Die kleine Fadette. George Sand
Читать онлайн книгу.nicht, denn er hatte nicht einmal den Mut an eine Reihenfolge solcher Tage zu denken, wie sie ihm jetzt auferlegt waren. Er lebte mit seinen Gedanken nur in der Vergangenheit und verzehrte sich in den endlosen Träumereien seiner Sehnsucht.
Es gab Zeiten, wo er sich einbildete seinen Zwillingsbruder leibhaftig vor sich zu sehen und zu hören. Dann plauderte er ganz allein vor sich hin, in der Meinung diesem zu antworten. Manchmal überraschte ihn auch der Schlaf, wo er sich gerade befand, und er träumte von ihm; wenn er dann aber erwachte und sich wieder allein fand, begann er bitterlich zu weinen, und er ließ seinen Tränen um so freieren Lauf, weil er hoffte durch die Ermüdung seinen Schmerz endlich gelindert zu fühlen.
Eines Tages, da er auf seinen Streifereien bis zu der Stelle gelangt war, wo das Schlagholz von Champeaux steht, fand er auf dem Bach, der zur Regenzeit aus dem Gehölz herausfließt, jetzt aber ganz ausgetrocknet war, eine jener kleinen Mühlen wieder auf, wie die Kinder sie in unserer Gegend so geschickt aus Hobelspänen zu machen verstehen, dass sie sich bei der Strömung drehen und sich manchmal lange auf der Oberfläche des Wassers erhalten, bis andere Kinder sie zerbrechen, oder der höhere Wasserstand sie mit fortreißt. Diese, welche Sylvinet wieder aufgefunden hatte, lag hier schon seit mehr als zwei Monaten, und da es eine einsame Stelle war, hatte niemand sie gesehen, noch etwas daran verderben können. Sylvinet erkannte sie sogleich als das Werk seines Zwillingsbruders; beim Anfertigen derselben hatten sie sich vorgenommen wieder hierher zu kommen, um danach zu sehen. Sie hatten aber nicht weiter daran gedacht, und seitdem an anderen Orten viele andere Mühlen gemacht.
Sylvinet war also sehr erfreut sie wieder zu finden, und trug sie etwas weiter hinauf, wohin das Wasser des Baches sich zurückgezogen hatte. Dort wollte er sehen, wie sie sich drehte und dabei an das Vergnügen denken, welches Landry gehabt hatte, als er ihr den ersten Anstoß gab. Dann ließ er sie an der Stelle, wohin er sie getragen und freute sich schon darauf, wenn er am nächsten Sonntag mit Landry wiederkommen würde, um ihm zu zeigen, wie ihre so fest und gut gefügte Mühle sich erhalten habe.
Aber er konnte es sich nicht versagen, schon am folgenden Tag allein dahin zurückzukehren. Das Wasser des Baches war ganz getrübt, und die Ufer desselben zerstampft durch die Füße der Ochsen, welche dort zur Tränke geführt waren, und die man am Morgen zwischen das Schlagholz auf die Weide getrieben hatte. Er trat etwas näher hinzu und sah, dass die Tiere auf seine Mühle getreten und sie so zerstampft hatten, dass nur noch wenig davon zu sehen war. Das Herz wurde ihm schwer darüber, und er bildete sich ein, dass an diesem Tag seinem Bruder irgendein Unglück zustoßen müsse, und er lief bis nach la Priche, um sich zu überzeugen, dass ihm nichts Schlimmes widerfahren sei. Hier aber begnügte er sich damit, seinen Bruder von Weitem zu betrachten, und zwar so, dass er selbst nicht gesehen werden konnte. Er hatte nämlich bemerkt, das es Landry nicht angenehm war, wenn er unter tags kam, weil dieser fürchtete, dass solch eine Störung bei der Arbeit seinen Herrn verdrießen könne. Da er sich geschämt haben würde zu gestehen, von welchen Gedanken gedrängt er herbei geeilt war, kehrte er ohne ein Wort zu verlieren, wieder um; er sprach überhaupt mit niemanden darüber; erst sehr lange Zeit nachher tat er dies.
Da seine Gesichtsfarbe blass wurde, weil er wenig schlief und sozusagen fast gar nichts aß, wurde seine Mutter sehr betrübt, und sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte, um ihn zu trösten. Sie versuchte es, ihn mit sich zu nehmen, wenn sie in den Marktflecken ging, oder sie redete ihm zu, seinen Vater oder seinen Onkel zu begleiten, wenn diese zu den Viehmärkten gingen. Aber er nahm an nichts einen Anteil, und nichts konnte ihn mehr erfreuen. Ohne ihn etwas merken zu lassen, machte sich deshalb Vater Barbeau auf den Weg und versuchte es, den Vater Caillaud zu bereden die Zwillinge beide in seinen Dienst zu nehmen. Dieser aber gab ihm eine Antwort, die er selbst als begründet anerkennen musste.
»Vorausgesetzt«, so ungefähr sprach der alte Caillaud, »ich würde sie eine Zeitlang alle beide in meinen Dienst nehmen, so könnte dies doch nicht von Dauer sein, denn wo man mit einem Diener genug hat, würde es für Leute unseres Schlages nicht gut tun, deren zwei in den Dienst zu nehmen. Wenn das Jahr herum wäre, würdet ihr immerhin wieder genötigt sein, für den einen eurer Zwillinge irgendeinen anderen Dienst zu suchen. Und seht ihr denn nicht ein, dass Sylvinet nicht mehr so viel träumen würde, wenn er in einem Dienst wäre, wo er zur Arbeit gezwungen wäre? Dann würde er es machen wie der andere, der sich tapfer in sein Schicksal gefunden hat. Früher oder später muss es doch so kommen. Ihr werdet ihn vielleicht nicht grade an den Ort hin verdingen können, wie ihr wohl möchtet, und wenn diese beiden Buben noch weiter voneinander entfernt werden, sodass sie sich nur noch jede Woche; oder jeden Monat einmal sehen können, so ist es immer besser sie schon beizeiten daran zu gewöhnen, dass sie nicht immer zusammenhocken können. Seid also vernünftig, lieber Nachbar, und macht nicht so viele Umstände mit den Einbildungen eines Kindes, das von eurer Frau und von euren anderen Kindern etwas zu viel verhätschelt und verzogen wurde. Das Schlimmste ist überwunden, und glaubt nur, dass er sich in das Übrige schon finden wird, sobald ihr nur nicht nachgebt.«
Vater Barbeau ließ sich belehren, und er sah ein, das Sylvinets Sehnsucht nach seinem Zwillingsbruder nur immer mehr zunehmen werde, je häufiger er ihn sehen würde. Er nahm sich deshalb vor, am nächsten Johannistag für Sylvinet einen Dienst zu suchen. Er hoffte, dass dieser, wenn er Landry immer weniger sehen würde, sich schließlich daran gewöhnen werde, wie alle anderen zu leben, und sich nicht mehr von einem Gefühl bewältigen zu lassen, das in ein krankhaftes Verlangen zu entarten drohte.
Aber vor der Mutter Barbeau durfte noch nicht von diesem Plan geredet werden, denn schon bei der ersten Andeutung davon, weinte sie sich halbtot. Sie meinte, Sylvinet könne daran zu Grunde gehen, und der Vater Barbeau wusste sich wirklich nicht mehr zu helfen.
Landry, der von seinem Vater, seinem Herrn und auch von seiner Mutter zu Rate gezogen wurde, unterließ nicht, seinem armen Bruder zuzureden. Sylvinet wusste gegen seine Vorstellungen durchaus nichts einzuwenden, versprach auch alles, konnte sich aber nicht überwinden. Es kam bei seinem Schmerz noch etwas anderes in Betracht, wovon er aber nichts verlauten ließ, weil er auch gar nicht gewusst hätte, wie er es vorbringen sollte. Dies war nämlich, dass im Innersten seines Herzens in Bezug auf Landry eine ebenso heftige wie sonderbare Eifersucht zu keimen begann. Er fühlte sich befriedigt, ja mehr als je zuvor, wenn er sah, wie Landry bei jedermann in Ansehen stand, wie er von seiner Dienstherrschaft so freundschaftlich behandelt wurde, als ob er ein Kind des Hauses sei. Wenn ihn dies nun auf der einen Seite erfreute, so betrübte und kränkte es ihn auf der anderen, sobald er zu bemerken glaubte, dass Landry diese freundschaftlichen Beziehungen zu sehr erwidere. Er konnte es nicht leiden, wenn Landry auf ein Wort des Vaters Caillaud, wie unbestimmt und gelassen es geäußert sein mochte, dem Wunsch desselben zu willfahren, rasch davoneilte, Vater, Mutter und Bruder in solchen Augenblicken bei Seite lassend. Landry war also viel besorgter seiner Dienstpflicht etwas zu vergehen, als er die Anhänglichkeit der Seinigen zu schätzen wusste, und viel pünktlicher im Gehorsam, als Sylvinet dazu im Stande gewesen sein würde, wenn es sich darum gehandelt hätte, einige Augenblicke länger mit jemandem zu verweilen, der ihm mit so treuer Liebe ergeben war.
Der arme Bursche setzte sich jetzt eine neue Grille in den Kopf, an die er zuvor nicht gedacht hatte, nämlich die, dass die Liebe und Freundschaft, die er für seinen Bruder empfand, nicht erwidert würden, und dass dies auch immer so gewesen sein müsse, nur er selbst habe es nicht eingesehen. Freilich war es auch möglich, dass die Liebe seines Zwillingsbruders erst seit einiger Zeit für ihn erkaltet war, weil er am fremden Ort Personen gefunden hatte, die ihm besser gefielen und passender erschienen.
Siebtes Kapitel
Landry selbst hatte gar keine Ahnung von der Eifersucht seines Bruders, denn derartige Empfindungen waren seinem Wesen durchaus fremd, und solange er lebte, war er noch nie auf irgendetwas eifersüchtig gewesen. Wenn Sylvinet kam, ihn in la Priche zu besuchen, nahm Landry ihn mit und zeigte ihm, um ihn zu zerstreuen, die großen Ochsen, die schönen Kühe, den Schafstall und die reichen Ernten auf dem Anwesen des Vaters Caillaud. Landry schätzte und würdigte das alles, nicht aus Neid, sondern weil er Geschmack fand an der ländlichen Arbeit und an der Viehzucht, und weil er einen offnen Sinn hatte für das Schöne und Nützliche, was alle diese Dinge mit sich brachten. Er hatte seine Freude daran, wenn die junge Stute, die er auf die Wiese führte, recht sauber, wohl genährt