1984. George Orwell
Читать онлайн книгу.Brennöfen, in denen die ursprünglichen Ausgaben vernichtet wurden. Und irgendwo saßen, vollkommen anonym, die leitenden Denker, die die ganzen Tätigkeiten koordinierten und die Richtlinien der Politik festlegten, die es überhaupt erst erforderlich machten, dass dieses Bruchstück der Vergangenheit aufbewahrt, jenes verfälscht und wiederum ein anderes gänzlich ausgelöscht wurde.
Und schließlich war die Dokumentationsabteilung nur ein einzelner Zweig des Ministeriums für Wahrheit, dessen Hauptaufgabe nicht darin bestand, die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern darin, die Bürger Ozeaniens mit Zeitungen, Filmen, Fachbüchern, Telemonitorprogrammen, Theaterstücken und Romanen zu versorgen – also mit jeder nur erdenklichen Art von Informationen, Anweisungen und Unterhaltung, vom Denkmal bis zur Parole, vom lyrischen Gedicht bis zur biologischen Abhandlung, von der Fibel bis zum Neusprechwörterbuch. Und das Ministerium musste nicht nur die facettenreichen Bedürfnisse der Partei befriedigen, sondern die ganzen Maßnahmen auch noch einmal auf einem niedrigeren Niveau zugunsten des Proletariats wiederholen. Es gab eine ganze Reihe von Sonderabteilungen, die sich mit proletarischer Literatur, Musik, Theater und generell mit Unterhaltung beschäftigten. Hier wurden wertlose Zeitungen [61]produziert, die fast nichts anderes enthielten als Sportberichte, Verbrechen und Horoskope, reißerische Schundhefte für fünf Cent, vor Sex triefende Filme und kitschige, rührselige Lieder, die ausnahmslos mit technischen Mitteln in einer speziellen Art Kaleidoskop komponiert wurden, dem so genannten Versifikator. Es gab sogar eine ganze Unterabteilung – Pornoab in Neusprech –, die damit befasst war, die niedrigste Art von Pornografie herzustellen, die dann in versiegelten Päckchen versandt wurde und die kein Parteimitglied je zu Gesicht bekommen durfte, abgesehen von denjenigen, die mit der Herstellung betraut waren.
Drei weitere Mitteilungen waren aus der mit Druckluft betriebenen Röhre geglitten, während Winston seiner Arbeit nachkam; aber es handelte sich um simple Angelegenheiten, die er erledigt hatte, noch bevor er vom Zwei-Minuten-Hass unterbrochen wurde. Als das Ritual zu Ende war, kehrte er in seine Nische zurück, nahm das Neusprechwörterbuch aus dem Regal, schob den Sprechschreiber zur Seite, putzte seine Brillengläser und widmete sich der Hauptaufgabe dieses Morgens.
Winstons größte Freude im Leben war seine Arbeit. Vieles davon war ermüdende Routine, aber mitunter gab es Aufgaben, die so schwierig und verzwickt waren, dass man sich darin wie in den Tiefen eines mathematischen Problems verlieren konnte – delikate Fälschungen, bei denen man sich an nichts anderem orientieren konnte als an seinen Kenntnissen der Prinzipien des Engsoz und seiner Einschätzung dessen, was die Partei von einem verlangte. Mit diesen Dingen kannte Winston sich aus. Gelegentlich war er sogar mit der Richtigstellung von Leitartikeln aus der Times betraut worden, die ausnahmslos auf Neusprech [62]verfasst waren. Nun entrollte er die Mitteilung, die er zuvor zur Seite gelegt hatte. Sie lautete:
times 3.12.83 bericht gb tagesbefehl doppelplusungut nennt unpersonen vollkommen umschreiben obenvor präarchiv.
Auf Altsprech (oder standardisiertem Englisch) bedeutete das so viel wie:
Der Bericht über den Tagesbefehl des Großen Bruders in der Times vom 3. Dezember 1983 ist zutiefst unbefriedigend und nimmt Bezug auf nicht existierende Personen. Schreiben Sie ihn vollständig um und reichen Sie Ihren Entwurf an höherer Stelle ein, ehe er im Archiv aufbewahrt wird.
Winston las den beanstandeten Artikel durch. Der Tagesbefehl des Großen Bruders hatte sich offenbar hauptsächlich dem Lob der Arbeit einer Organisation gewidmet, die unter der Bezeichnung SFZZ bekannt war und die die Matrosen auf den Schwimmenden Festungen mit Zigaretten und anderen Zuwendungen versorgte. Ein gewisser Genosse Withers, ein prominentes Mitglied der Inneren Partei, war lobend erwähnt worden und hatte einen Orden erhalten, den Orden für besondere Verdienste Zweiter Klasse.
Drei Monate später war die SFZZ plötzlich ohne Angabe von Gründen aufgelöst worden. Man konnte vermuten, Withers und seine Kollegen seien inzwischen in Ungnade gefallen, aber weder in der Presse noch im Telemonitor hatte es zu dieser Angelegenheit Berichte gegeben. Das war zu [63]erwarten gewesen, da politische Straftäter für gewöhnlich nicht vor Gericht gestellt, geschweige denn öffentlich angeprangert wurden. Die großen Säuberungen, die Tausende von Menschen betrafen, und die öffentlich abgehaltenen Verhandlungen gegen Verräter und Gedankenverbrecher, die für ihre Verbrechen unterwürfig Geständnisse ablegten und danach hingerichtet wurden, waren spezielle Schauprozesse, die nur einmal alle paar Jahre stattfanden. Gewöhnlich lief es so ab, dass Leute, die das Missfallen der Partei erregt hatten, einfach verschwanden und man nie wieder etwas von ihnen hörte. Man hatte nicht den kleinsten Anhaltspunkt, was mit ihnen geschehen war. In manchen Fällen waren sie womöglich nicht einmal tot. Etwa dreißig Leute, die Winston persönlich gekannt hatte, seine Eltern nicht mitgezählt, waren im Laufe der Zeit verschwunden.
Winston strich sich mit einer Büroklammer sanft über den Nasenrücken. In der Nische auf der anderen Seite des Gangs kauerte Genosse Tillotson noch immer heimlichtuerisch über seinem Sprechschreiber. Einen kurzen Moment hob er den Kopf: wieder das feindselige Aufblitzen der Brillengläser. Winston fragte sich, ob Genosse Tillotson mit derselben Aufgabe wie er beschäftigt war. Das war durchaus denkbar. Eine derart komplizierte Aufgabe würde man niemals einer einzigen Person anvertrauen; andererseits würde man, wenn man sie einem Komitee übertrug, öffentlich zugeben, dass eine Fälschung im Gange war. Sehr wahrscheinlich erarbeitete im Augenblick ein Dutzend Leute konkurrierende Versionen dessen, was der Große Bruder tatsächlich gesagt hatte. Und bald würde ein Superhirn der Inneren Partei diese oder jene Version auswählen, würde sie neu herausgeben und den komplexen [64]Prozess der Querverweise in Gang setzen, der dafür erforderlich wäre, und erst dann würde die ausgewählte Lüge in die immerwährenden Aufzeichnungen gelangen und zur Wahrheit werden.
Winston wusste nicht, warum Withers in Ungnade gefallen war. Vielleicht wegen Korruption oder Unfähigkeit. Womöglich wollte der Große Bruder bloß einen allzu beliebten Untergebenen loswerden. Vielleicht war Withers oder jemand aus seinem näheren Umfeld abweichlerischer Tendenzen verdächtigt worden. Oder aber – und das war am wahrscheinlichsten – das Ganze war nur deshalb passiert, weil Säuberungen und Vaporisationen notwendiger Bestandteil der Regierungsmaschinerie waren. Der einzig brauchbare Hinweis fand sich in den Worten »nennt unpersonen«, die darauf hindeuteten, dass Withers bereits tot war. Man konnte nicht immer davon ausgehen, dass dies der Fall war, wenn Leute verhaftet wurden. Manchmal wurden sie wieder freigelassen und durften ein oder zwei Jahre in Freiheit verbringen, bevor sie hingerichtet wurden. Ganz selten kam es vor, dass jemand, den man schon lange für tot gehalten hatte, plötzlich wie ein Geist bei einer öffentlichen Verhandlung erschien, wo er dann aufgrund seiner Aussagen Hunderte anderer belastete, ehe er von der Bildfläche verschwand, diesmal für immer. Withers jedoch war bereits eine Unperson. Er existierte nicht: Er hatte nie existiert. Winston kam zu dem Schluss, dass es nicht ausreichte, einfach die Zielrichtung der Rede des Großen Bruders ins Gegenteil zu verkehren. Besser wäre es, wenn die Rede von etwas handelte, das in keinem Zusammenhang zu dem ursprünglichen Thema stand.
Er könnte die Rede in die gängige Beschuldigung von [65]Verrätern und Gedankenverbrechern umwandeln, aber das wäre ein bisschen zu offensichtlich; einen Sieg an der Front zu erfinden oder einen Erfolg bei der Überproduktion im Neunten Dreijahresplan könnte die Aufzeichnungen wiederum verkomplizieren. Was man brauchte, war ein reines Fantasieprodukt. Plötzlich kam ihm, wie gerufen sozusagen, das Bild eines gewissen Genossen Ogilvy in den Sinn, der kürzlich unter heldenhaften Umständen in der Schlacht gefallen war. Gelegentlich widmete der Große Bruder seinen Tagesbefehl dem Gedenken eines gewöhnlichen, einfachen Parteimitglieds, dessen Leben und Sterben er als nachahmenswertes Beispiel hochhielt. An diesem Tag sollte er des Genossen Ogilvy gedenken. Es gab zwar gar keinen Genossen Ogilvy, aber ein paar gedruckte Zeilen und einige gefälschte Fotografien würden diese Person flugs ins Leben rufen.
Winston dachte einen Moment nach, zog dann den Sprechschreiber zu sich und begann, im üblichen Stil des Großen Bruders zu diktieren: einem Stil, der gleichermaßen militärisch wie pedantisch und leicht nachzuahmen war, weil der Große Bruder gern Fragen stellte, um sie dann prompt selbst zu beantworten (»Welche Lehren ziehen wir aus diesem Sachverhalt, Genossen? Die Lehre – die auch ein Grundprinzip des Engsoz darstellt –, nämlich dass« usw. usw.).
Im Alter von drei Jahren hatte der Genosse