Die letzte Analyse. Amanda Cross
Читать онлайн книгу.und oberflächlich, fürchte ich. Nicki, erlauben sie euch, dort zu bleiben?«
»Oh, ja. Eine Menge Leute sind bei uns überall herummarschiert, aber sie sagen, wir können bleiben. Mutter sagte, wir sollten zu ihr nach Hause kommen, aber sobald die Polizei sich wieder verzogen hatte, schien es uns irgendwie besser, hierzubleiben. Als ob wir, wenn wir weggingen, vielleicht niemals wiederkämen, als ob Emanuel niemals wiederkommen würde. Sogar die Jungen haben wir bei uns behalten. Ich nehme an, das hört sich verrückt an.«
»Nein, Nicki. Ich verstehe das. Ihr bleibt. Kann ich euch besuchen? Erzählt ihr mir, was passiert ist? Erlauben sie mir, dass ich komme?«
»Sie haben nur einen Polizisten draußen vor der Tür gelassen, um die Neugierigen fernzuhalten. Es waren schon Reporter da. Wir würden dich gern sehen, Kate.«
»Du klingst erschöpft, aber ich komme auf alle Fälle.«
»Ich möchte dich gern sehen. Ich weiß nicht, was Emanuel meint. Kate, sie glauben anscheinend, wir hätten es getan, in Emanuels Praxis. Kate, kennst du niemanden von der Staatsanwaltschaft? Vielleicht könntest du …«
»Nicki, ich bin gleich bei dir. Ich tue alles, was ich kann. Ich fahre gleich los.«
Draußen vor ihrem Büro warteten noch immer ein paar Studenten. Kate eilte an ihnen vorbei die Treppen hinunter. Auf dieser Bank hatte auch – wie viele Monate war das her? – Janet Harrison gewartet. Professor Fansler, könnten Sie mir einen guten Psychiater empfehlen?
2
Es gibt keinen wirklichen Grund, warum Psychiater sich auf die allerfeinste Wohngegend der Stadt beschränken sollten. Den Broadway, zum Beispiel, kann man per U-Bahn erreichen, während die Fifth, die Madison, die Park Avenue und die anliegenden Straßen nur mit dem Taxi, dem Bus oder zu Fuß zu erreichen sind. Doch kein Psychiater würde im Traum daran denken, in die westlicheren Stadtbezirke umzuziehen, abgesehen von ein paar ganz tapferen Burschen an der Central Park West, denen die Nachbarschaft zur Fifth Avenue noch genügend Eleganz verspricht, auch wenn der ganze Park dazwischenliegt. Ob sich das als eine Gleichung herausgebildet hat? East Side = Lebensart, Psychiatrie = Lebensart, also Psychiatrie = East Side? Ob sich, da West Side und Erfolgreichsein nicht gleichzeitig denkbar sind (aus was für Gründen auch immer), die Psychiater in den sechziger, siebziger, vielleicht noch den frühen achtziger Straßen zwischen den Avenues niederlassen und ihre Patienten sie dort auch suchen? In gewissen Kreisen heißt die Gegend jedenfalls schon Psychiater-Viertel.
Die Bauers wohnten in einer Erdgeschosswohnung in einer der sechziger Straßen, gleich um die Ecke der Fifth Avenue. Das Haus selbst gehörte zur Fifth Avenue, aber Dr. Emanuel Bauers Praxisadresse hieß 3 East. Das brachte noch einmal eine zusätzliche Note von Eleganz in die Sache, aus reichlich mysteriösen Gründen, so, als sei es schick, gar nicht zu erwähnen, dass man an der Fifth Avenue residierte. Was die Bauers an Miete zahlten, hatte Kate sich nie vorzustellen gewagt. Natürlich, Nicola hatte Geld, und da Emanuels Praxis in der Wohnung lag, war ein Teil der Miete von der Steuer absetzbar. Kate selbst wohnte in einer großen Vierzimmerwohnung mit Blick auf den Hudson River, und zwar nicht, weil sie, wie einige ihrer Freunde sagten, den umgekehrten Snob spielte, sondern weil Altbauwohnungen an der East Side nicht zu bekommen waren, und die neuen – nein, eher hätte Kate ein Zelt aufgeschlagen, als mit einer fensterlosen Küche zu leben, mit so dünnen Wänden, dass man notgedrungen den Fernseher des Nachbarn mithören musste, mit Musikgedudel im Aufzug und Goldfischen in der Halle. Ihre Decken waren hoch, ihre Wände dick, und die Eleganz blätterte dahin.
Während Kates Taxi sich durch den Verkehr zu den Bauers fädelte, dachte sie an deren Wohnung, nicht an ihre Miete, sondern daran, was an ihrer Anlage sie einem Mörder geeignet erscheinen lassen mochte. Tatsächlich lud sie, wenn man es sich überlegte, zum Eindringen jeder Art ein. Der Eingang von der Straße führte in einen kurzen Flur mit der Wohnung der Bauers auf der einen und der Praxis eines Arztes (keines, der in der Psychiatrie tätig war, soweit Kate sich erinnerte) auf der anderen Seite. Hinter diesen beiden Türen ging der Flur in eine kleine Halle über, mit einer Sitzbank, einem Aufzug und dahinter einer Tür, die in die Garage führte. Während die Haupthalle des Gebäudes von Wach- und Bedienungspersonal geradezu überquoll, verfügte diese kleine nur über einen Fahrstuhlführer, der, wie es sich für diesen Beruf gehörte, ein Gutteil seiner Zeit damit verbrachte, mit dem Aufzug auf- und abzufahren. Wenn er in seinem Aufzug war, war die Halle leer. Weder die Tür zur Wohnung der Bauers noch der Eingang zur Praxis gegenüber waren tagsüber verschlossen. Emanuels Patienten gingen einfach hinein und setzten sich in ein kleines Wartezimmer, bis Emanuel sie hereinbat. Theoretisch konnte so, wenn der Aufzug unterwegs war, jedermann zu jeder Zeit unbeobachtet hereinkommen.
Doch natürlich würden andere Leute dort sein. Ganz abgesehen von dem anderen Doktor, seinen Patientinnen und seinen Helferinnen, die für ein eifriges Kommen und Gehen zu sorgen schienen, waren da Emanuel selbst und seine Patienten, wahrscheinlich einer im Beratungszimmer, der andere wartend, und dazu Nicola, das Mädchen, die Bauer-Sprösslinge Simon und Joshua, Freunde von Nicola, Freunde der beiden Jungen und schließlich, auch das wurde Kate klar, alle die, die in den oberen Stockwerken wohnten, den Seiteneingang benutzt hatten und in der kleinen Halle auf den Fahrstuhl warteten. Es erschien Kate immer eindeutiger – und wahrscheinlich war es der Polizei ohnehin schon klar –, dass, wer immer die Tat begangen hatte, sich dort auskannte und auch über die Bauers Bescheid wusste. Das war ein beunruhigender Gedanke, aber Kate wehrte sich zu diesem Zeitpunkt, über die deprimierenden Folgerungen weiter nachzudenken. Vielleicht, dachte Kate, war der Mörder gesehen worden. Aber in Wirklichkeit bezweifelte sie das. Und falls der Mörder (oder die Mörderin) gesehen worden sein sollte, dann hatte er (sie) wahrscheinlich wie ein ganz gewöhnlicher Mieter, Besucher oder Patient gewirkt, und an so jemanden konnte man sich einfach nicht erinnern, er (sie) war so gut wie unsichtbar.
Kate fand Nicola im hinteren Teil der Wohnung auf dem Bett ausgestreckt. Kate war, abgesehen von dem Polizisten in der Halle, unbemerkt hineingekommen, und das war eine Tatsache, die sie noch mehr bedrückte. Ob sie sich aufregte, weil sie so leicht hineingekommen war, oder weil der Polizist gegenwärtig war, hätte sie nicht sagen können. Nicola hielt sich gewöhnlich im hinteren Teil der Wohnung auf. Das Wohnzimmer der Bauers, das von dem Flur aus, durch den die Patienten gingen, zu sehen war, wurde tagsüber oder in den frühen Abendstunden, wenn Emanuel noch Patienten hatte, nicht benutzt. In der Tat wurde großen Wert darauf gelegt – was alle Freunde von Nicola auch wussten –, dass die Patienten niemandem aus Emanuels Haushalt begegneten. Sogar die Jungen waren Experten darin geworden, zwischen ihren Zimmern und der Küche hin und her zu springen, ohne einen Patienten zu treffen.
»Arbeitet Emanuel?«, fragte Kate.
»Ja. Sie haben ihn wieder in die Praxis gelassen, aber natürlich wird es in der Zeitung stehen, und ob die Patienten wiederkommen und was sie sich denken werden, wenn sie es tun, mag ich mir gar nicht vorstellen. Ich nehme an, es werden eine ganze Reihe faszinierender Dinge zum Vorschein kommen, falls sie darüber reden, aber für die Übertragung während der Analyse ist es nicht gerade das Beste, zumindest nicht für die positive Übertragung, wenn in der Praxis des Analytikers schon einmal ein Mord stattgefunden hat, mit dem Analytiker selbst als Hauptverdächtigem. Ich meine, Patienten haben durchaus Fantasien darüber, wie sie auf der Analytiker-Couch attackiert werden – ich bin sicher, den meisten geht es so –, aber am besten nicht auf einer Couch, auf der tatsächlich schon jemand erdolcht wurde.«
Nichts, bemerkte Kate dankbar, nichts konnte Nicolas Redefluss stoppen. Außer, wenn sie über ihre Kinder redete (und der einzige Weg, sich davon nicht nerven zu lassen, glaubte Kate, war das Vermeiden solcher Gespräche), war Nicola nie langweilig, teils, weil das, was sie sagte, aus einer Freude am Leben rührte, die mehr war als bloße Egozentrik, teils, weil sie nicht nur redete, sondern auch zuhörte, zuhörte und Anteil nahm. Kate dachte oft, dass Emanuel Nicki vor allem wegen ihrer Art zu reden geheiratet hatte. Ihre Worte überfluteten ihn in Wellen, nahmen alles auf, auch weniger tiefgründige Themen, und gaben ihm Auftrieb trotz der Schwere seiner eigenen Gedanken. Denn das Einzige, was Emanuel munter werden ließ, war ein abstrakter Gedanke, und diese Anomalie gefiel seltsamerweise beiden. Wie die meisten Anhänger Freuds – und genau genommen auch Freud selbst – brauchte und suchte Emanuel die Gesellschaft intellektueller