Verliebte Ferienreise. Alfred Hein

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Verliebte Ferienreise - Alfred Hein


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wollte zur Mutter zurück. Herr Siegmund Kobenzl machte dauernd Organstudien: ›Babylonische Turmbauspitzengesellschaft — babylonische Turmbauspitzengesellschaft.‹ Indessen rüstete Junghilde alles für die Aufführung. Das goldene Vlies war ein Bettvorleger. Die Zaubertruhe wurde durch eine Seifenkiste dargestellt. Der Opferbecher gehörte einem Ruderklub.«

      Ich nahm einen langen Schluck aus meinem Glas voll Buttermilch.

      »Weiter!« flüsterte Fräulein Nöhl. »Jetzt kommt‘s sicher.«

      »Was?« fragte ich spitzbübisch. »Ach, es ist so harmlos, beileibe keine Liebestragödie. Für die große Szene des Jasons brauchten wir einige Kinder. Diese Kinder! Fluch und Dank ihnen zugleich! Vor allem Ännchen Sebald, dieser – na ja. Der Abend kam, fünfundsechzig Zuschauer saßen im Saal, denn draußen lachte noch die Junisonne. Die Sache ging los. Ich spielte den Jason. Ich, Christoph von Stolzenhagen, wie mein Künstlername lautete. Alles verlief ganz gut, bis die Kinder auf die Bühne kamen, die mich umringen sollten. Natürlich war jedes Wort, das der Dichter den Kinderrollen vorschrieb, gestrichen. Sie hatten jedes einen Bonbon im Mund, damit sie stille wären. Manche trugen nichtsdestotrotz sittsam den Finger in der Nase. Nun, schließlich werden die kleinen Griechen zu ihrer Zeit diesen Brauch auch gekannt haben. Im Faltenwurf ihrer hellenischen Gewänder popelten und lutschten sie also um die Wette, während aus meinem Munde rollende, grollende Verse erschollen.«

      »Das hätte ich Ihnen nie und nimmer zugetraut«, sagte Fräulein Hommel. Selbst die immer so merkwürdig melancholische Frau von Lähn schmunzelte vor sich hin.

      »Als ich mich gerade zur höchsten Höhe meiner mehr hohl als wohltönenden Rhetorik emporschwang, da geschah‘s. Das Ännchen, ja, das Ännchen Sebald! Sieben Jahre war es alt und vermasselte mir die ganze Tour. Das Ännchen nahm den Finger aus der Nase, den Bonbon aus dem Mund, trat hervor aus dem Chor der Griechenkinder und sprach mit laut meine Stimme übertönender Offenherzigkeit, mich an meinem Purpur zupfend: ›Du Onkel, ich muß mal!‹ «

      Für fünf Minuten stellte ich mit dieser Pointe den kurhäuslichen Filmschauspieler bei allen Tannhäusel-Insassen in den Schatten. Die Wirtsleute standen lauschend in der Tür zum Speisezimmer, auch sie hatte das Gelächter angelockt.

      »Und weiter!« prustete Herr Kretschmer.

      »Diese Medea-Aufführung ward keine Tragödie, wenigstens nicht für die Zuschauer, die nun das Lachen nicht mehr ließen, so wie Sie jetzt. Für mich damals wurde es eine Tragödie, ach ja. Ich begrub meiner Jugend schönsten Traum. Das Ännchen wurde zwar sofort nach seinem peinlichen Ausruf von einer im Chor mitwirkenden Buchbindersfrau hinter die Kulissen geführt. Doch ich mußte immer wieder daran denken, ich sprach meine Verse schlechter und schlechter und war alles andere als Jason, der Held. Das Publikum schrie von jetzt an jedesmal, wenn ich die Szene betrat: Wo ist das Ännchen? Ännchen Sebald! Ännchen, sag doch wieder: Du Onkel, ich muß mal!«

      Die Tafelrunde lachte aus vollem Halse, genau wie damals die höhnenden Zuschauer. Aber diesmal lachte ich selbst mit.

      IV

      Wieviele Seelen wohnen doch in einer Brust! Auch ich wandle mich wie ein Chamäleon. Der »charmante Causeur«, den ich eben am Mittagstisch spielte, wird zum »Bruder der Bäume und Blumen«. Mit franziskanischer Armut trage ich diese neue Seele durch die Natur und habe acht, daß sie nicht franziskanische Anmut wird. Wir sind ja so eitel, am meisten, wenn wir ganz allein sind. Es ist erstaunlich, wieviel Gutes und Besonderes man von sich selber glaubt. Daß niemand »so« die Welt anschaut wie dies geliebte Ich, daß niemand »so« zu lieben versteht wie dies geradezu himmelswürdige Ich. Es tut wohl, sich selbst zu loben, und man lobte sich weniger, täten es die Mitmenschen mehr. So ist es ein Notbehelf der Seele. Eigenlob hat nur seine sprichwörtliche Eigenschaft, wenn man‘s laut ausspricht. Würden alle die leisen inneren Stimmen, die sich stündlich selber loben, plötzlich vernehmbar, die Menschheit erstickte an diesem Eigenlob, zu dem ich in diesen Augenblicken des Alleinseins, da ich durch das schöne Schmelztal und meine »schöne Seele« lustwandle, Erkleckliches beitrage.

      Langsam aber mahnte mein besseres Ich: Schweige endlich, damit die Natur reden kann. Ich schweige und lasse sie sprechen. Dichter schildern herrlich die Natur. Aber einzigartig bannte Matthias Claudius die Schönheit des Waldes in seinen Worten: »Der Wald steht schwarz und schweiget«. So volksliedhaft schön ist es in diesen Minuten, da ich »über alle Wälder erhaben« ins Heimatland hinunterschaue.

      Die ewige Überfülle des Lebens, die sich in jedem Stück Vollnatur zusammendrängt, diese Fülle der Schöpfung, die den Tannen das Gereckte und noch den Grashalmen das Stahlbiegsame gibt, durchdringt auch mich. Zu neuer Verwandlung gezwungen, schreite ich aus wie ein rüstiger Wanderer, die Muskeln lockern sich, und die Gelenke federn.

      Das Vergangene war schön. Das Zukünftige droht nicht. Die Gegenwart ist von einer schwebenden Leichtigkeit erfüllt, die den schmerz- und sorgenfreien Augenblick kennzeichnet.

      Mohn lodert aus reifenden Haferfeldern, und Schwalben schweben darüber. Ein Festtag der Erde ist angebrochen. Wäre ich jetzt in der großen Stadt, ich wüßte nichts von all dem, was ich hier sehen darf. Und ich spreche ein kleines Gebet für alle, die jetzt in den großen Städten diesen Festtag versäumen müssen. Und wieder spricht Mörike zu mir: »Herr, schicke, was du willt, ein Liebes oder Leides, ich bin vergnügt, daß beides aus deinen Händen quillt«. Ich glaube, daß es eine Magie der geistigen Begegnungen gibt, sie sind wichtiger als die wirklichen. Denn die Toten leben lebendiger als wir, weil ihre Seelen endlich immer die Muße haben dürfen, ganz sie selbst zu sein.

      Und eines zeigen Totenbegegnungen noch an: die Zeitlosigkeit des Augenblicks, den man gerade durchlebt, wenn alles, Geschichte, die man kennt, Erde, die man gesehen und nicht gesehen, Gestirne, die man ahnt, und Gott selbst eins werden in uns. Plötzlich ist alles der Seele gegenwärtig, so wie zerstreutes Licht in einem Prisma eingefangen. So leben die Toten immer. Und vielleicht werden auch die Menschen der Zukunft »ohne Zeit und Raum« in solchem zeitlosen Allumfassen leben können. Wie die Tropfen des Meeres bald in dieser, bald in jener Welle, jetzt da und dort, nun oben auf dem brandenden Wogenkamm, dann wieder unten in den Zehntausendmetertiefen sind, gleichzeitig aber das ganze Meer in sich und um sich spüren, so werden die Menschen auch eines Tages leben, so meertropfenhaft gleichzeitig im ganzen Meer. Man wird nur noch Gezeiten spüren, aber keinen Zeitenablauf mehr, und man wird eines wissen: die gleichen Wogen kehren immer wieder.

      Die Zeit hat der Mensch erfunden. Die ewige Wirklichkeit ist der Raum, der wandert und im Wandern sich verändert. Ich halte den Gedanken, innerlich triumphierend, eine Weile fest, als hinge mein Herz wie der Polarstern mitten im Himmel. Aber dann purzele ich zur Erde, und meine Gedanken beginnen wieder menschlich zu irren.

      Gedankenlos ziehe ich jetzt die stillen Waldwege dahin, die den Vögeln gehören. Sie sind nur die Ahnung ihrer selbst und singen so beglückt. Sie sind noch nicht »ins Leben entlassen«. Zu ihnen sagte Gott noch nicht das grausame Wort: »Sei ein Ich!«

      Aber in dieser wanderfrohen Stunde ist mir kaum anders als den Vögeln zumute. Ein besonnter Weg liegt offen vor mir, und ich beschreite ihn. Nur dies geschieht. Es ist beglückend viel.

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