1984. George Orwell

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1984 - George Orwell


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in kreisende Bewegungen, eine Übung, die angeblich gut für die [49]Rückenmuskulatur sein sollte) – das Beängstigende daran war, dass all das wahr sein könnte. Wenn die Partei in die Vergangenheit eingreifen und von diesem oder jenem Ereignis behaupten konnte, es habe nie stattgefunden – war das dann nicht schrecklicher als Folter und Tod?

      Die Partei sagte, Ozeanien sei nie ein Bündnis mit Eurasien eingegangen. Er, Winston Smith, wusste zwar, dass Ozeanien vor gerade einmal vier Jahren ein Bündnis mit Eurasien eingegangen war. Aber wo gab es dieses Wissen? Nur in seinem eigenen Bewusstsein, das gewiss bald ausgelöscht werden würde. Und wenn alle anderen die Lüge akzeptierten, die die Partei verbreitete – wenn sämtliche Aufzeichnungen dieselbe Geschichte erzählten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit. »Wer die Vergangenheit kontrolliert«, lautete die Parteiparole, »kontrolliert die Zukunft – wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.« Und doch war die Vergangenheit, die ihrer Natur nach wandelbar war, nie verändert worden. Was immer heute wahr war, blieb wahr bis in alle Ewigkeit. So einfach war das. Man brauchte lediglich eine nicht abreißende Serie von Siegen über das eigene Erinnerungsvermögen. »Realitätskontrolle« nannten sie es; auf Neusprech: »Doppeldenk.«

      »Rührt euch!«, bellte die Übungsleiterin ein wenig freundlicher.

      Winston ließ die Arme sinken und füllte seine Lungen langsam wieder mit Luft. Sein Geist glitt in die labyrinthisch verzweigte Welt des Doppeldenk. Zu wissen und nicht zu wissen, sich der absoluten Wahrhaftigkeit bewusst zu sein, während man sorgsam ausgeklügelte Lügen erzählt, gleichzeitig zwei Ansichten aufrechtzuerhalten, die [50]einander ausschließen, wissend, dass sie einander widersprechen, und trotzdem an beide zu glauben; Logik gegen Logik auszuspielen, das Moralische zurückzuweisen, es aber gleichzeitig für sich in Anspruch zu nehmen; zu glauben, die Demokratie sei unmöglich, die Partei jedoch die Hüterin der Demokratie; zu vergessen, was vergessen werden sollte, um es sich dann wieder ins Gedächtnis zu rufen, wenn es benötigt wurde, und es dann prompt wieder zu vergessen – und vor allem, diesen Prozessablauf auf den Prozess selbst anzuwenden. Das war der Höhepunkt der Raffinesse: bewusst die Unbewusstheit herbeizuführen, um sich dann wiederum des gerade vollzogenen Aktes der Hypnose nicht mehr bewusst zu sein. Allein den Begriff »Doppeldenk« zu verstehen, bezog die Anwendung des Doppeldenk mit ein.

      Inzwischen hatte die Übungsleiterin sie wieder zum Strammstehen aufgefordert. »Und jetzt wollen wir sehen, wer von uns seine Zehen berühren kann!«, sagte sie enthusiastisch. »Bitte aus der Hüfte heraus, Genossen. Eins-zwei! Eins-zwei! …«

      Winston hasste diese Übung, die ihm einen stechenden Schmerz von den Fersen bis hinauf zu den Pobacken sandte und oft dazu führte, dass er wieder einen Hustenanfall bekam. Seinem Nachsinnen kam das halbwegs angenehme Gefühl abhanden. Die Vergangenheit, so überlegte er, war nicht einfach verändert, sondern schlichtweg zerstört worden. Denn wie sollte man die offensichtlichste Tatsache beweisen, wenn außerhalb der eigenen Erinnerung keine Aufzeichnungen existierten? Er versuchte sich zu erinnern, in welchem Jahr er zum ersten Mal vom Großen Bruder gehört hatte. Er glaubte, es musste irgendwann in den 60er Jahren [51]gewesen sein, aber es war nicht möglich, sich festzulegen. In der Geschichtsschreibung der Partei fungierte der Große Bruder natürlich als Führer und Hüter der Revolution von ihren Anfängen an. Nach und nach waren seine Großtaten zeitlich immer weiter zurückdatiert worden, bis sie in die sagenumwobene Epoche der 40er und 30er Jahre reichten, in denen noch die Kapitalisten mit ihren seltsam zylindrischen Hüten in großen glänzenden Automobilen oder Pferdewagen mit seitlicher Verglasung durch die Straßen Londons gefahren waren. Man konnte nicht wissen, wie viel an dieser Legende der Wahrheit entsprach und wie viel dazu erfunden wurde. Winston konnte sich nicht einmal erinnern, wann die Partei selbst erstmals in Erscheinung getreten war. Er glaubte nicht, den Begriff Engsoz jemals vor dem Jahr 1960 gehört zu haben, aber womöglich war er in seiner Altsprechform – nämlich als »Englischer Sozialismus« – bereits früher geläufig gewesen. Alles verschwamm im Nebel. Manchmal konnte man zwar eine klare Lüge benennen. So stimmte es zum Beispiel nicht, wie in den Geschichtsbüchern der Partei behauptet wurde, dass die Partei Flugzeuge erfunden hatte. Von frühester Kindheit konnte er sich an Flugzeuge erinnern. Aber man konnte nichts beweisen. Nie gab es irgendwelche Beweise. Nur einmal in seinem ganzen Leben hatte er einen unwiderlegbaren dokumentarischen Beweis für die Verfälschung einer historischen Tatsache in Händen gehalten. Und bei dieser Gelegenheit –

      »Smith!«, kreischte die bissige Stimme aus dem Telemonitor. »6079 Smith W.! Ja, Sie! Tiefer bücken, bitte! Das können Sie doch besser! Sie bemühen sich nicht richtig. Tiefer, bitte. So ist es schon besser, Genosse. Rühren, die ganze Einheit, und alle herschauen.«

      [52]Heißer Schweiß brach Winston plötzlich aus allen Poren. Seine Miene blieb vollkommen undurchdringlich. Nur keine Bestürzung zeigen! Nur keine Abneigung erkennen lassen! Ein einziges Zucken der Augen konnte einen verraten. Er stand da und sah zu, während die Übungsleiterin die Arme über den Kopf hob und sich dann – man konnte nicht gerade sagen anmutig, aber mit bemerkenswerter Beweglichkeit und Effizienz – nach vorn beugte und mit den Fingerspitzen unter ihre Zehen fasste.

      »So, Genossen! So möchte ich es bei euch sehen. Schaut noch einmal her. Ich bin neununddreißig und habe vier Kinder. Aufpassen jetzt.« Sie beugte sich wieder nach vorn. »Seht ihr, meine Knie sind nicht gebeugt. Das schafft ihr auch alle, wenn ihr nur wollt«, fügte sie hinzu, als sie sich wieder aufrichtete. »Jeder unter fünfundvierzig ist durchaus in der Lage, seine Zehen zu berühren. Wir haben nicht alle das Privileg, an vorderster Front kämpfen zu dürfen, dafür können wir uns zumindest alle fit halten. Denkt an unsere Jungs an der Malabar-Front! Und an die Seeleute auf den Schwimmenden Festungen! Überlegt mal, was die aushalten müssen. Jetzt probiert es noch einmal. Schon besser, Genosse, das sieht schon viel besser aus«, fügte sie aufmunternd hinzu, als es Winston mit einer gewaltigen Abwärtsbewegung zum ersten Mal seit Jahren gelang, die Zehen zu berühren, die Knie durchgedrückt.

      [53]4

      Mit einem tiefen, unbewussten Seufzer, der ihm zu Beginn der Arbeit trotz der Nähe des Telemonitors entfuhr, zog Winston den Sprechschreiber zu sich heran, pustete den Staub von dem Mundstück und setzte die Brille auf. Dann entrollte er vier kleine Papierzylinder, die bereits auf der rechten Seite seines Schreibtischs aus der mit Druckluft betriebenen Rohrpost gepurzelt waren, und klemmte sie aneinander.

      In den Wänden der Arbeitsnische gab es drei Öffnungen. Rechts von dem Sprechschreiber eine kleine Rohrpost für schriftliche Nachrichten; links eine größere Röhre für Zeitungen; und in der Seitenwand, in Reichweite von Winstons Arm, einen breiten länglichen Schlitz, geschützt von einem Drahtgitter. Dieser Schlitz diente dazu, Papierabfälle zu entsorgen. Schlitze dieser Art gab es zu Tausenden und Zehntausenden im gesamten Gebäude, nicht nur in jedem Raum, sondern auch in kurzen Abständen auf den Fluren. Aus irgendeinem Grund hatte man ihnen den Spitznamen »Gedächtnislöcher« gegeben. Sobald man wusste, dass irgendein Dokument vernichtet werden sollte, oder wenn man nur einen Fitzel Papier herumliegen sah, hob man unweigerlich die Drahtklappe des nächstbesten Gedächtnisloches an und warf das Papier hinein, woraufhin es in einem Strudel warmer Luft zu den riesigen Brennöfen fortgewirbelt wurde, die irgendwo in den Tiefen des Gebäudes verborgen standen.

      Winston betrachtete die vier Papierstreifen, die er entrollt hatte. Jeder enthielt eine Mitteilung von nur einer bis zwei Zeilen, und zwar in dem verkürzten Jargon – kein [54]wirkliches Neusprech, aber weitestgehend aus Neusprechwörtern bestehend –, der im Ministerium für interne Zwecke benutzt wurde. Sie lauteten:

      times 17. 3. 84 gb rede missberichtet afrika richtigstellen

      times 19. 12. 83 vorschau 3 jp 4. quartal 83 druckfehler laufende ausgabe verifizieren

      times 14. 2. 84 minifülle misszitiert schokolade richtigstellen

      times 3. 12. 83 bericht gb tagesbefehl doppelplusungut nennt unpersonen vollkommen umschreiben obenvor präarchiv

      Mit einem leisen Gefühl der Befriedigung legte Winston die vierte Mitteilung beiseite. Es handelte sich um eine delikate und verantwortungsvolle Aufgabe, die man am besten zum Schluss erledigte. Die anderen


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