Zum weißen Lamm. Roman aus Südtirol. Rudolf Stratz
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Schon in Halbschlaf versunken, sah Martin Siebenpfeiffer hinter seinen geschlossenen Wimpern ein unbestimmtes Traumbild – etwas sehr Schlankes, sehr Grosses, sehr Hübsches – eine junge Dame, die heiter lachend und unbekümmert mit hochgeschwungenen Lackstiefeln auf der Spitze des Grossglockners tanzte –. Er seufzte einschlummernd tief auf über soviel Vermessenheit und über das unmotivierte Hereinragen des Grossglockners in ein Gebiet, in dem doch unbestritten das „Wilde Dirndl“, also ein weibliches Wesen, herrschte.
Ein weibliches Wesen! Es gibt überhaupt nur ein Weib auf der Welt! Das sucht man und findet es nicht und nennt es darum unsre Frau Venus im Hörselberge und die ferne Königin von Avalûn und die Fee Morgana mit dem herzlich tollen Lachen. Das Lachen wurde stärker und stärker. Es mischte sich mit dem Gekicher der herabhüpfenden Quellen zu einem feinen Silberlaut, als wolle das „Dirndl“ oben, das sie entsandte, des Schläfers unten am Törli spotten.
Und dann klangen andre, prosaische Töne durch das übermütige Raunen der Eisgeister. Ein in bestimmten Zwischenräumen sich wiederholendes Geräusch, das schwer die Sommerstille durchsägte. Martin Siebenpfeiffer war am Ende der Dinge angekommen, wo kein Weib und kein Berg mehr Sehnsucht weckt. Er schlief ermüdet den Schlaf des Gerechten.
Drittes Kapitel
Stunden- und aber stundenlang schlief er. Die Sonne versank langsam in der Dämmerung hinter dem dreieckigen weisslichen Schattenriss des „Wilden Dirndls“. Es wurde immer dunkler, immer kühler, die Nacht zog sternenglitzernd am Himmel auf, und noch regte sich nichts auf dem empfindlich erkaltenden Graspolster, auf dem Martin Siebenpfeiffer zusammengerollt wie ein Murmeltier im Winterschlaf durch den Abendfrieden träumte.
Denn die Träume verdrängten allmählich wieder die bleierne Tiefe seines Schlummers. Wieder gaukelte es vor ihm in einem unbestimmten, huschenden, zu Riesengrösse wachsenden Gebilde, als tanze das „Wilde Dirndl“ höchstselbst in seinem schneeweiss wallenden Gewande einen Wirbeltanz und sänge laut die Melodie dazu ...
Ganz laut – mit einer fröhlichen Mädchenstimme. Martin Siebenpfeiffer fuhr plötzlich mit einem Ruck empor und sass verdutzt da. In seinem Ohr ruhte noch, wie ein Echo der Erinnerung, der geheimnisvolle, helle Ton, der ihn erweckt. Er horchte! Nein – es war nichts zu hören! Es war ein Nachhall aus dem Traum. Aber wo war er nur? Um sich tiefe Finsternis, über sich klares Sterngefunkel – es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er den ganzen Nachmittag verschlafen hatte!
Zähneklappernd hob er die steifen Glieder, an denen er die blauen Flecke überall schon fühlte, vom Boden. Ein heftiges Niesen, der Vorbote des kommenden Schnupfens, brachte ihn völlig zur Besinnung und in eine tiefe Wehmut. Damit lohnten nun wieder die Berge seine treue Liebe! Mit einem ganz gewöhnlichen niederträchtigen Schnupfen, wie ihn sich jeder Schulze und Müller überall in Neutomischl und Buxtehude holen konnte! Und statt der wilden Poesie der Einsamkeit in mondscheinübergossener Höhennacht, die er Ulrich Schneevogt, dem Meister, nachempfinden wollte, musste er jetzt im Bette liegend schwitzen und sich von der Monika heissen Tee kochen lassen. Vom Erhabenen zum Lächerlichen war eben nur ein Schritt! Sein Schritt, den er nie und nimmer verfehlte ...
Traulich winkte in rötlichem Schein die Törlihütte durch die Nacht und wies ihm den Weg über den Moränenschutt, an dem er sich in mühsamem Klettern, Straucheln und Tasten mit dem Bergstock die Schienbeine wund schlug. Aber endlich war es doch getan: er stand vor dem Haus und trat, dreimal heftig niesend, ein.
In der Küche war weder die Monika noch die Veronika zu finden. Aber oben auf der Treppe hörte er das Knirschen ihrer Schuhe und ein unbestimmtes Gepolter. Dann schlug eine Türe ein paarmal auf und zu, ein Schlüssel drehte sich energisch im Schloss, und die halbwüchsige Mirzl flog mit der Verve eines jungen Kalbs, von der Veronika gefolgt, die Stufen herab.
Martin Siebenpfeiffer war ärgerlich, dass er hungrig, erfroren und verschnupft hier warten musste, und empfand zudem seinen neuen Untergebenen gegenüber erzieherische Pflichten. Die strenge Schulmiene erschien auf seinem Antlitz. „Wenn ich rufe, liebe Veronika, müssen Sie kommen! Was haben Sie denn da oben vorgehabt?“
Die Tirolerin blickte auf die Mirzl. Die Türe zum Damenzimmer sei endlich gebracht und eben von ihnen in die Angeln gehängt worden.
„Das hätte doch bis nachher Zeit gehabt! Ob Sie die Türe jetzt oder in einer halben Stunde anbringen ...“
Da prusteten aber die beiden Mädeln heraus und die Veronika widersprach. „Ach na – gnä’ Herr! Wann sölles Fräulein“ – sie wies nach oben, zum Damenzimmer – „doch gleich ins Bett will ...“
„Sölles Fräulein?“ – Er trat erschrocken zurück. „Was für ein Fräulein?“
Die vorhin gekommen sei – berichtete die Veronika. Übern Gletscher vom Törlijoch herüber und unten am See vorbei. Und Kleider und Wäsche zum Wechseln habe sie nicht mit. Und ihr ganzes Zeug sei patschnass vom Hinfallen in den Schnee, weil sie keine Nägel an den Schuhen gehabt habe.
Patschnass! bestätigte die Köchin, die mit einem grossen Bündel überm Arm erschien. Die sei die Rechte für einen Berg! Ein langes Stadtkleid habe sie, und ganz dünne Handschuhe, und ein kleines Hütchen.
„Gerad’ wie die Herrschaften in Meran auf der Promenad’ umeinanderlaufen!“ bestätigte die weitgereiste Veronika.
Immer stärker wuchs eine Ahnung in Martin Siebenpfeiffers Brust, und sein Herz begann zu hämmern. Aber noch hielt er an sich. „Ach so?“ forschte er vorsichtig. „Ist’s nicht eine kleine Dame, ewas dick, in mittleren Jahren?“
„Die is jünger und sauberer wie du!“ sagte treuherzig, die Treppe herabsteigend, ein mit einem Kropf behafteter, grauhaariger und beinahe zahnloser Tiroler und tappte in die Küche.
„Wer ist denn das nun wieder?“ fragte der Martin Siebenpfeiffer beklommen, als würde ihm schwindlig beim Anblick seiner ersten unvermuteten Gäste.
Die drei Mädchen berichteten eifrig zu gleicher Zeit. Das sei „der Kropf“, kurzweg so nach seiner Halszierde genannt, ein einst berühmter, jetzt aber alt und klapperig gewordener Bergführer drüben aus dem Haidental. Den habe das Fräulein dort, wie sie ging und stand, angeworben und sich von ihm dann auch glücklich ohne Unfall – gelobt sei Jesus, Maria und Joseph – über den Gletscher hierherbringen lassen. Nur fort – habe sie gesagt – irgendwohin, wo niemand sie vermute. Und da habe der Kropf eben an die Törlihütte gedacht.
Martin Siebenpfeiffer hörte die letzten Worte gar nicht mehr. Von einer inneren Gewalt getrieben, stieg er langsam wie ein Nachtwandler die Treppe hinan und stand, er wusste selbst nicht wie, vor dem Damenzimmer, von dessen oberem Türbalken ihm bei Schein des Flurlämpchens seine eigene, in grossen Zügen angekreidete Warnung vor dem Eintritt entgegendräute.
Selbstverständlich! Nicht in Gedanken wagte er es, sich der verhängnisvollen Türe zu nahen, die die Mirzl heute nachmittag im Schweisse ihres Angesichts heraufgeschleppt hatte. Und dennoch bewegte sich auf einmal, wie seinem Willen folgend, von innen die Klinke. Ein Spalt der Türe öffnete sich – in ihm erschien ein weisser Arm und setzte behutsam zwei spiegelndschwarze Dinger auf den sandbestreuten Boden. Dann verschwand er wieder, die Pforte schloss sich, der Schlüssel knarrte und alles war still.
Nur die beiden schwarzen Dinger blieben und schienen sich inmitten der Lake von Schneewasser, die sich sofort um sie verbreitete, neugierig umzuschauen. Und das war begreiflich. Denn es war sicher das erste und letzte Mal, dass ein Paar Lackstiefel den Boden der Törlihütte berührten ...
Zwei elegante Lackschuhe. Der Blick Martin Siebenpfeiffers hing gebannt an ihnen, und er nieste ein paarmal heftig, teils des Schnupfens wegen, teils aus nervöser Erregung.
Jetzt war ja kein Zweifel mehr. Was Ulrich Schneevogt vergeblich unten in den Tälern suchte, hielt sich hier oben vor ihm versteckt! Wie, warum und auf wie lange – das waren freilich düstere Rätsel.
Rätsel für den Vater der Törlihütte, in der sich schon am ersten Abend, noch vor ihrer offiziellen Einweihung, eine Katastrophe anzubahnen schien. Ganz betäubt stieg Martin