Erlösung und Utopie. Michael Löwy

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Erlösung und Utopie - Michael Löwy


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vom Anarchimus am radikalsten erfaßt wird. Wir haben es hier mit einer qualitativen Differenzierung von Zeit zu tun, in der sinnerfüllte und sinnentleerte Epochen scharf voneinander abgegrenzt sind. Jede Möglichkeit von Fortschritt oder Evolution wird bestritten, und die Revolution erfolgt als Eingriff in die Welt.15

      Die Korrespondenz mit den revolutionären Utopien der Neuzeit erstreckt sich hier ebensowohl auf den absoluten und radikalen Charakter der Veränderung, wie auf den Inhalt dieser neuen bzw. wieder hergestellten Welt selbst. Tatsächlich aber weist von allen revolutionären Bewegungen der Neuzeit am entschiedensten der Anarchismus den Gedanken zurück, die bestehende Ordnung der Dinge ließe sich verbessern.

      Natürlich sind wir hier weit entfernt vom modernen Anarchismus, in dessen Devise »Weder Gott noch Herr« sich die Verweigerung jeder Autorität manifestiert, sei sie nun weltlich oder göttlich. Aber diese Ablehnung jeder von Menschen getragenen »leiblichen« Macht stellt eine bedeutungsträchtige Analogie und Korrespondenz dar und setzt uns in die Lage, jene eigenartige Denkfigur bestimmter zeitgenössischer, jüdischer Intellektueller wie Benjamin und Scholem besser zu begreifen: den theokratischen Anarchismus.

      Diese fünf Aspekte gehören zusammen. Ihre Untersuchung zeigte Übereinstimmungen zwischen zwei kulturellen Phänomenen auf, die ganz verschiedenen Bereichen angehören. Diese Übereinstimmungen könnte man als strukturelle Homologie und spirituelle Isomorphie bezeichnen, da sie sowohl die Sprachstruktur als auch den geistigen Inhalt von jüdischem Messianismus und revolutionärer, sprich libertärer Utopie der Neuzeit betreffen.

      Unter »libertär« verstehen wir hier nicht nur anarchistische bzw. anarchosyndikalistische Lehren im eigentlichen Sinn, sondern auch progressive Tendenzen im Sozialismus – einschließlich des marxistischen –, die durch eine antiautoritäre und anti-etatistische Haltung gekennzeichnet sind.

      Das Feld der Korrespondenzen (Baudelaire), das unterirdische Netz von Analogien, Ähnlichkeiten, Äquivalenzen zwischen mehreren Elementen der beiden kulturellen Konfigurationen haben wir bisher nur markiert. Für sich allein betrachtet konstituieren diese Korrespondenzen noch keine wirkliche Beziehung: Der Anarchismus Proudhons oder Bakunins, die – nebenbei bemerkt – beide Antisemiten waren, hat mit der religiösen Tradition des Judentums nichts zu tun. Nur zu einem konkreten historischen Zeitpunkt (der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) und innerhalb eines konkreten soziokulturellen Milieus wurden sie dynamisch und entwickelten sich im Werk bestimmter jüdischer Intellektueller zu einer wirklichen Wahlverwandtschaft von Messianismus und libertärer Utopie.

      Mit anderen Worten: Es bedurfte einer bestimmten Konstellation sozialer, historischer und kultureller Faktoren, damit dieser Prozeß entstehen konnte, diese attractio electiva oder »kulturelle Symbiose«, die von wechselseitiger Befruchtung und Stimulierung beider spiritueller Figuren bis zu ihrer Vereinigung und Verschmelzung reicht, und die die Weltanschauung der wichtigsten deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen entscheidend geprägt hat.

      Der Charakter der Verbindung und die Frage, aus welchen Elementen sie besteht, hängt vom jeweiligen Autor ab. Eine Vermischung wie eine Legierung aus zwei Metallen wäre denkbar, oder ein Ineinandergreifen zweier Element wie bei einem Gelenk. Eine oder mehrere der »Korrespondenzen«, die wir ermittelt haben, können beteiligt sein.

      Die einfachste, jedermann sofort einleuchtende Erklärung des Phänomens wäre die Interpretation des jüdischen Messianismus als »Quelle«, aus der die libertäre Utopie der jüdischen Intellektuellen ihre Kraft bezog.

      Die Hypothese ist nicht völlig zu verwerfen und enthält wahrscheinlich »ein Körnchen« Wahrheit, läßt aber neue Probleme entstehen: a) Ein Einfluß allein reicht als Erklärung nicht aus und müßte selbst wiederum erklärt werden. Warum hat diese Lehre, und keine andere, ausgerechnet jenen Autor beeinflußt? Die Frage stellt sich um so mehr, als fast alle hier zur Debatte stehenden Autoren eine Erziehung genossen haben, die sie den religiösen Traditionen des Judentums weitgehend entfremdet hat. In Osteuropa sah die Sache anders aus. Die deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen hingegen kamen durchweg aus einem assimilierten Milieu, bezogen ihre kulturelle Orientierung aus der deutschen Literatur und Philosophie und verehrten die Schriften Goethes, Schillers, Kants und Hegels. Der Talmud und die Kabbala galten als atavistische, obskurantistische Relikte der Vergangenheit.

      b)Die messianische Idee hat im Judentum ganz unterschiedliche Deutungen erlangt. Neben der konservativen Lesart der Rabbiner und der rationalistischen Deutung durch Maimonides finden wir die Auslegung Hermann Cohens, die vom liberalen, fortschrittsgläubigen Geist der Aufklärung und ihrer jüdischen Entsprechung, der Haskala, beeinflußt ist. Warum ist von einer


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