationalmannschaft. Nachdem die Italiener knapp gegen Finnland verloren und dann gegen Schweden gewonnen hatten, bezogen sie von Österreich eine derbe 1:5-Packung. Diese Niederlage war eine große Enttäuschung, auch wenn sie nicht unerwartet kam. Die eigentliche Bedeutung dieses Spiels lag jedoch darin, dass sich Pozzo und Meisl hier zum ersten Mal begegneten. Sie schlossen Freundschaft und sollten doch den Rest ihres Lebens Rivalen bleiben.

      Nach einer 1:3-Niederlage gegen Österreich im Dezember 1912 trat Pozzo zurück und begann wieder zu reisen. Während des Ersten Weltkriegs diente er als Major bei den Gebirgsjägern. 1924 ernannte man ihn nach einer 0:4-Niederlage gegen Österreich kurz vor den Olympischen Spielen in Paris zum zweiten Mal zum Nationaltrainer. Italien legte dort einen vielversprechenden Auftritt hin und schlug Spanien und Luxemburg, bevor man sich der Schweiz knapp geschlagen geben musste. Kurze Zeit später starb Pozzos Frau, und er legte sein Amt erneut nieder. Die folgenden fünf Jahre arbeitete er in leitender Position bei Pirelli und wanderte in seiner Freizeit mit seinem Schäferhund in den Bergen. 1929 trat der italienische Verband ein weiteres Mal an ihn heran. Nun blieb Pozzo 20 Jahre lang Trainer der italienischen Nationalmannschaft. In dieser Zeit sollte er aus Italien eine der besten Mannschaften Europas, wenn nicht der Welt machen.

      Bei seiner ersten Amtsübernahme 1912 hatte Pozzo ein aufgeblähtes Meisterschaftssystem mit 64 Vereinen vorgefunden. Als er versuchte, die oberste Klasse stärker zu straffen, trat eine Reihe von Klubs aus dem Verband aus. Bei seiner dritten Berufung war dagegen inzwischen eine Profiliga etabliert, und das faschistische Regime, das Sport als wirkungsvolles Propagandamittel erkannt hatte, investierte eifrig in Stadien und Infrastruktur. Mussolinis Pressemann Londo Ferretti drückte es nach dem WM-Triumph des Landes 1938 in Lo Sport Fascista so aus: „Ob innerhalb oder außerhalb unserer Grenzen, ob wir es zur Schau tragen oder nicht, wir Italiener erschauderten und erschaudern nach wie vor … vor Glückseligkeit und sehen in diesen Vollblutathleten, die so zahlreiche edle Gegner besiegen, ein Symbol für den überwältigenden Marsch der Italiener Mussolinis.“

      Inwieweit sich Pozzo mit der faschistischen Ideologie einließ, bleibt ungeklärt. Auf jeden Fall aber führten seine Verbindungen zu Mussolini in den 1950er und 1960er Jahren zu seiner Isolation. Auch wurde das Stadio delle Alpi, das anlässlich der Weltmeisterschaft 1990 vor den Toren Turins errichtet wurde, aus diesem Grunde nicht nach Pozzo benannt. Später tauchten Indizien auf, die eine Kooperation mit dem antifaschistischen Widerstand belegen sollen. Demnach habe Pozzo die Partisanen in der Gegend um Biella mit Lebensmitteln versorgt und alliierten Kriegsgefangenen zur Flucht verholfen.

      Kein Zweifel besteht hingegen daran, dass Pozzo den vorherrschenden Militarismus voll ausnutzte, um seine Machtposition gegenüber der Mannschaft zu sichern und sie zu motivieren. „Hat man mehr als einen Verantwortlichen, führt das zu Kompromissen, und die waren niemals das Fundament einer großen Fußballmannschaft“, sagte er. Pozzo hatte eine geschickte Art der Menschenführung und entwickelte einen strengen, autoritären Stil, um mit den häufig von den Fans ihrer Klubs so verehrten Spielern umzugehen. Beispielsweise pfiff er sämtliche Trainingsspiele persönlich und verwies einen Spieler des Feldes, sobald er das Gefühl hatte, dass dieser aus persönlichen Animositäten heraus einen Mannschaftskameraden nicht anspielte. Berief Pozzo zwei Spieler, von deren gegenseitiger Antipathie er wusste, zwang er sie, sich ein Zimmer zu teilen.

      Am umstrittensten aber war sein Nationalismus. Einmal zum Beispiel war die Mannschaft auf dem Weg zu einem Freundschaftsspiel gegen Ungarn in Budapest, das Italien mit 5:0 gewann. Pozzo unterbrach die Reise am monumentalen Soldatenfriedhof von Redipuglia und ließ die Spieler die Schlachtfelder von Oslava und Gorizia aus dem Ersten Weltkrieg besichtigen. „Ich erklärte ihnen, dass es gut war, wenn jener traurige und schreckliche Anblick sie betroffen gemacht habe. Denn was immer man bei dieser Reise von uns erwartete, so war es doch nichts im Vergleich zu denen, die in den umliegenden Bergen ihr Leben verloren hatten“, schrieb


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