Erlösung und Utopie. Michael Löwy

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Erlösung und Utopie - Michael Löwy


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      Umgekehrt ließe sich argumentieren, die utopische Orientierung dieser Intellektuellen habe sie für die messianische Tradition ihrer Vorfahren sensibilisiert. Auch dieser Erklärungsversuch ist einseitig, während wir unter Zuhilfenahme von Wahlverwandtschaft als Begriff jede einseitige Bestimmung zugunsten eines dialektischen Verständnisses des Phänomens vermeiden können.

      Es verbleibt uns noch die Erläuterung eines Begriffes, der oft benutzt wird, um Beziehungen zwischen Religion und sozialen bzw. politischen Ideologien darzustellen. Wir meinen den Begriff der Säkularisierung. Für unser Phänomen ist er von begrenztem Interesse, denn die religiöse, messianische Dimension verschwindet bei den jüdischen Intellektuellen keineswegs, sondern bildet vielmehr einen zentralen Gesichtspunkt ihrer Weltanschauung. Tatsächlich läßt sich in ihren Werken ebensoviel Sakralisierung des Profanen wie Säkularisierung des Religiösen beobachten; eine enge, wechselseitige Beziehung verbindet beide Sphären miteinander, ohne daß eine die andere beeinträchtigte. Die Säkularisierung aber weist nur in eine Richtung, bei ihr wird das Sakrale vom Profanen absorbiert.

      Sinnvoller als diese begrifflichen Erklärungsversuche erscheint uns die Methode, Messianismus und libertäre Utopie in den Rahmen eines breiter gefaßten sozio-kulturellen Kontextes zu stellen.

      Vor diesem Hintergrund der Neuromantik wird das Wiedererwachen des jüdischen Messianismus in seiner restitutionistischen, utopischen Version und seine wahlverwandtschaftliche Annäherung und (manchmal) Übereinstimmung und Verschmelzung mit der libertären Utopie verständlich. Sie wurzeln im selben ethisch-kulturellen, sprich »ideologischen« Boden und entwickeln sich im selben geistigen Klima – dem romantischen Antikapitalismus der deutschen Intelligenz. Und tatsächlich konnte dieser vor allem in der Spielart der Revolutionären Romantik eine restaurative und utopische Interpretation sowohl des Messianismus als auch der Revolution (den Anarchismus) nur begünstigen.

      In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts finden wir eine Anzahl jüdischer Intellektueller in Mitteleuropa, die ein gemeinsames Anliegen eint: das Interesse an den Traditionen der Religion, die ihre Eltern längst vergessen haben, und die Begeisterung für den Anarchismus. Einige der bedeutendsten Köpfe des Jahrhunderts sind darunter: Dichter und Philosophen, Revolutionäre und religiöse Führer, Volkskommissare, Theologen, Schriftsteller und Kabbalisten, und solche, die alles in sich vereinigen. Franz Rosenzweig und Martin Buber gehören dazu, Gershom Scholem, Gustav Landauer, Franz Kafka, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Ernst Toller, Erich Fromm, Manès Sperber, Georg Lukács und viele andere.

      Über diese Autoren ist viel veröffentlicht worden, aber bis heute kam niemand auf die Idee, eine gemeinsame Grundlage eigne ihrem Denken. Und auf den ersten Blick erscheint es ja auch paradox und willkürlich, so unterschiedliche Persönlichkeiten mit stark markierter eigener Werkintention unter einem gemeinsamen Aspekt untersuchen zu wollen.

      Zwar standen sie untereinander in Verbindung, es gab ein komplexes Netz sozialer Beziehungen, wenn auch von einer Gruppe im eigentlichen Sinn nicht die Rede sein kann. Gustav Landauer und Martin Buber waren eng befreundet und respektierten einer des anderen intellektuelle und politische Redlichkeit. Das gleiche gilt für Gershom Scholem und Walter Benjamin, Ernst Bloch und Georg Lukács, Martin Buber und Franz Rosenzweig, Gustav Landauer und Ernst Toller. Scholem interessiert sich für Buber und Landauer, Buber korrespondiert mit Kafka, Bloch und Lukács, Erich Fromm studiert bei Scholem. Im Mittelpunkt dieses Netzes: Walter Benjamin. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen, er integriert die entgegengesetztesten Meinungen und Standpunkte. Eng befreundet mit Scholem, steht er zu gleicher Zeit mit Bloch in Kontakt, ist stark beeinflußt von Lukács, Rosenzweig und Kafka und ein kritischer Leser der Werke Landauers, Bubers und Fromms. Aber das Wesentliche besteht nicht in diesen sozialen Kontakten. Wenn wir diese Autoren und andere, weniger bekannte wie Hans Kohn, Rudolf Kayser, Eugen Leviné, Erich Unger usw. gemeinsam betrachten, so liegt das darin begründet, daß ihre Werke im Zusammenhang der Neuromantik stehen und als Dokumente der Wahlverwandtschaft von jüdischem Messianismus und libertärer Utopie zu lesen sind. Für einen Autor wie Georg Lukács war diese Orientierung eine Episode im intellektuellen Werdegang. Bei Walter Benjamin stellt sie den Mittelpunkt des Lebenswerkes dar. Natürlich stehen Messianismus und Anarchismus bei jedem Schriftsteller in einer anderen Proportion: bei Franz Rosenzweig zum Beispiel überwiegt die religiöse Komponente, bei Bloch der utopisch-revolutionäre Entwurf. Aber beide Aspekte findet man bei allen.

      Eine systematische Gesamtdarstellung von Messianismus und anarchistischer Utopie wird man bei keinem von ihnen finden. Aber die Wirkung beider Phänomene in ihren Werken ist wie ein mächtiger Strom, der bald unterirdisch, bald deutlich sichtbar fließt und in Themen zur Darstellung gelangt, die von Autor zu Autor, von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt verschieden sind.

      Manchmal lassen sich beide Dimensionen klar voneinander unterscheiden, dann wieder sind sie eng verbunden oder gehen ineinander über. Explizite Formulierungen sind vertreten oder indirekte, und auch »Leerstellen« sollte man zu interpretieren wissen.

      Messianismus und Anarchismus können im Werk eines Autors dominieren, oder ein rasches, seltenes »Aufblitzen« deutet auf sie hin. Zwei verschiedene Gruppierungen von Autoren können wir unterscheiden. Bei der ersten herrscht die religiöse Orientierung vor, bei der zweiten geht es in stärkerem Maße um Fragestellungen der Politik:

      Zur Gruppierung religiös geprägter Juden mit anarchistischen Tendenzen gehören Franz Rosenzweig, Rudolf Kayser, Martin Buber, Gershom Scholem, Hans Kohn und viele andere. Letztere sind Zionisten, erstere eher feindselig, zumindest zurückhaltend, was den Zionismus betrifft. Obwohl sie die Assimilierung ablehnen und zum Judentum als Religion und Nationalkultur zurückgekehrt sind, formulieren sie politische und soziale, sprich utopisch-libertäre Anliegen in ihren Werken. Ihr Universalismus bewahrt sie davor, in engherzigem und chauvinistischem Nationalismus zu verfallen. So gehören Scholem und Buber in Palästina zu den Initiatoren von Brit Schalom und Ihud: Organisationen, die ein Zusammenleben von jüdischer und arabischer Bevölkerung befürwortet haben und die Errichtung eines nur den Juden vorbehaltenen Nationalstaates ablehnten. In gewisser Weise gehört auch Kafka in diese Gruppe, aber seine Einstellung zur jüdischen Religion ist problematischer und sein Verhältnis zur Assimilierung weniger negativ.

      Die zweite Gruppierung besteht aus assimilierten (atheistisch-religiösen), libertären Juden, d. h. aus Anarchisten, Anarcho-Bolschewiken und antiautoritären Marxisten: Gustav Landauer, Ernst Bloch, Erich Fromm, Ernst Toller, Georg Lukács usw. Im Gegensatz zu den Vorhergehenden haben sie sich mehr oder weniger von ihrer jüdischen Identität entfernt, doch eine gewisse Verbindung zum Judentum ist noch vorhanden und wird deutlich formuliert. Ihr religiöser Atheismus (der Begriff stammt von Lukács) trägt neben jüdischen auch christliche Züge, und mehrere von ihnen lassen den Anarchismus hinter sich


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