Hume. Eine Einführung. Frank Brosow

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Hume. Eine Einführung - Frank Brosow


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nur durch Nachschauen festgestellt werden.

      Hume geht davon aus, dass alle Urteile entweder analytisch a priori oder synthetisch a posteriori sind. Ein synthetisches Urteil a priori im Sinne Kants27 hält Hume für unmöglich. Er kritisiert, dass einige seiner Zeitgenossen philosophische Fragen auch dann wie Fragen der Mathematik behandeln, wenn sie Tatsachen wie das Wesen der Moralität oder die Existenz Gottes betreffen. Diese Autoren reden in analytischen Sätzen über die Beziehung zwischen Begriffen, die keine Grundlage in der Erfahrung haben. Ihre so entwickelten Systeme mögen in sich konsistent sein, verhelfen uns aber zu keinerlei Erkenntnissen über uns selbst oder über die Welt. Wenn es um Tatsachenfragen geht, darf sich der Philosoph, so Hume, nicht an der Mathematik, sondern nur an der experimentellen Methode der Naturwissenschaften (im bereits erläuterten Sinne) orientieren.

      Aus diesem Ansatz ergeben sich schwerwiegende Konsequenzen für die Grenzen sinnvollen Philosophierens: Wahre Wissenschaft ist nach Hume nur in zwei Bereichen möglich. Der erste ist der Bereich des logisch-mathematischen Denkens, in dem wir es mit rein analytischen Urteilen zu tun [34]haben. Der zweite ist der Bereich der Tatsachenwissenschaften, deren Grundlage allein die Erfahrung sein kann. Alle Fragen, die Tatsachen und Existenz betreffen, zu deren Beantwortung jedoch nicht auf Erfahrung zurückgegriffen werden kann, sind kein Gegenstand seriöser Wissenschaft. Wer sich dennoch mit ihnen beschäftigt und beispielsweise meint, als Philosoph Aussagen über das Wesen Gottes machen zu können, betreibt nutzlose, spekulative Metaphysik. Hume geht so weit, zu empfehlen, alle Bücher, die in dieser oder ähnlicher Weise die Grenzen des sinnvollen Denkens überschreiten, ins Feuer zu werfen. (Vgl. EHU 12.34; SBN 165.)

      Die Unterscheidung zwischen Vorstellungsbeziehungen und Tatsachen ist insbesondere dort wichtig, wo es um die Frage nach der Gewissheit von Urteilen geht. Hume unterscheidet drei Arten einer solchen Gewissheit: Wissen (knowledge), Beweis (proof) und Wahrscheinlichkeit (probability). (Vgl. T 1.3.11.2; SBN 124.) Wirklich sicheres Wissen ist nur im Bereich von Vorstellungsbeziehungen möglich, da das Gegenteil einer Tatsache (theoretisch) stets möglich ist. In der Praxis gibt es jedoch auch Tatsachen, an denen wir faktisch niemals zweifeln würden, weil sie durch einen Beweis belegt sind. Unter einem Beweis versteht Hume die vielfach wiederholte Erfahrung einer ausnahmslosen Regelmäßigkeit. Als Beispiel nennt er das tägliche Aufgehen der Sonne. An der Tatsache, dass die Sonne morgen wieder aufgehen wird, würden wir nach Hume nur dann zweifeln, wenn auch ihr Gegenteil durch einen Beweis belegbar wäre. Ein solcher Fall, in dem Beweis gegen Beweis steht, hat sich faktisch aber noch nie ereignet. In den Bereich bloßer Wahrscheinlichkeit fallen schließlich alle Annahmen über Tatsachen, an denen zu zweifeln möglich und angebracht ist. Beim Wurf mit einem sechsseitigen Würfel ist es wahrscheinlicher, dass keine Sechs fällt, als dass sie fällt – aber sie könnte trotzdem fallen. Hume nennt diese [35]mathematische Art der Wahrscheinlichkeit die Wahrscheinlichkeit des Zufalls (probability of chances). Von ihr unterscheidet er die Wahrscheinlichkeit der Ursachen (probability of causes), die sich nicht aus bloßem Nachdenken ergibt, sondern Erfahrung voraussetzt. Der Verzehr von Rhabarber wirkt meistens abführend, aber keineswegs immer. Daher ist es nicht sicher, sondern nur wahrscheinlich, dass dieser Effekt bei einem erneuten Verzehr wieder eintritt. Es wäre auch möglich, dass andere, uns unbekannte Ursachen diese Wirkung im Einzelfall verhindern. (Vgl. T 1.3.11.3–13; SBN 124–130; EHU 6.1–4; SBN 56–59.)

      Die Aufgabe der Vernunft ist es also, zu ermitteln, ob eine bestimmte Überzeugung wahr oder falsch ist und welche Art von Gewissheit ihr zugestanden werden kann. Wie genau macht sie das? Hume charakterisiert die Vernunft zum einen als die Ursache der Wahrheit,28 zum anderen als eine Teilmenge der Prinzipien der Einbildungskraft. Zur Vernunft zählen nach Hume diejenigen Prinzipien der Einbildungskraft, die dauerhaft (permanent), unwiderstehlich (irresistable) und allgemein (universal) sind. Dazu gehört beispielsweise der Schluss von einer Ursache auf ihre Wirkung, auf den später noch einzugehen sein wird. Stellt man eine vernünftige Gedankenkette einer unvernünftigen direkt gegenüber, so wird sich die vernünftige natürlicherweise durchsetzen und die weniger vernünftige aus dem Denken verdrängen. (Vgl. T 1.4.4.1; SBN 225.)

      Nimmt man all diese Beschreibungen der Vernunft zusammen, so stellt sich Hume die Funktion der Vernunft offenbar so vor: »Vernunft« ist ein allgemeiner Begriff, unter dem wir die besonders zuverlässigen und intersubjektiv einheitlich funktionierenden Prinzipien des Denkens zusammenfassen. Diese erzeugen wahre Urteile, die uns wiederum als Maßstab für Urteile dienen können, die anderen Quellen entstammen. Wenn wir mit einer Aussage konfrontiert werden, deren [36]Wahrheitsgehalt fraglich ist, beurteilen wir sie durch den Vergleich mit denjenigen Urteilen, zu denen uns der (ungestörte) Gebrauch der Vernunft führt. Stimmt sie mit diesen Urteilen überein, halten wir sie für wahr, tut sie es nicht, halten wir sie für falsch.

      Doch wie äußert sich dieses Fürwahrhalten? Nach Hume liegt der Unterschied zwischen einer rein fiktiven oder für falsch gehaltenen Vorstellung und einer für wahr gehaltenen Überzeugung in der Art und Weise, wie die fragliche Vorstellung perzipiert wird. Die Überzeugung, dass Hume ein Philosoph war, unterscheidet sich von der Vorstellung, dass er ein Außerirdischer war, nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern auch hinsichtlich der Lebhaftigkeit, mit der sie perzipiert wird. Eine für wahr gehaltene Vorstellung wird nach Hume als lebhafter erfahren, weil sie von einem besonderen Gefühl begleitet wird. Hume nennt dieses Gefühl Glaube (belief).29

      Die konkrete Arbeitsweise der Vernunft lässt sich damit in etwa so veranschaulichen: Wenn ich behaupte, dass Silvester im nächsten Jahr auf einen Montag fallen wird, dann können Sie diese Behauptung beurteilen, indem Sie den fraglichen Wochentag selbst errechnen und meine Behauptung mit dem Ergebnis Ihrer Berechnungen vergleichen. Wenn Ihr Ergebnis von meiner Behauptung abweicht, so werden Sie Ihr durch vernünftige Überlegungen gewonnenes Urteil nach Hume lebhafter perzipieren, sodass es die Vorstellung des von mir genannten Wochentages aus Ihrem Denken verdrängt.

      Doch was ist, wenn Sie sich verrechnen, weil Ihr Denken von weniger zuverlässigen Prinzipien der Einbildungskraft gestört wird? Einen Irrtum kann in der Praxis niemand vollkommen ausschließen. Die Erfahrung lehrt uns schließlich, dass Menschen sich zuweilen in ihrem Urteil irren. Die empirischen Ergebnisse menschlicher Überlegungen sind daher streng genommen immer nur mit einer gewissen [37]Wahrscheinlichkeit korrekt, nie jedoch über jeden Zweifel erhaben. (Vgl. T 1.4.1.1–12; SBN 180–187.)

      Diese Feststellung kann zu der Ansicht verleiten, dass in der Praxis letztlich nichts gewiss und alles anzweifelbar ist. In diesem Fall hätte uns Humes Ansatz in einen unauflöslichen Skeptizismus geführt. Doch ist es wirklich vernünftig, an allem zu zweifeln?

      Ein entscheidendes Kriterium für die Vernünftigkeit eines Gedankengangs ist nach Hume, dass er sich bei der direkten Gegenüberstellung mit anderen, weniger vernünftigen Gedankengängen durchsetzen wird, da seine Ergebnisse mit größerer Lebhaftigkeit perzipiert werden. Besteht der allumfassende Zweifel diesen empirischen Test? Wohl kaum. In der Theorie kann ein radikaler Skeptiker zwar behaupten, dass es keine Gewissheit gibt. Es wird ihm jedoch nicht gelingen, wirklich daran zu glauben und sein Verhalten in der alltäglichen Praxis konsequent an dieser Erkenntnis auszurichten. (Vgl. EHU 12.17–23; SBN 155–160.) Die Prinzipien unserer Natur erlauben es uns nicht, an allem und jedem zu zweifeln und uns stets eines Urteils zu enthalten. Selbst ein Skeptiker kann nicht verhindern, dass einige seiner Vorstellungen vom Gefühl des Glaubens begleitet werden und andere nicht. Der radikale Skeptizismus gehört also nicht zu den dauerhaften, unwiderstehlichen und allgemeinen Prinzipien des Denkens und damit nicht zu den Prinzipien der Vernunft.

      In seiner gemäßigten Form lässt sich der Skeptizismus jedoch durchaus konsequent verfolgen und erweist sich zudem als äußerst nützlich.30 Er macht uns die prinzipielle Fehleranfälligkeit menschlicher Überlegungen bewusst, lehrt uns Bescheidenheit und bringt gewissenhafte Philosophen dazu, ihre Überlegungen sorgfältig zu überprüfen und gegenüber der konstruktiven Kritik ihrer Fachkollegen aufgeschlossen zu sein.

      [38]Die Pointe dieses Ansatzes ist, dass es nach Hume keinen objektivistisch begründbaren Maßstab für Wahrheit gibt. Andererseits ist Wahrheit für Hume jedoch auch nicht in dem Sinne subjektiv, dass das Wahre und das subjektiv Fürwahrgehaltene nicht unterscheidbar wären. Wenn Sie sich im oben genannten Beispiel tatsächlich verrechnet


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