Der Moloch. Jakob Wassermann

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Der Moloch - Jakob Wassermann


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trugen sie allerlei Zieraten, die, ebenfalls grünspanfarben, aus der Haut hervorragten, als ob es nur künstliche Tiere wären. Aber beide Pferde lebten. Nun stand an der Mauer eine Tafel, welche die Inschrift trug: Diese Pferde können sprechen. Nachdem er eine Weile unschlüssig und doch höchst begierig gestanden war, warf er ein Geldstück hin. Darauf ertönte ein langsames Glöckchen über der Mauer; das grössere Pferd erhob den Kopf und öffnete weit das Maul, um zu sprechen. In diesem Augenblick wurde Arnold von einem so furchtbaren Schrecken ergriffen, dass er in der grössten Sile über die Landstrasse Reissaus nahm. Als er aufswachte und den Traum überlegte, kam er ihm recht albern vor; dennoch, die dünne Luft, die Mauer, die einsame Strasse, die schwermütige Miene des grünen Gauls, der sich anschickte zu sprechen, das alles hatte etwas Unvergessliches in sich.

      Punkt sieben Uhr stellte sich Arnold bei Maxim Specht ein. Es war noch halb dunkel, als sie sich auf den Weg machten. Arnold verzehrte sein Frühstück unterwegs. Specht war schweigsam.

      Vor dem Klostertor warteten sie. As die ersten Wolken vom Frührot glühend wurden, traf der Kommissar mit einem Gendarmen ein. Sin wenig davon entfernt gingen Glasser und der Rabbiner aus Lomnitz. Der Kommissar zog die Glocke. Die Schwester Pförtnerin öffnete, deutete gegen eine schmale Türe zur Linken und hinkte auf einer Krücke davon. Als die Tür geöffnet war, wurde ein langer Gang sichtbar, an dessen Ende ein Windlicht brannte, das nur mühsam die Finsternis verringerte. Darnach kam ein weiter, flurartiger Raum. Auf einem Schemel hockte schlaftrunken eine Laienschwester und zeigte stumm auf die zur Linken befindliche Glastür. Die Männer betraten ein saalartiges Gemach, dessen Decke durch ein gekreuztes Tonnengewölbe gebildet wurde. Auf einer langen Bank standen zwei dreiarmige silberne Leuchter, darüber hing ein ehernes Kreuz mit dem Heiland. An der hinteren Wand öffnete sich ein dunkles Loch, vor dem sich ein aus weissen Stäben bestehendes Gitter befand. Elasser und der Rabbiner standen schweigend abseits; sie starrten vor sich nieder.

      Nach einigen langen Minuten, während welcher Arnold seine Uhr in der Tasche ticken hörte, knarrte eine zweite Tür in der Ecke, und vier Nonnen traten herein. Elasser reckte den Kopf auf — Arnold gedachte seines Traumpferdes, das sprechen wollte — und blickte nach der Tür, die sich indes wieder schloss, ohne dass seine Tochter eingetreten wäre. Plötzlich war das finstere, vergitterte Loch durch eine Kerzenflamme erleuchtet. Eine Gestalt bewegte sich vorbei, eine andere folgte. Die erste kehrte zurück, streckte die Arme aus, als wolle sie einen schweren Gegenstand ans Licht ziehen. Darauf wurde das Öffnen einer knarrenden Türe hörbar, und in demselben Augenblick begann ein Weinen und Schluchzen, das um so schauerlicher wirkte, als es wie durch das Fallen einer Wand mit einem Male hervorgebrochen schien. Die Arme regten sich geschäftiger, noch ein paar Arme und ein Kopf schienen Beistand zu leisten, aber das nicht zu beschwichtigende Weinen und Schluchzen erfüllte nach wie vor anschwellend den Raum. Die Kerze wurde ausgelöscht; das Gitter wurde wieder finster, die knarrende Türe liess sich von neuem hören; Füsse scharrten wie auf sandbestreuten Brettern, und mit einem Schlag war es wieder still.

      Elasser war einen Schritt vorwärts gegangen. Der ganze Mann zitterte, und seine Stirn glänzte von Schweiss. Ein gurgelndes Geräusch kam von seinen Lippen. Er schwenkte die Arme hin und her; der Rabbiner und der Sendarm mussten ihn bei den Schultern zurückhalten. Als es hinter dem Gitter finster und ruhig wurde, war auch er wieder still. Einige Minuten lang hörte man das leise Aufprasseln der Kerzenflammen auf der Bank. Die frommen Schwestern zeigten eine durch Gewohnheit und Übung erlernte und befestigte Gleichgültigkeit. Ihr inneres Leben schien sich zu einem verheimlichten Lauschen gesammelt zu haben, wovon allein die Bewegung der Augenlider Zeugnis ablegte. Specht stand mit bleichem Gesicht. Arnold betrachtete auch ihn; sämtliche Gestalten erschienen im trüben Zwielicht wie Phantome. Es war kaum zu unterscheiden, ob sie schliefen oder wachten.

      Jetzt öffnete sich zum zweitenmal die seitliche Tür, und die Oberin trat ein. Specht, der Kommissar und der Gendarm verbeugten sich ehrerbietig. Die Oberin streifte die Männer mit einem eisigen Seitenblick und richtete die Augen befremdet und fragend auf Arnold, der sich nicht rührte, nicht grüsste und mit verhängten Augen auf das eherne Christuskreuz sah. Indessen wandte sich die Dame ab, trat mit festem Schritt auf den Kommissar zu und sagte: „Herr Glasser kann leider seine Tochter nicht sehen. Das Mädchen ist krank.“

      Elasser hob blitzschnell beide Hände, zog sie rasch gegen sein Herz und schien reden zu wollen. Ja, er schien gewaltsam bemüht, die ränkevolle Finsternis, die er um sich gewahren musste, wenigstens durch Worte zu zerstören; der Polizeikommissar nahm seine Partei, bemerkte schüchtern, die Mutter des Kindes liege schwer darnieder und wünsche die Tochter vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Durch diese List gedachte er das Herz der Oberin zu rühren.

      „Sie wird sie im Himmel wiedersehen“, antwortete die Oberin mit feierlich erhobener Hand und mit langsamer, zu peinvollem Lauschen zwingender Stimme. Dann winkte sie den Nonnen zu und verliess an ihrer Spitze den Raum.

      Arnold, als wären seine Sinne für andere Wahrnehmungen getrübt, starrte gegen den Boden; das rasche, allseitige Getrappel auf den Steinfliesen schien ihn zu fesseln. Auch er wandte sich schliesslich, um fortzugehen. Elasser stiess einen Seufzer aus, der Arnold noch lange in Erinnerung hasten blieb, ordnete den feiertäglichen Rod, der sich verschoben hatte, und sagte mit seinem kummervollen, diesmal aber von Entschlüssen durchwühlten Gesicht nichts als: „So wahr ein Gott lebt —!“

      Der Kommissar und Maxim Specht gingen dem Dorfe zu. Plötzlich verabschiedete sich Specht von seinem Begleiter, schaute sich nach Arnold um und wartete, bis er herankam.

      Elftes Kapitel

      Arnold ergriff Spechts Arm und drückte ihn so fest, dass der Lehrer sich zusammennehmen musste, um seinen Schmerz zu verbeissen. „Nicht so stürmisch!“ sagte er mit schwachem Lächeln. Arnold atmete tief auf, dann wandte er den Blick von Spechts unschlüssigem, aber ernstem Gesicht ab, liess ihn langsam über die Landschaft gleiten, und um seinen Mund zuckte es. Er schüttelte heftig und kurz den Kopf, und ohne den Lehrer zu grüssen, ging er mit raschen Schritten querfeldein. Der Wind sauste ihm entgegen, bald schien die Sonne, bald verging sie wieder, dann strömte auf einmal Regen, vom Sturm zu Wirbeln gepeitscht und gedreht, und von neuem brach kalt und fahl die Sonne durch. Stumm und weit dehnten sich Äcker und Wiesen. Arnold war unzufrieden mit sich selbst; diese Empfindung beirrte ihn. Wozu dies Streunen? dachte er. Er fing an, seiner Zweifel sich zu schämen, und langsam erhellte sich seine Stirn. Denn dass Glasser um sein offenbares, klares Recht gebracht werden könne, erschien ihm so unmöglich, wie dass der Sonnenball für immer verschwinden sollte, weil eine Wolke darüberzog.

      Die nächsten Tage verflossen ihm wie in einem unbewussten Horchen. Natürlich machte der Raub des Judenmädchens viel Aufsehen im Lande. Arnold wagte nicht, irgend jemand nach dem Verlauf der Dinge zu fragen, denn er ahnte wohl, dass da mehr Feindseligkeit und Parteileidenschaft im Spiel war, als es zuerst den Anschein gehabt.

      Da schickte ihm Specht zum zweitenmal die Zeitung zu, an die er berichtete, und Arnold las:

      „Neuestes aus Podolin. Samuel Elasser, unterstützt Durch die Hilfe und getragen von der gemeinsamen Angst und Entrüstung seiner Stammesgenossen, hat seiner Sache endlich einen Rechtsbeistand gewählt, den Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Steinbacher in Krakau. Unter Berufung auf den § 145 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches wurde eine Singabe an die Polizeibehörde gerichtet. Dieser Paragraph erklärt deutlich, dass die Eltern berechtigt sind, vermisste Kinder aufzusuchen, entwichene zurückzufordern und flüchtige durch Unterstützung der Obrigkeit zurückzubringen. Der Polizeidirektor lehnte jedoch jede Vermittlung mit folgenden Worten ab: ,Was? Ich soll ein Mädchen aus einem Kloster herausnehmen?‘ In der tiefsten Besorgnis über das Wohlbefinden seiner Tochter, da ihm die Oberin doch Angst eingeflösst, verlangte Samuel Elasser die Untersuchung des Gesundheitszustandes. Nach langen vergeblichen Bemühungen und langen Beratungen wurden ein Gerichtsarzt und der Universitätsprofessor Dr. Woering in das Kloster gesandt. Beide Ärzte stimmten darin überein und sagten aus, dass Jutta Elasser vollkommen gesund sei. Nun erfolgten dringendere Vorstellungen des Vaters. Ein Polizeibeamter wurde beauftragt, in aller Form des Gesetzes vom Kloster wenigstens die Vorführung des Mädchens zu verlangen. Die Oberin antwortete dem Beamten: ,In sieben Tagen wird sie ihr Vater sehen.‘ Der Beamte musste sich damit begnügen, diesen Bescheid stillschweigend


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