Du bist es vielleicht. Felix Scharlau

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Du bist es vielleicht - Felix Scharlau


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stand sie vor ihrem Bett, starrte auf den Boden und zeigte Timo bewegungslos ihre leicht unterschiedlich großen Brüste. Timo Tripke speicherte und speicherte, bis er Kopfschmerzen bekam.

      Wusste sie vielleicht die ganze Zeit, dass er da war, und fand es, er kramte tief in sich drin nach dem Wort, womöglich »geil«, beobachtet zu werden? Bei dem Gedanken spürte Tripke kurz etwas im Schritt. Dann war es aber auch schon wieder weg.

      Natürlich wusste sie nichts von ihm. Alles nur Zufall. Und wenn sie ihn gesehen hätte, würde der Anblick des verformten Stelzbocks von nebenan, der neuerdings sehr viel in seinem ungenutzten Garten rauchte, in ihrem Kopf wohl eher die 110 heraufbeschwören. Keine holzschnittartigen Sex-Stellungen, wie man sie aus Erwachsenenfilmen kannte.

      Timo Tripke schämte sich endgültig im Angesicht solcher aufgegeilten Hirngespinste. Das war nicht er. Das hier war einfach nicht er selbst.

      Er stellte das Fernglas in das leergeräumte Bücherregal zurück. Dann zog er die Jogginghose über sein schlaffes Glied und verließ den Raum. In seinem eigenen Arbeitszimmer angekommen überlegte er, ob er eine seiner alten Schulkassetten anhören sollte. Einfach so. Sich von einem zehn Jahre jüngeren Selbst die Welt erklären lassen. War er dafür heute in Holden geblieben, anstatt direkt nach der Schule am Heiligenstedter Südkreisel die zweite Abfahrt zum Hausboot zu nehmen? Nur, um sich selbst beim Reden zuzuhören?

      Warum eigentlich nicht? Es gab noch eine Menge Wochenenden, an denen er etwas anderes tun konnte. Ein gutes mehr, ein gutes weniger – egal. Bernadette war weg. Die Tanzabende, Theater- und Restaurantbesuche, die er nicht mit ihr hatte erleben wollen, hatten ihr offenbar nicht gereicht. Über Freunde, selbst Bekannte verfügte er praktisch nicht mehr. Seine ehemaligen Lehramtskommilitonen lebten Leben, die nicht mehr nach ihm verlangten. Partner, Kinder, Hunde, Hobbys, Pläne, das war so weit weg wie ein anderes Leben eben weg war. Doch Timo Tripke fühlte sich okay. Vielleicht okayer als jemals zuvor.

      Bei gleißender Außenbeleuchtung rauchte er demonstrativ lange auf der Terrasse. Dabei gab er sich betont normal. Christiane-Christines schimmerndes Schlafzimmerfenster in der Ferne sollte wissen, dass hier nichts Ungewöhnliches passierte. Nur ein in sich ruhender, rauchender Mann mit verbogenem Kopf, der sein halbes Leben noch vor sich hatte.

      Keine besonderen Vorkommnisse in Akazienweg 9.

      

      Montag, auf dem Parkplatz des Riesenhubers, strahlte Timo Tripkes Laune noch immer. Ganz im Gegensatz zur Sonne. Schon frühmorgens hatte sich der Himmel ungewöhnlich stark verfinstert. Bald würde es schütten wie aus Kübeln.

      Wie egal Tripke das schlechte Wetter war. Er hatte einen Lauf, dass es langsam unheimlich wurde. Erst der perfekte Kreis vor zwei Monaten. Gefolgt von ungewohnter, fast blinder Bewunderung durch die Schüler. Und nur wenige Stunden danach der Fund von Bernadettes hastig gekritzelter Note.

      Timo Tripke war zuvor noch nie mit einem Abschiedsbrief bedacht worden. Aber der hier kam ihm vor wie einem von Bernadettes Fernsehspielen entsprungen.

      Sie schilderte darin »versäumte Chancen«. Sprach von einer »schrecklichen Leere« in ihr. Ob Timo sie nicht auch »spüre«. »Tiefe Trauer« empfinde sie, dass »alles« nicht mehr »klappte«. Es kämen für beide aber bestimmt wieder »bessere Zeiten«.

      Er gab Deutsch. In der Theorie kannte er diesen sentimentalen Quark. Und er würde ihn erwidern, wenn er ihn nur empfinden könnte. Bedauern, Trauer, Aufbruch, carpe diem. Shakespeare.

      Abgang Bernadette in schwesterliche Wohnung.

      Vorhang.

      Ihre Beziehung war schon lange kaputt gewesen, das wurde ihm langsam klar. Zum ersten Mal war ihm die Kluft zwischen ihnen vor drei Jahren aufgefallen. An Opas 90. Geburtstag, seinem letzten, war sie zunächst distanziert und später heillos betrunken. Timo war es peinlich gewesen vor Opa. Schon die dritte Tripke-Generation infolge, die den Anschein machte, nicht in der Lage zu sein, eine normale Ehe zu führen. Dabei war er doch anders. Das hatte er damals zumindest noch geglaubt.

      Tripke grübelte manchmal, ob Walter sechs Wochen später, bevor er auf die Planken knallte, an ihn und Bernadette zurückgedacht haben mochte. Der letzte Abend, an dem seine Familie, zumindest der spärliche Rest, der noch übrig war, ein letztes Mal für ihn zusammengekommen war. Timo Tripke graute es bei der Vorstellung.

      Von Bernadette hatte er nie erfahren, warum sie sich so benommen hatte. Und er hatte nie gefragt, was vermutlich nicht besser war. Vielleicht war ihr an diesem Abend bewusst geworden, dass sie weit weg sein wollte, wenn Timo so alt war wie sein Opa. Den Gedanken konnte er ihr nicht ganz übel nehmen. Obwohl er wehtat.

      Es schien besser für beide, dass sie gegangen war. Die Trauer, die er trotzdem spürte, war bestimmt nur eine Art nostalgischer Reflex. So wie man alle paar Jahre neugierig ausprobierte, ob der Videorekorder noch funktionierte, obwohl man gar nicht vorhatte, etwas damit zu schauen.

      Ihm ging es gut. Ach, was. Bei Timo Tripke lief es wie geschmiert. Plötzlich spross in ihm sogar die Lust auf Veränderungen. Zaghafte Ideen wurden zu konkreteren Überlegungen darüber, was er jenseits seiner stabilen Alltagsroutine heraus Neues probieren könnte.

      Eine verrückte Reise vielleicht? Transsylvanien!

      Ein ungewöhnliches Hobby? Geofishing oder wie diese Schatzsuche hieß!

      Eine neue Liebschaft? Noch nicht verfügbar!

      Oder doch? Sollte er beim Reinkommen gleich Sherlock fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte? Nur so zur Übung? Immerhin mochte er sie. Oder zumindest das, was er als ihren Charakter erahnte.

      Schnell verwarf er den Gedanken wieder. Von Frauen hatte er erst einmal genug.

      Gestern Abend, nach seiner Rückkehr aus Kreuzthal, hatte er das Spanner-Fernglas im Keller verstaut und die Vorhänge in Bernadettes Arbeitszimmer geschlossen.

      Er schämte sich. Fraglich, ob er beim nächsten Straßenfest am Wendehammer auch nur ein Wort an Christiane-Christine würde richten können.

      Zudem besaß er nicht genug Material für einen Smalltalk. Was er hatte, war: »Liebe Christiane-Christine, ich weiß nicht viel über Sie, zum Beispiel nicht mal Ihren richtigen Namen, wie Sie sehen, aber ich möchte Ihnen herzlich zu ihren wundervollen, unterschiedlich großen Brüsten gratulieren«.

      Sherlock saß da, wo sie morgens immer saß. Wieder erwiderte sie Tripkes Gruß nicht. So viel zum nächsten Date. Tripke bog um die Ecke und schlurfte auf dem braunen Industrieteppich mit den Plastikschamhaar-Fasern in Richtung Lehrerzimmer.

      Tür zum Kopierraum: geschlossen.

      Tür zur Putzkammer: geschlossen.

      Tür zum Vorzimmer des Schulleiters: geöffnet.

      Mist.

      Tripke verlagerte sein Gewicht etwas auf die Zehenspitzen, nicht so, dass es auffiel, sollte ihn jemand beobachten, aber doch so, dass man seine Schritte weniger hörte, und versuchte gleichzeitig schneller zu gehen. Oberstudiendirektor Hanns-Jochen Steiner stand mit dem Rücken zur geöffneten Flurtür. Energisch redete er auf seine Sekretärin ein. Offenbar war ihm nicht entgangen, dass sie eine zeitsparende Tastaturkombination bei einer Tabellenkalkulation noch immer nicht anwandte, sondern weiter mit der Computermaus einen umständlicheren Bedienungsweg wählte.

      »Nicht mit der Maus! Steuerung, Shift, p! Nein, Hände weg von der Maus!«

      Perfektion als Manie, da war sie wieder. Noch so ein Idiot.

      »Nicht mit der Maus!«

      Als er den Gefahrenkorridor hinter sich gelassen hatte, normalisierten sich Tripkes Schritte wieder. Glück gehabt.

      Am Lehrerzimmer tippte er den vierstelligen Code ein, öffnete und nickte denen zu, die sich heute die Parkplätze weiter vorne geschnappt hatten. Endlich, auf Tripkes Stuhl lag das vermisste Paket mit englischsprachigen Teenagerzeitschriften, die er


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