Du bist es vielleicht. Felix Scharlau

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Du bist es vielleicht - Felix Scharlau


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kommen können, die Aufnahmen ins Netz zu stellen? Timo Tripke war Lehrer. Sein Job war eine ernste Sache. Um ihn herum nur Zerbrechliches, das bei jeder Bewegung kaputtgehen konnte. Und dann wäre es seine Schuld. Und da sollte das einzige öffentliche Zeugnis seiner jahrelangen, mühevollen Arbeit ein Slapstick-Auftritt im Internet sein? Er hatte nicht wenig Lust, Levi dafür schon wieder eine aufs Maul zu hauen.

      Zwei Tage tigerte er jetzt schon krankgeschrieben durch das skelettöse Haus. Noch immer hatte er sich keine Strategie zurechtgelegt oder auch nur eine vage Idee, was als Nächstes passieren würde. Ihm fehlte völlig die Erfahrung mit Disziplinarverfahren. Und mit Konflikten im Allgemeinen.

      Damit war er am Riesenhuber ziemlich alleine. Das Gymnasium galt als Abstellgleis des Bundeslandes. Hier begannen die Lehrer entweder als Referendare, so wie er damals. Oder sie landeten dort als gestandene Lehrkräfte, die irgendwann sehr spontan aus »persönlichen Gründen« in die Gegend gezogen waren. Jene, denen das passiert war, redeten auffallend selten, und wenn, dann sehr widersprüchlich, über ihre alte Stelle.

      Selbst über Oberstudiendirektor Hanns-Jochen Steiner gab es unauslöschliche Gerüchte über eine Zwangsversetzung. Angeblich etwas Sexuelles.

      Blöd nur, dass Tripke ihn schlecht um Tipps in einer solchen Situation bitten konnte. Steiner war sein Feind. Mehr als zuvor. Und wer wie Steiner schon mal Schuld auf sich geladen hatte, wurde zum gnadenlosen Richter, zum Moralisten auf Lebenszeit. Kannte man ja von pädophilen Pastoren.

      Tripke hatte keine Ahnung, was jetzt passieren mochte. Also ging er, wie es seine Art war, zunächst vom Schlimmsten aus. Damit lag man selten falsch. Und wenn, dann gab es eben etwas zu feiern. Rausschmiss, Verlust des Beamtenstatus, Suche nach einem anderen Job. Das konnte er sich in etwa vorstellen.

      Nichts davon würde einfach werden. So viel war klar. Durch den stetigen Geldfluss hatte er sich in den vergangenen Jahren so wenig für seine Finanzen interessiert, dass er nicht wusste, wo er stand. Wer zahlte zurzeit die Miete für das Haus? Und wollte Bernadette in nächster Zeit vielleicht wieder nach Holden, in ihr Domizil, zurück? Musste er sich etwa bald etwas Neues suchen?

      Die Last des Ungeklärten wog so sehr, dass Tripke als Übersprungshandlung in der Küche auch den linken Rollladen herunterließ. Besser. Er schaltete das Licht an und setzte sich an den Küchentisch. Irgendwo musste er anfangen, irgendetwas zu klären.

      Am aufgeklappten Laptop begann er, das Ausmaß des ihm widerfahrenen Persönlichkeitsmissbrauchs zu recherchieren. Bald hatte er das Video von sich und seinem Kreis wiedergefunden. Es hatte nicht mehr 1,5 Millionen Abrufe wie noch vor zwei Tagen auf Levis Handy.

      Jetzt waren es 2.228.301.

      Er las sich einige der 1.382 User-Kommentare darunter durch. Viele verstand er nicht. Sie waren in Russisch, Arabisch, Portugiesisch und weiteren Sprachen verfasst. Die meisten auf Englisch oder Deutsch verstand er aber auch nicht. Offenbar wurde hier eine Art Sprachcode oder Humor bedient, der mit Querverweisen arbeitete, die er nicht kannte. Etwas für Internetfachleute.

      Einen Kommentar, sehr weit oben, verstand er allerdings. Das Posting stammte von letztem Samstag, 14:23 Uhr. Fünf Tage alt. Der Beitrag war vielfach geliket worden von anderen Nutzern.

      FuckFortnite hatte geschrieben:

      »LOL my old historx teacher. herr tripke from konrad-zuse-gymnasium heiligenstedt in germany!«

      Katastrophe.

      Timo Tripke navigierte sich mit hochrotem Kopf weiter durch das Internet. Er fand das Video auch noch auf anderen Plattformen in unterschiedlichsten Fassungen. Mit Texteinblendungen, mit Farbveränderungen. Sogar mit eingebauten Smileys, die aussahen wie Edvard Munchs »Der Schrei«. Oder wie hießen die Dinger noch mal? Emoticons? Emojis?

      Als Nächstes klickte er in der Internetsuche oben auf die News-Sektion. Aha, ohje. Stern.de hatte online etwas über das Video gebracht. Es war in einem kleinen Artikel eingebunden. Darunter standen drei Sätze, die den Inhalt des Videos paraphrasierten und aufbauschten. Inklusive zweier Kommafehler. Bei Spiegel Online und gmx.de gab es ähnliche, völlig hirnlose Meldungen.

      Levi Eismann hatte die Pforten zur Hölle weit aufgestoßen. Doch vermutlich hielt er sie immer noch für eine Gartenlaube, in die jemand einen leckeren Kasten Bier für ihn hineingestellt hatte.

      Timo Tripke wollte gerade die Rollläden im Wohnzimmer herunterlassen, mehr war im Erdgeschoss wirklich nicht mehr übrig, als es an der Haustür klingelte.

      Kurz keimte die Hoffnung auf einen irren Zufall, in dem Christiane-Christine von gegenüber mitspielte. Irre Zufälle, um nichts anderes handelte es sich ja bei den Anfängen von Pornofilmen. Aber nur weil etwas nicht wahrscheinlich war, hieß das nicht, dass es nicht hin und wieder genau so passierte.

      »Guten Tag, Herr Nachbar, ach, schön, dass Sie an einem Werktag zu Hause sind. Sagen Sie, könnten Sie mir wohl eine Tasse Mehl leihen? Selbstverständlich komme ich gerne mit hinein, ach, Sie haben es aber heiß hier, ist die Heizung kaputt? Wissen Sie was? Ich ziehe mir einfach mal etwas aus und mache es mir auf Ihrer Couch bequem. Ausziehen – ich weiß, Ihnen gefällt das. Jetzt gucken Sie nicht peinlich berührt, Herr Tripke. Ist doch nicht schlimm! Natürlich habe ich Sie am Fenster gesehen. Schon am ersten Abend … ach, komm, zier dich nicht. Du hättest doch sofort stutzig werden müssen, weil ich gar keine Tasse für das Mehl mitgebracht habe …«

      Es klingelte wieder. Timo Tripke schämte sich für das schlechteste Drehbuch der Welt. Leise schlich er durch den Flur und linste durch den Türspion.

      Draußen stand keine geschminkte Christiane-Christine im Bademantel und ohne Tasse für das Mehl. Da stand ein schlaksiger junger Mann mit einem großen Rucksack auf dem Rücken. Die blonde Gel-Frisur wirkte wie etwas, das man in einer Konditorei kaufen konnte. Sein T-Shirt zierten seltsame Applikationen und viele Farben, die nicht zusammenpassten.

      Eine sportive Vogelscheuche wollte ihn sprechen. Tripke hatte sie noch nie gesehen. Es klingelte wieder. Und noch mal. Timo Tripke wusste nicht, wieso. Aber er öffnete.

      »Herr Tripke!« Vogelscheuche klang ganz begeistert. »Ich bin Mick! Mick Breuer von HS-TV!«

      »Von was?«

      »HS-TV! Ihr Sender für Heiligenstedt. Sie kennen doch sicher unseren Slogan: ›Das F in HS-TV steht für Fun!‹.«

      »Was wollen Sie?«

      »Ich hatte bereits das Vergnügen, mit dem lieben Herrn Steiner zu reden, wir würden gern …«

      »Sie haben was?«

      »Herr Steiner. Direktor Ihrer Schule. Richtig? Er sagte, Sie wären leider krank. Aber ich dachte, ich schaue trotzdem mal bei Ihnen rein. Hoffe, es ist nichts Schlimmes?«

      »Was wollen Sie?«

      Timo Tripke verstand immer noch nicht, worauf das hier hinauslaufen würde.

      »Ich betreue das Format ›HS-Helden‹. Heiligenstedter Helden. Und da würde ich wahnsinnig gerne was zu ihrem tollen Erfolg im Netz machen. Ihr Kreis, verstehen Sie? Da haben Sie doch sicher lange für geübt, was? Gerne würde ich Sie bei uns im Studio begrü…«

      Timo Tripke holte aus, im Begriff, dem Rasenden Mick die Tür vor der Nase zuzuknallen. Doch der war gestählt aus dem Lokalreporter-Bootcamp hervorgegangen. Vogelscheuche kriegte rechtzeitig den Tennisschuh zwischen Tür und Rahmen. Ein Stück Papier segelte durch den kleinen Spalt, bevor Timo es endlich mit aller Kraft schaffte, die Tür ins Schloss zu drücken.

      »Herr Tripke, nun haben Sie sich doch nicht so!«, beschwor Mick dumpf durch das Eichenholz. »Das sicher wird lustig. Flamingo Bianco war neulich auch bei uns! Rufen Sie mich bitte, bitte an, wenn Sie es sich anders überlegen.«

      Bald hörte Timo Tripke, wie sich eine Vespa entfernte. Eine wunderbare Stille bemächtigte sich wieder des Hauses.

      Gerne hätte Tripke jetzt mit Ben gesprochen. Ben hatte die Welt immer schärfer gesehen als er, analytischer. Als Kind war er schüchtern und verletzlich gewesen. Doch längst hatte sein Bruder ihn überflügelt. Ben hatte ausprobiert. Grenzen erprobt,


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