Glam. Simon Reynolds

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Glam - Simon  Reynolds


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aufgekommen war und die vor allem den Klang der Gitarren und die Aufnahmetechnik des Schlagzeugs revolutionierte. Das Resultat war eine Mischung aus Primitivismus und einer Produktion, die das Unmenschliche und das Übermenschliche auf aufregende Weise miteinander vereinte. Glitter Rock war genauso sehr ein Rückblick in die 1950er wie eine Vorschau auf Punk. Am innovativsten war er in den Händen von Leuten wie Mike Chapman, Mike Leander, Phil Wainman und Jeff Wayne, die verschiedene Hitfabriken betrieben. Die Musik, die sie produzierten, war, wie es Chapman ausdrückte, »so entworfen, dass man sie sehen wie auch hören« konnte. Jede Hit-Single übte auf die Hörer einen ähnlichen Effekt aus wie ein im Radio ausgestrahltes Drama.

      Auch die politischen und philosophischen Prinzipien des Spät-60er-Rocks der Hippie-Ära stellte Glam auf den Kopf. Anders als es der inzwischen dahinsiechende Gemeinschafts-Ethos der Hippies wollte, hatte Glam kein Interesse daran, gemeinschaftlich die Welt zu verändern. Stattdessen suchte er einen individuellen Fluchtweg aus der Realität in eine grenzenlose Fantasiewelt voller Ruhm und Verrücktheiten. Angetrieben wurden seine Vertreter von einer halbironischen, aber doch todernsten Besessenheit von Starruhm und all den Fallen, die prunkvoller Luxus mit sich bringt. Glam brach mit den Frömmeleien der Hippie-Generation und zelebrierte Illusionen und Masken anstelle von Wahrheit und Aufrichtigkeit. Glam-Idole wie Bowie, Alice Cooper, Gary Glitter, Bryan Ferry und andere waren überzeugt, dass die Figur, die man auf der Bühne sehen oder auf der Platte hören konnte, keine echte Person war, sondern eine Rolle – und die wiederum hatte nicht unbedingt etwas mit dem eigentlichen Selbst oder dem Alltag des Künstlers zu tun.

      Das Zelebrieren von Image und Schauspiel bedeutete eine komplette Umkehrung der Prinzipien und Ideale der 1960er. Den Weg hatte das 1962 erschienene Buch Das Image vorgegeben, in dem Daniel J. Boorstin eine vielgelesene Analyse dessen, was er »die Bedrohung der Unwirklichkeit« nannte, vorgenommen hatte, die sich in alle Bereiche amerikanischen Lebens und amerikanischer Kultur schleiche. Das Image – geschrieben in der Anfangszeit der Präsidentschaft John F. Kennedys – beurteilt nüchtern die neu aufgekommene Politik der Fototermine und Publicity Stunts, die Boorstin als »Pseudo-Events« bezeichnet. Sein Buch strotzt nur so von einer Bildsprache aus Dunst, Nebel, Schatten und Phantomen. Dabei diagnostiziert es die soziokulturelle Krankheit der »Nichtigkeit«, in der »der Leerraum unserer Erfahrung dadurch noch weiter geleert wird, dass wir uns begierig mit mechanischen Geräten herumplagen, um ihn zu füllen«. Prominente bezeichnete er als Menschen, die »dafür bekannt sind, bekannt zu sein« und die nichts weiter wären als »Gefäße, in die wir unsere eigene Bedeutungslosigkeit schütten […], wir selbst in einem Vergrößerungsglas«. Die Medien, primär Nachrichten und Werbung, schürten demnach große Erwartungen an das Leben sowie einen unersättlichen Appetit nach Stimulierung und eine nicht auszuhaltende Masse an Neuheiten und Neuartigkeiten. Also würde der Leerraum mit Pseudo-Events gefüllt: Meinungsumfragen, politisches Theater, Fototermine, Award-Zeremonien. Dieses fatale Verwischen der Grenzen zwischen wahr und falsch, zwischen echt und künstlich habe »eine neue Undefinierbarkeit und Ambiguität« in den Alltag eingeführt.

      Boorstin bezieht sich auf die Erkenntnisse des Soziologen Erving Goffman, der in seinem Werk Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag von 1959 vom Aufstieg des Begriffes »public image« schrieb, wie er von Entertainern und Prominenten über Konzerne bis zur Nation selbst (Amerikas Projektion seiner Stärke auf andere Länder) benutzt wurde. Dieses Denkbild sickerte bis in den Alltag und die Selbstauffassung gewöhnlicher Bürger durch. So weit verbreitet war der Begriff, dass ihn Muriel Spark Ende der 1960er als Titel ihres Romans The Public Image (dt.: In den Augen der Öffentlichkeit) benutzte. Darin geht es um eine englische Schauspielerin, deren Balance zwischen ihrer Film-Persona und ihrem gleichermaßen inszenierten Privatleben aus dem Gleichgewicht gerät, als ihr geistig unausgeglichener Ehemann Selbstmord begeht – nachdem er einen Skandal in die Wege geleitet hat, der ihr Ende bedeutet.

      Dieses negative Konzept des Prinzips »Image« war in den 1960ern stark verbreitet. Es war Teil einer immer stärker werdenden Rezeption des öffentlichen Lebens als Reich der Unwahrheiten und Fassaden. Dagegen setzte sich die Überzeugung durch, dass »die Wahrheit dich befreien wird« – der Motor fast jeder Art des Widerstands der Bohème, der sich in diesem Jahrzehnt regte. Das bürgerliche Leben galt als gelähmt durch Tabus, Zensur und Konditionierung, weil es von allem, was echt und rau war, ferngehalten würde. Dementsprechend sei es zur Unnatürlichkeit und Unterdrückung verdammt. Die beeindruckendsten Waffen der Gegenkultur waren ihre ungeschönte Ehrlichkeit und ihr Aufruf nach mehr Wirklichkeit und Natürlichkeit.

      Dieser Drang, die unschöne Wahrheit zu sagen und aufzuzeigen, kam zuerst Mitte der 1950er auf, mit den als Angry Young Men bekannten Schriftstellern in Großbritannien und den Beat-Autoren in Amerika. In Amerika fanden sich zudem Gleichgesinnte wie Norman Mailer und Jackson Pollock, dessen »I Am Nature«-Spontaneität auf jedes seiner Gemälde tropfte (aber auch in den Kamin von Peggy Guggenheim, als er in diesen während einer Dinnerparty urinierte). Auch die Teenager-Ikone Holden Caulfield aus Der Fänger im Roggen lästert ständig über die Scheinheiligkeit der Erwachsenen, was ein paar Jahre später wiederum ein Echo bei Bob Dylan fand, als dieser in »It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)« sang: »All is phony.« Der Schutzheilige (oder besser Antiheilige) der »Die Wahrheit wird dich befreien«-Ära war jedoch kein Maler, Poet oder Rocksänger, sondern ein Komiker. Lenny Bruce betrachtete seinen Stand-up nicht nur als Vehikel für derbe Scherze, sondern auch als Möglichkeit, sein Recht darauf einzufordern, sagen zu können, was er wollte. Bruce, so Albert Goldman, verehrte »die Götter von Spontaneität, Freimütigkeit und freier Assoziation« und sah sich selbst als das Comedy-Äquivalent von Charlie Parker. Seine improvisierten Bühnennummern hatten etwas von »Écriture Automatique« …

      Auch das Theater selbst wurde in den 1960ern von der Wirklichkeit attackiert. Autoren wie Joe Orton schrieben Stücke, deren Sprache und Inhalte sich jedem Anstand verweigerten. Die Suche nach Ehrlichkeit war zudem das Thema mehrerer Theaterstücke. Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? etwa, dessen Titel, so sein Autor, sich übersetzt als »Wer hat Angst vor einem Leben ohne Illusionen?« Manche radikale Theatergruppen wie das Living Theatre versuchten, die Realität in Form von Improvisationen, Nacktheit und Konfrontation des Publikums auf die Bühne zu holen. Gleichzeitig gab es eine als Post-Method-Acting gut umschriebene Schauspielschule, deren Schauspieler und Regisseure sich an einer enttheatralisierten Form des Theaters versuchten, etwa durch nervöse Zuckungen oder indem sie ihre Zeilen nur vor sich hin nuschelten. Letzten Endes entwickelte sich daraus aber ein Stil, dessen Eigenarten genauso gespielt und zeitgebunden wirken wie die Hollywoods in der goldenen Ära, als Selbstsicherheit und rhetorische Finessen das Maß aller Dinge waren. In der Tat scheint es so, als würde jeder Versuch, realistische Kunst zu machen – egal ob reduziert oder derb –, nur ein neues Repertoire an stilisierten Konventionen und standardisierten Gesten hervorbringen. Bowie etwa war sich dessen völlig bewusst. Er hatte verstanden, dass auch Rockmusik eine Performance von Wahrhaftigkeit ist und nicht ihre ungebrochene Abbildung auf einer Bühne.

      Eines der frühesten und wichtigsten Magazine der Gegenkultur nannte sich The Realist. Es wurde 1958 von Paul Krassner mit dem Ziel gegründet, die »Realität« zu enthüllen und sah sich als Opposition zum »Land, in dem Träume wahr werden«, also dem Mainstream-Amerika, das vom Fernsehen und Hollywood repräsentiert wurde. Ähnliche Motivationen hatten The Fugs, die ihre Vulgarität selbst in ihrem Bandnamen nur im Ansatz versteckten, und Al Goldsteins Pornoheft Screw, das sich gegen Playboys Traumwelt von »haarlosen Frauen und schwanzlosen Männern« positionierte und in seiner Erstausgabe 1968 verkündete, dass »die Fantasie in der Welt des Sex die Realität verdrängt« und allen Formen von »Scheinheiligkeit und Täuschung« den Krieg erklärte.

      Seinem ungezügelten Sexismus zum Trotz war Screw ein ungewöhnlicher Verbündeter für angriffslustige radikale Feministinnen wie Germaine Greer, die ein genauso kompromissloses, nichts der Fantasie überlassendes Sexheft mitbegründete, das sogar einen ähnlichen Namen trug: Suck. Auch der Feminismus der ersten Welle wurde von dem Bedürfnis angetrieben, die nackte Wahrheit zu enthüllen: den Kern von Femininität abseits ihrer kosmetischen Modifizierungen offenzulegen; das Leid der Frau und die Misogynie des Mannes als die Realität des Kriegs der Geschlechter zu enthüllen. Der feministische Kampf gegen die Illusion bestand unter anderem aus


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