Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend. Rudolf Stratz

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Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend - Rudolf Stratz


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Hand über die Augen. Er kam aus seinem Höhenrausch zu sich. Sein frisches, erhitztes Antlitz wurde sehr feierlich.

      „So gehen wir denn ins Leben hinaus!“ sprach er laut durch das Rücken der Stühle, das Zahlen und Mäntelanziehen. „Wir treten hinaus in die Nacht. Sie steht da draussen dunkel vor uns wie die Zukunft. Aber am Himmel oben funkeln alle Sterne und weisen uns den Weg! Hände her, Jungens! Bisher haben wir geochst! Jetzt wollen wir die zwei grossen Dinge im Leben üben: Wir wollen kämpfen und küssen! Lebt wohl! Lebt wohl!“

      „Und du, Philippche!“ Er schob seinen Arm unter den des Frankfurters. „Trott’ jetzt nicht so geschäftig nach deiner Bude, als gingst du schon auf die Börs’! Ich kann noch nicht heim! Ich bin zu erregt. Wir wollen noch einen Mondscheinbummel durch das Städtchen machen!“

      Das Philippche warf einen geringschätzigen Blick auf die grauen Rathausbogen und das mittelalterliche Holzwerk der Hirschapotheke, an denen in nächtlicher Stille ihre Schritte widerhallten.

      „Adje, Giessen! Mir ist mies vor dir!“ sprach er. „Das war schon ’ne Fastnachtsidee von meinem Baba, dass er mich für das letzte Jahr hierher aufs Gymnasium getan hat, damit ich nicht zu frühzeitig in Frankfurt auf der Zeil verdorbe werd’! Etsch! Ich bin grad verdorbe!“

      „Ach, Philippche! Du tust ja nur so!“

      „Aber vielleicht hat der Baba in seiner Ei’falt recht gehabt, und es wär’ mit mir in Frankfurt noch ärger geworde! Ich bin doch so e junger Lebemann . . .!“

      „Ein junger Mann fürs Leben soll man sein!“

      Ernst Wachsmuth bog im Sturmschritt mit dem Freund um die Ecke nach dem Neustädter Tor zu. Er hatte sich die Mütze von dem dunkeln Wirrkopf gerissen und liess sich die erhitzte Stirne vom Nachtwind kühlen.

      „Ach, Philippche! Das Leben! Das Leben! Jetzt liegt’s vor einem! Man möcht’ es mit den Armen fassen! Man möcht’s an sich reissen! Endlich ist man frei.“

      Ernst Wachsmuth stand, draussen vor der Stadt, mit dem Philippche auf der Brücke. Unten glitzerte im Mondschein das spärliche Wasser der Lahn. Er schaute tiefsinnig hinab.

      „Ich will viel vom Leben!“ sprach er. „Sieh . . . hier sind wir fast auf freiem Feld — unter Gottes reinem Himmel . . .“

      „Ich will jetzt heim! Mich schläfert’s!“

      „Philister! . . und um uns die dunkle kühle Nacht — und in einem ein Gefühl . . . ein Vorgefühl . . . weisst du, Philippche . . . Wir haben ja alle noch nichts mit den Frauen erlebt — du auch nicht, wenn du dich auch als einen ruchlosen kleinen Frankfurter Weltstädter drapierst . . . Aber jetzt, wo wir erwachsen sind — jetzt entschleiert sich uns das Bild von Saïs — vielleicht bald! Da, sieh mal, da — da . . .!“

      Aus dem weisslichen Geflimmer der Milchstrasse hoch oben schoss eine Sternschnuppe märchenhaft, in leuchtendem Bogen, blitzschnell über den ganzen Himmel und fuhr irgendwo, fern, ein Gast aus anderen Welten, auf die dunkle Erde nieder. Der Ernst folgte mit verzückten Augen dem Meteor.

      „Das ist ein Zeichen von oben!“ sprach er andächtig. „Philippche — ich glaub’, ich werd’ bald etwas Grosses erleben! Ich ahne, wie die Frau gewaltig, sieghaft in mein Leben tritt! Schau’: da oben steht, heller als alles umher, die Venus . . .“

      „. . . . und dort drüwe steht e Latern’ und weist mir den Weg in meine Wohnung! . . Ich fahr’ morge früh nach Frankfurt heim! Am Nachmittag ist Rennen in Niederrad! Da könnt’st du mich in meinem ganzen Glanz bewundere! Ich glaub’, ich werd’ ’n argen Sükzess haben! Die ganze Haute-Volée ist da! Alle meine Frankfurter Verwandten! Mei’ Schwester, das Dorettche, kommt naus! Und Bäsche, die Schweremeng’! E ganzer Geflügelhof!“

      „Und ich darf daheim Familie simpeln!“ sprach der andere erbittert.

      ,,Stuss!“ Das Philippche lächelte nachlässig und überlegen. „Komm doch ei’fach mit mir n’über nach Frankfurt! Ob ich dich wirklich mitnehm’? Was e dumm’ Frag’! Du bist doch mein Freund! Lass du dich ruhig morgen nachmittag von denne Frankfurter Mäderche begucke! Du schaust gar nicht so üwel aus! Ich wollt’, ich täť so e Figur mache wie du!

      Also morge sind wir Kavaliere!“ Das Philippche langte vor seiner Wohnung an der Johanniskirche den Hausschlüssel aus dem Hosensack. „Zieh dich nor nobel an! Wir müsse als junge Swells auftrete! Gib dir was recht Blasiertes — Verstehst? . . . Die Frankfurter sind abgebrühte Leuť . . . So was nachlässig Ungeniertes! So e kleiner Klubmann! . . . Mach’ mir’s nach . . .“

      „Ich dank’ dir, Philippche!“

      „Kei’ Ursach’! Sela! Streusand drauf! Das gibt e Hauptkiwick! Morgen früh um 10 komm’ ich an’s Selterstor und hoľ dich ab!“

      Am andern Morgen um zehn Uhr lag Ernst Wachsmuth noch im tiefsten Schlaf, unbekümmert um das Wagengerassel der hessischen Marktbauern von der Seltersstrasse her durch das offene Fenster. Über das holperige Pflaster trollte sich eilig, in der vornübergebeugten Haltung des Sportsmanns, das Philippche heran, das flotte Hütchen im Genick, in ganz kurzem, hellem Turf-Paletötchen, mit umgehängtem Krimstecher, wie ein junger Stammgast von Epsom. Vor dem Haus des Professors Wachsmuth hielt ein Dorffuhrwerk, das ihn zu einem Patienten nach auswärts abholen sollte. Einen Augenblick sah das Philippche oben im Flur durch die halboffene Tür den grossen Kliniker selbst stehen, schon in Hut und Mantel, die Kaffeetasse noch in der einen Hand, in der andern einen Stoss Morgenpost, über die sein bärtiges, nervös durchgeistigtes Gesicht sich hastig und ungeduldig beugte. Der kleine Weltmann machte, dass er ungesehen auf dem Gang an dem Vater Wachsmuth vorbeiwitschte, und stiess die Tür zu der Primanerbude auf und beobachtete aus verkniffenem Auge den von Ernst Wachsmuth mit der Schere ausgeschnittenen schwarzen Silhouettenfries von olympischen Göttern und Tieren längs der Deckenkante, die auf die Blümchentapete gehefteten Ölstudien, den tongekneteten kleinen Löwen auf dem Nudelbrett, die mit Kohle und Kreide schraffierten Skizzenblätter, in genialer Unordnung zwischen Hemd und Hosen und Stiefeln. Dann klatschte der kleine Frankfurter ungeduldig in die Hände:

      „Do leiht das Laster und schläft! Uff, du Schinnoos! Guck: Da steigt dein Vater eben unten in die Chaise und fährt davon! Jetzt kannst eschappiere, mei’ Sohn! Los! Die Eisebahn wartet nicht! Und die Peerd’ im Wäldche noch weniger!“

      Auf dem Rennplatz im Frankfurter Stadtwäldchen draussen am linken Mainufer stand die Dorett’, die Schwester des Philippche, inmitten des buntscheckigen, musiküberschmetterten Ameisengewimmels, im Kreise ihres Clans, des Patriziats aus den Taunusanlagen und der Bockenheimer Landstrasse, und ihrer vielen Dutzend Basen und Freundinnen, kleinen Goldfischchen aus dem Main mit schwerer Mitgift wie sie, und ihrer noch zahlreicheren Verehrer in der Neuen Börse drüben und den grossen Handelskontoren an der Zeil und aus den Millionärs-Villen in Wiesbaden und den Kavalleriekasinos ringsum am Main und Neckar und Rhein.

      Ein breitkrempig aufgeschlagener, mit bunten Kunstblumen ausgeputzter Strohhut umrahmte über seidendunklem Löckchengeringel das schwarzäugige hübsche Puppengesichtchen der Dorett’ mit dem kirschroten Kindermund und der kleinen neugierigen Stupsnase. Die Taille presste eng und lang, vorn spitz zulaufend, ihr zartes Persönchen in der Mitte wespengleich zusammen. Weitfaltig bauschte sich darunter in Bändergeflatter und Rüschengeraschel, mit dem Saum gerade den Boden streifend und die kleinen Schuhe halb verdeckend, der Glockenrock aus schleierdünnem, teurem Seidenmusselin. Unter ihrem weissen Spitzenschirm, in weissem Kleidchen auf grünem Rasen sah das Dorettche aus wie ein grosses Stück Zucker, um das massenhaft die bunten . . . und grauen Fliegen der Herrenwelt summten. Sie guckte ihnen allen seelenruhig, mit der Sicherheit der verwöhnten Erbin, ins Gesicht und schwatzte auf gut frankfurtisch, wie ihr der Schnabel gewachsen war, mit zweierlei Tuch und goldener Jugend und hob sich auf den Füsschen und winkte aufgeregt mit der kleinen Hand, als sie ihren Bruder, blasiert, mit den Hängeschultern eines britischen Pferdekenners, die Tribüne entlangtrotten sah.

      Philippche! Komm e mal her! Sie zog den übernächtigen jungen Turfmann beiseite. „Jesses — wie schaust denn du aus, du zahmer Engländer! Ganz geel um die Nas’! Ihr mögt’s schön getriebe


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