Zum weißen Lamm. Roman aus Südtirol. Rudolf Stratz

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Zum weißen Lamm. Roman aus Südtirol - Rudolf Stratz


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zu reden ... Ihre Besteigung des Gross-Schreckhorns im Januar – Ihre Lösung der letzten Probleme am Winklerturm, Ihr Aufstieg auf dem Minnigerodeweg zur Königsspitze –“

      „Um Gottes willen – hören Sie auf!“ unterbrach ihn Schneevogt. „Sie kennen ja meine Leistungen beinahe besser als ich selber.“

      „Auswendig kenne ich sie!“ sagte der Martin Siebenpfeiffer. Es schimmerte feucht vor Bewunderung in seinen blauen Augen. „Sie ahnen ja nicht, mit welchem Interesse, mit welchem Stolz ich in der Abgeschiedenheit meines norddeutschen Städtchens Ihre Fahrten verfolge ...“ Er fingerte unruhig und unschlüssig mit der Rechten in der Luft herum, bis jener seine Absicht erriet und ihm die Hand reichte. „Sie sind ja einer der Ersten, der Grössten unter uns Alpinisten! Ich habe schon einmal einen Vortrag über Sie in meiner Sektion gehalten. – Ich bin nämlich Sektionsvorstand im Alpenverein“, setzte er mit einem bescheidenen Selbstbewusstsein hinzu, ohne freilich eine besondere Wirkung auf den Riesen vor ihm erkennen zu können. „Und ich muss es Ihnen sagen: Es war mir eine wahre Freude, Ihre Hand zu drücken, Herr Dr. Schneevogt!“

      „Bitte ... meinerseits, ganz meinerseits!“ Schneevogt hatte in seiner Ungeduld die letzten Worte nur noch halb gehört. In seinem Kopf, der doch nach Dr. Siebenpfeiffers Meinung nur von unerhörten neuen Rätseln der Eis-, Schnee- und Steinwelt träumen konnte, schien ganz wie bei einem gewöhnlichen Sterblichen der Gedanke an irgendein weibliches Wesen alle Bergspitzen des Erdballs vom Aconcagua bis zu dem „Wilden Dirndl“ da drüben völlig in den Hintergrund zu drängen.

      „Sie muss also auch das Tal hinunter sein!“ rief er seinem Kutscher zu. „Also los, Seppel, Loidl, Hansel oder wie Sie heissen. Wir fahren wieder bergab!“

      Aber dagegen erhob der Alte auf dem Kutschbock Einspruch. Das könne sein Pferd nicht schaffen. Das habe angestrengte Arbeit mit dem Herrn und seinen zwei Zentnern Körpergewicht gehabt und müsse jetzt ruhen und futtern. Eine Stunde mindestens! Und zu was denn die Eile? Wenn „sölles Fräulein“ sich nicht kriegen lassen wolle, kriegte sie ja doch keiner!

      „Da haben Sie recht!“ sagte Schneevogt und stiess mit einem energischen Ruck die Türe zum „Weisen Lamm“ auf. „Futtern wir also! Sie, Ihr Berberross und ich; und melden Sie es mir, wenn Ihr Pferd die Güte hat, sich weiter zu bemühen. Ich bin ein geduldiger Mensch und warte! ... Heda – Resi, Mirzl, Pepi oder wie Sie heissen, bringen Sie mir sofort was zu essen. Aber sofort!“

      Die Kellnerin hörte ihn gar nicht. Ratlos, atemlos, mit hochroten Backen schoss sie, von allen Seiten umstürmt und bedrängt, in dem Gewühl der Hungernden und Dürstenden umher, die umsonst nach Labung schrien.

      Der Besitzer des „Weisen Lamms“ war noch ein Wirt der alten Tiroler Schule. Nach seiner Meinung durfte man dem Schicksal nicht vorgreifen und nicht eher für Gäste sorgen, als bis sie auch wirklich da waren. Dass die Postkutsche jeden Mittag den Talboden heraufkeuchte, dass ihr jetzt zur Sommerszeit täglich ein Schwarm von Menschen entstieg, war zwar so sicher wie das Sonnenlicht. Aber wer konnte es wissen: vielleicht geschah gerade heute ein Unglück, und man hatte umsonst gesotten und gebraten.

      Die Reisenden fügten sich denn auch mit dem geduldigen Sonntagnachmittaghumor von Menschen, die um keinen Preis sich ihre Ferienfreude verkümmern lassen wollen, in die etwas demütigende Lage, trotz alles Flehens und Rufens, trotz aller Vorstellungen beim Wirt und Bittgänge in die Küche kaum in kümmerlichen Happen ihr tägliches Brot zu ergattern. Nur Schneevogt verlor, seinem Temperament gemäss, sofort beim Betreten des niederen, von Menschen wimmelnden Raumes die Geduld.

      „Das ist eine vorsündflutliche Schweinerei!“ sagte er stirnrunzelnd zu dem ihm folgenden Siebenpfeiffer. „Die reine Fütterung der Raubtiere oder, was noch schlimmer ist, die reine Nichtfütterung, in der der Mensch erst recht zur Bestie wird!“

      „Ja – ein neues Hotel ist’s freilich nicht!“ meinte Siebenpfeiffer versöhnlich. „Vor einer Stunde ist hier keine Hoffnung, etwas zu bekommen, sogar für einen Mann wie Sie, Herr Schneevogt!“

      Da schoss eben die Kellnerin wieder vorbei, einen dampfenden Teller mit einem knödelartigen Gebilde darauf in der Hand. „Wer hat das Beuschel bestellt?“ schrie sie mit durchdringender Stimme.

      „Ich!“ sagte der Bezwinger des Aconcagua, nahm ihr den Teller ab, setzte sich damit an den Tisch und begann eifrig zuzulangen. – „Sehen Sie ... so macht man’s!“ sagte er, dabei mit beiden Backen kauend, zu seinem ganz verdutzten Gefährten. „Man muss in den trägen Lauf der Dinge eingreifen. Die gebratenen Tauben fliegen einem nicht von selber in den Mund.“

      Martin Siebenpfeiffer antwortete nicht. Er sah mit Schrecken, wie aus der Ecke sich die düstere Gestalt seines Amtsbruders und Reisekameraden entwickelte, der dort die ganze Zeit voll bitteren Hungers in dem Gedanken an sein Beuschel geschwelgt hatte. „Verzeihen Sie ...“, sprach herantretend der Freund. „Aber Sie haben sich da ein Beuschel genommen ...“

      Schneevogt nickte nur und ass eifrig weiter.

      „Darf ich fragen“, fuhr jener fort, „woran Sie erkannt haben, dass das gerade Ihr Beuschel war?“

      „An meinem Hunger!“ sagte Schneevogt einfach.

      „Ja – glauben Sie denn nicht, dass andere auch Hunger haben?“

      „Gewiss. Darum sättige ich mich ja zuerst – vor allen anderen! – Denn ich habe Eile und die anderen nicht!“

      „Und wem dies Beuschel eigentlich gehört, das scheint Ihnen ...“

      „Lieber Herr!“ Schneevogt schob den leeren Teller von sich und lehnte sich behaglich zurück. „Dies Beuschel gehört der Vergangenheit an. Es hat sein Erdenwallen beendet. Wozu über gewesene Dinge streiten? Auch Ihnen wird die Laune des Schicksals noch ein Beuschel bescheren, wenn ich schon längst wieder in der Sonnenglut auf meinem Wägelchen sitze ... Inzwischen bin ich gesättigt! Und das ist doch schliesslich die Hauptsache! Mir wenigstens!“

      Der Amtsbruder sah sein mächtiges Gegenüber unschlüssig an. Dann zuckte er die Achseln, murmelte halblaut: „Der Mensch scheint verrückt zu sein!“ und wanderte auf seinen Lauerposten in der Ecke zurück. Sein Gegner liess diese Anspielung völlig unbeachtet. „Klein war das Beuschel!“ sagte er zu dem andächtig neben ihm sitzenden Siebenpfeiffer. „Viel zu klein. Wie alles in Tirol. Ich mit meinen sieben Fuss Länge lebe hier in einem fortwährenden Kampfe mit allen Objekten. Die Betten sind kurz und schmal, nach dem Mass von Kindersärgen, dass ich mich darin wie ein Taschenmesser zusammenklappen muss. Statt Waschgeschirr setzt man mir eine Art Spinatschüsseln vor. Mein Fuhrwerk draussen ist ein Puppenwägelchen mit einem gichtbrüchigen und lebensüberdrüssigen Pferdezwerg davor, den ein melancholischer kleiner Mann auf dem Bock zuweilen durch allerhand glucksende Töne in einen Zuckeltrab hineinlockt – kurzum – es ist traurig!“

      „Warum reisen Sie denn eigentlich dann in Tirol?“

      Schneevogt sah Martin Siebenpfeiffer forschend an. „Darf ich mir die Frage gestatten“, sagte er, „ob Sie verheiratet sind?“

      „Nein!“

      „Verlobt auch nicht?“

      „Nein!“

      „Dann haben Sie allerdings recht, wenn Sie in aller Unschuld noch fragen: ‚Warum tut ein Mann dies und warum jenes?‘ – Wären Sie verlobt – Sie fragten nicht mehr!“

      Er blinzelte nachdenklich zu den in lachend-weissem Sonnenglanz von ferne durch die Fenster blinkenden Firnfeldern des „Wilden Dirndl“ empor. Das Problem der Lackstiefel im Schnee schien wieder in ihm übermächtig alle anderen Interessen zu erdrücken.

      Martin Siebenpfeiffer schwieg diskret ein Weilchen. Dann brachte er das Gespräch auf ein anderes Gebiet.

      „Ja – das ‚Wilde Dirndl‘“, sagte er und musterte ebenfalls zärtlich den kecken, nadelscharf zur Himmelswölbung aufschiessenden Eisgipfel. „Das ‚Wilde Dirndl‘ ist ein schönes Ding! Aber schwer zu bezwingen. Furchtbar schwer!“

      Schneevogt nickte. „Ich könnte eigentlich dieser Tage mal hinaufgehen! Der Weg ist


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