Mbappé. Luca Caioli
Читать онлайн книгу.er mit Fayza in die Allée des Lilas zog, war Wilfrid 30 Jahre alt. Geboren in Douala in Kamerun, war er auf der Suche nach einem besseren Leben nach Frankreich gekommen. Nachdem er in Bobigny gewohnt hatte, zog er nach Bondy Nord, wo er einige Jahre Fußball spielte.
„Er war ein guter Spieler, ein Zehner, ein Mittelfeldspieler, der gerne den Ball hatte“, erinnert sich Jean-François Suner, technischer Direktor der AS Bondy, der von allen nur Fanfan genannt wird. „Er hätte Karriere machen können. Er durchlief die Jugendmannschaften des Klubs und spielte dann zwei Jahre für den benachbarten Verein aus Bobigny in der Division d’Honneur [höchste Amateurklasse im französischen Fußball]. Als er dort aufhörte, kam er wieder zu uns. Wir boten ihm eine Stelle an, und er kümmerte sich zunächst als Trainer und später als sportlicher Leiter um unsere Jugend. Wir arbeiteten fast 30 Jahre lang zusammen, ab der Saison 1988/89, und bauten den Klub um, bis er im Juni 2017 dann aufhörte.“
20. Dezember 1998
Fünf Monate und ein paar Tage waren seit jenem berühmten 3:0 vergangen, seit Zinédine Zidanes zwei Kopfballtoren und Emmanuel Petits coup de grace im WM-Finale gegen die Brasilianer mit ihrem angeschlagenen „Fenómeno“ Ronaldo. Die Erinnerungen an diesen Sonntag, den 12. Juli, und den kollektiven Rausch waren noch frisch. Wie könnte man auch anderthalb Millionen Menschen vergessen, die freudentrunken auf den Champs-Elysées feierten und Siegeslieder sangen?
Die Menge bejubelte „Black-blanc-beur“ (schwarz, weiß, nord-afrikanisch) und skandierte „Zidane président!“ Wie könnte man einen der größten Triumphe in der Geschichte des französischen Sports vergessen? Es war nur folgerichtig, dass Fayza und Wilfrid in diesem vom Fußball gesegneten Jahr das schönste aller Weihnachtsgeschenke bekamen: ihr erstes Kind. Der Junge kam am 20. Dezember zur Welt und wurde getauft auf den Namen Kylian Sanmi (kurz für Adesanmi, was auf Yoruba „die Krone passt mir“ bedeutet) Mbappé Lottin. Der Nachname Mbappé würde noch Anlass für viele Spekulationen sein: War Kylian der Enkel von Samuel Mbappé Léppé, genannt „Le Maréchal“, dem kamerunischen Mittelfeldspieler der 1950er und 1960er Jahre? Oder war er ein Verwandter von Étienne M’Bappé, dem Bassisten aus Douala? Nein, da gab es keine Verbindung, wie Pierre Mbappé erklärt: In Kamerun ist der Nachname Mbappé in etwa so verbreitet wie Dupont in Frankreich oder Schulz in Deutschland.
Pierre ist Kylians Onkel, auch er Fußballer. Er fing bei Stade de l’Est an und spielte später für Klubs wie Laval, Villemomble und Ivry. Als er zum Krankenhaus eilte, um seinen Neffen kennenzulernen, hatte er im Gepäck einen Minifußball als Geschenk für das Neugeborene. Im Scherz sagte er zu Fayza und seinem Bruder Wilfrid: „Ihr werdet sehen, aus ihm wird eines Tages ein großer Fußballer!“
Einige Tage nach dem freudigen Ereignis kehrten Mutter und Sohn heim. Fayza nahm wieder ihre Arbeit in der Stadtverwaltung von Bobigny auf, während Wilfrid nur über die Straße gehen musste zum Stade Léo-Lagrange, wo er seine Kids trainierte. Besonders einer hatte seine Aufmerksamkeit erregt: Er war elf Jahre alt und fünf Jahre zuvor aus Kinshasa im damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, nach Bondy gekommen. Die Lage in seiner Heimat war prekär, daher hatten seine Eltern beschlossen, ihn nach Frankreich zu schicken, damit er zur Schule gehen und sich eine Zukunft aufbauen konnte. Der Junge hieß Jirès Kembo Ekoko; er war der Sohn von Jean Kembo, genannt „Monsieur But“, Mittelfeldspieler der zairischen Nationalmannschaft, die zweimal den Africa Cup of Nations gewann (1968 und 1974) und sich 1973, auch dank der beiden Tore von Kembo im entscheidenden Spiel gegen Marokko, als erstes Team aus Subsahara-Afrika für die Endrunde einer Weltmeisterschaft qualifizierte. Jean nannte seinen Sohn Jirès zu Ehren des französischen Mittelfeldspielers Alain Giresse, den er sehr bewunderte, und schickte ihn nach Frankreich zu einem Onkel und seiner älteren Schwester. 1999 erhielt Jirès Kembo Ekoko seine Spielberechtigung bei der AS Bondy. Wilfrid war sein erster Trainer und wurde bald auch sein Vormund und eine Art Vater.
„Es ist schwer zu erklären, aber es war, als wäre dieser Mensch seit jeher meine Bestimmung gewesen“, sagte Jirès Jahre später. Die Familie Lamari-Mbappé Lottin nahm ihn bei sich zuhause auf; zwar adoptierten sie ihn nicht, doch er nannte sie stets Mama und Papa, denn sie waren es, die ihm Zuneigung gaben und ihm halfen, schwierige soziale Verhältnisse zu überwinden und sich den Traum von der Karriere als Fußballprofi zu erfüllen. Jirès zog in die Allée des Lilas und wurde zu Kylians großem Bruder, Vorbild, Idol und erstem Fußballhelden. Die Nachbarn erinnern sich daran, wie er an den Wochenenden vom Leistungszentrum Clairefontaine heimkam oder Fayza und Wilfrid ihn zu wichtigen Spielen brachten.
„Die Familie stand sich sehr nahe, sie waren nette, bodenständige Leute“, sagt Pierrot.
„Wegen seiner Arbeit sahen wir Wilfrid nur selten, aber Fayza lief uns im Treppenhaus oder in den Geschäften hier im Viertel häufig über den Weg. Wir sahen Kylian aufwachsen. Sowie er laufen konnte, fing er an, in dem Zimmer über dem meiner beiden Mädchen mit dem Ball zu bolzen. Ich glaube, sonntagmorgens machte er sein Zimmer zum Fußballplatz“, erinnert sich Elmire mit einem Lachen. „Wann immer wir uns begegneten, entschuldigte sich Fayza unablässig. Ich versicherte ihr, dass schon alles in Ordnung sei und dass man ein Kind ja nicht anbinden könne! Schon damals hatte er nichts als Fußball im Kopf.“
Mit einem weiteren Lachen erzählt die Großmutter von der Zeit, als der kleine Junge von oben eine Djembé-Trommel bekam, es war entweder zum Geburtstag oder zu Weihnachten. „Er hörte gar nicht mehr auf, es dauerte eine Weile, bis er von seinem neuen Spielzeug abließ. Aber abgesehen vom Fußball und der Trommelei war Kylian ein reizender, sehr höflicher Junge, der stets ,bonjour oder ,bonsoir‘ sagte, wenn er mir begegnete. Seine Entwicklung als Fußballer haben wir nicht verfolgen können, weil die Familie ein paar Jahre nach der Geburt von Ethan, dem Nesthäkchen, das, wenn ich mich nicht irre, 2006 auf die Welt kam, in ein Wohnviertel im Süden der Stadt zog, auf der anderen Seite der Gleise, Richtung Les Coquetiers. Wir sahen ihn letztes Jahr im Mai, als er hierher ins Stadion kam, um die französische Meisterschaft zu feiern. Alle Kinder der AS Bondy waren da, mit einem Transparent, auf dem stand: ,Danke, Kylian, alle in Bondy stehen hinter dir!‘ Das war wirklich sehr schön. Kylian verteilte Trikots an die Kinder, und Idrisse schaffte es sogar, ein Foto mit ihm zu ergattern.“
„Zum Glück sah Fayza uns und rief: ,Wartet mal, das sind meine Nachbarn!‘, also stieg ich in den Wagen und machte das Foto, das meine Mutter jetzt hütet“, erläutert der Enkel.
„Wir verfassten zu diesem Anlass einen Brief, zusammen mit den drei anderen Familien, die hier wohnen, mit Daniel und Claudine Desramé, unseren Nachbarn aus der ersten Etage.“
Elmire steht vom Tisch auf, geht zu einer Ecke des Raumes hinüber, öffnet eine Schublade und blättert einen Stapel Papier durch. Schließlich ruft sie aus: „Hier ist er!“
Lieber Kylian,
Wir hoffen, dass du nicht erschrickst, wenn wir dich einfach so ansprechen. Wir erinnern uns an dich immer noch als den wohlerzogenen, zehnjährigen Jungen, den wir im Treppenhaus in der Allée des Lilas Nr. 4 trafen. Heute bist du ein großer Fußballstar und glänzt auf dem Platz. Wir verfolgen den überwältigenden Erfolg deiner sportlichen Karriere mit großer Freude. Wir reden oft über dich und deine Eltern, die wir sehr mochten. Sie haben dich sehr gut erzogen. Jedes Mal, wenn du deine Schuhe schnürst, vergiss nicht, dass deine Nachbarn deine größten Fans sind!
Mit den besten Wünschen für die Zukunft.
Kapitel 2
Die Stadt, in der alles möglich ist
Man kann es nicht übersehen. Es ragt direkt vor einem auf, wenn man auf der A3 Richtung Paris unterwegs ist. Es ist riesig, nimmt vier Etagen an der Seite der achtstöckigen Résidence des Potagers ein. Es ist eine Explosion aus Grün, aus Laubblättern und Fußbällen, die von überall herausschießen. In der Mitte steht Kylian Mbappé im Trikot von Paris Saint-Germain. Er blickt ernst drein und macht das Shaka-Zeichen. Ganz oben prangt das Motto: „Bondy: Ville des possibles – die Stadt, in der alles möglich ist“. Das riesige Fresko blickt von oben herab auf eine Autobahn voller Verkehr und Staus; es überblickt