Der Moloch. Jakob Wassermann

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Der Moloch - Jakob Wassermann


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wonach Jutta Elasser zwei Tage vorher aus dem Kloster entflohen sei. Dies der nackte Bericht. Man muss nur darüber erstaunen, dass die Schwester Wirtschafterin den Ausdruck ,entflohen‘ wählte. Entflohen? Wohin? Wohin, wenn nicht zu den Eltern? Warum gebrauchte die Schwester Wirtschafterin nicht den klareren und wahreren Ausdruck: entführt —? Denn das Mädchen wurde inzwiscen schon im Kloster Lagiewniki bei Podgorze gesehen.“

      Stumm reichte Arnold seiner Mutter das Blatt und bohrte die Zähne in die Lippe, während sie las. Frau Ansorge schüttelte den Kopf, als sie fertig war, und sagte: „So ist eben die Welt; so sind die Menschen.“

      Arnold machte ihr Sorge. Sein Benehmen zeigte so viel Überlegenheit und bewussten Eigenwillen, so viel Selbsterleben, so viel Hinaustasten und geheimnisvolles Erzittern alles dessen, was eben nur in einem Mann erzittern kann, dass sie nicht mehr aus noch ein wusste; sie litt unter seinem veränderten Gang, seiner beherrschteren Miene, seinem nach innen prüfenden Blick und erkannte plötzlich Kräfte seines Verstandes, seines raschen Auges, seiner Entflammbarkeit, die sie früher mit ihrer Furcht kaum berührt hatte. Wohl nahm sie bald wahr, dass er sich in einem seltsamen Zustand der Erwartung befand, aber ausser einigen blitzhaften Einblicken blieb ihr alles ein Rätsel. Sie fand ihre Beobachtungsgabe verschärft, verzehnfacht; sie überzeugte sich, dass ihn nichts Trübes erfüllte, nichts Lebensfeindliches, im Gegenteil; doppelter Grund zur Sorge.

      Eine Stunde später ging Arnold ins Dorf, bog in die bekannte Seitengasse und betrat das Elassersche Haus. Dort schien sich nichts verändert zu haben; der Säugling lag noch auf der Ofenbank, die Windeln hingen noch auf Stricken. Von den übrigen Kindern und Elasser selbst war nichts zu sehen. Die Frau lag auf dem alten Sofa und blickte ruhig gegen die rauchschwarze Decke. Als Arnold eintrat, erhob sie sich, und ihr Gesicht bekam einen verbissenen und boshaften Ausdruck.

      „Wo ist Herr Elasser?“ fragte Arnold sanft.

      „Wo wird er sein!“ erwiderte die Frau und lehnte sich mürrisch gegen den Sofawinkel.

      „Was haben Sie für Nachrichten über Jutta?“ fragte Arnold, der Widerwillen empfand gegen die Jüdin und ihre unordentliche Behausung.

      Die Frau schwieg.

      „Ich habe gehört, dass sie in Podgorze ist“, fuhr Arnold ruhig fort.

      „Warum nicht?“ erwiderte die Frau höhnisch und zuckte die Achseln. Plötzlich sprang sie auf, schritt hastig quer durch die Stube auf Arnold los und rief: „Wollen Sie mich zum besten haben, mein Herr?“ Sie blickte Arnold an, als sehe sie in ihm eine Person von unergründlicher Falschheit. „Wissen Sie was, gnädiger Herr? Ich will einmal sagen, und Sie sind ehrlich. Was kommen Sie dann, von mir zu erfahren, was die Spatzen pfeifen auf allen Dächern? Ja! In Podgorze ist Jutta, zwei Nonnen haben sie in der Nacht herausgebracht aus dem Kloster im Wagen. Und Elasser ist gegangen nach Podgorze, und die Gendarmerie dorten hat erwiesen, dass Jutta war im Kloster. Aber sie haben gesagt, sie hätten keinen Auftrag, einzugreifen. Und Elasser ist gegangen zum Bezirkshauptmann von Podgorze, und der Bezirkshauptmann ist gegangen zum Herrn Grafen Statthalter, und wie er zurückgekommen ist, war unsere Jutta verschwunden aus Podgorze. Und Elasser ist gegangen ins Kloster nach Binczice und ins Kloster nach Morawice und ins Kloster nach Wolajustowska und nach Wielowics, und überall ist Jutta gewesen und überall ist sie wieder fortgebracht worden, und überall hat die Behörde verweigert den schuldigen Beistand, und kaum war der neue Aufenthalt von unserm Kind bekannt, so war sie auch schon woanders. Und bloss in Kenty hat der Herr Bürgermeister geleistet Beistand und ist vorgestern verhaftet worden wegen Hausfriedensbruch. So, mein Herr! Wollen Sie noch mehr wissen?“

      Mit funkelnden Augen sah ihn das Weib an und lachte, ohne dass sich ihr Mund öffnete. Was antwortest du, Schuldiger? schien ihr Blick zu fragen. Arnold senkte den Kopf und verliess langsam das Zimmer und das Haus.

      Zwölftes Kapitel

      Die ganze Ebene lag im tiefen Schnee. Es war sogar mühselig, nach Podolin zu kommen, aber da Maxim Specht Arnold durch einen kleinen Burschen hatte zum Besuch bitten lassen, folgte er der Aufforderung, trotzdem es schon weit im Nachmittag war. Als er in der Wohnung des Lehrers ankam, war es schon dunkel. Specht sass lesend am Tisch, und in einer Teekanne vor ihm summte das Wasser. Das Stübchen war gemütlich; der Lehrer trug einen grossväterischen Schlafrock und rauchte aus einer langen Pfeife. Die Tabakswolken zogen langsam durch das Zimmerchen, nur über der Lampe wurden sie in schnellen Wirbeln emporgerissen.

      Als Neuigkeit erzählte Specht, seine Schreiberei habe in der hauptstädtischen Redaktion solchen Beifall gewonnen, dass man ihm eine Stellung bei dem Blatt angetragen habe. Er werde auch nicht säumen; noch vor Weihnachten gehe er nach Wien, obwohl sein neues Amt erst im Januar beginne. Aber da sei viel zu ordnen, und er könne es vor Ungeduld in Podolin nicht mehr aushalten. „Ich freue mich ja wahnsinnig, lieber Freund! Endlich! Wenn Sie wüssten, was in mir alles brodelt, was da drinnen steckt! Nicht genug Hände hat man dort, und hier sind zwei bald zuviel. Endlich werd’ ich atmen können!“

      Arnold nickte. Niemals war ihm der Lehrer so sympathisch gewesen, niemals auch hatte er so leicht das Wesen eines andern begriffen. Atmen können! Er betrachtete das Gesicht des Lehrers, das in peinlicher Sauberkeit gehaltene Stübchen, die Bücher an den Wänden und auf dem Tisch. Maxim Specht, an das wortkarge Gehaben des Kumpans längst gewöhnt, war der Gelegenheit froh, sich ausschwatzen zu können. Er schenkte Tee ein; Arnold lehnte sich auf dem Sessel zurück und starrte in die Luft. Auch in ihm meldete sich höheres Leben. Das durch Gewohnheit nahe trat zurück, und der Horizont wurde beglüht von einem noch verborgenen Feuer.

      „Sie müssen mir ein wenig auf Beate achten“, sagte Specht, in Freudigkeit vor sich hinbrütend, und ohne seine Worte sonderlich zu wägen. „Zwar ist alles aus zwischen uns, aber was man geliebt hat, soll man bewahren. Vielleicht gehen Sie hie und da zu Hankas. Zu Ihnen hab’ ich ein, ich möchte sagen, übersinnliches Vertrauen. Jaja,“ seufzte er, schlürfte behaglich aus der Tasse und blickte nicht ohne Empfindsamkeit in die Rauchwölkchen, „so geht die Liebe hin, und das Leben ergreift uns.“

      Arnold griff nach einem der Bücher im Regal. Es war ein Band von Gibbons Geschichte, vom Untergang des Römerreichs.

      „Sie hat jetzt ein Verhältnis mit dem Bauernknecht auf dem Randomirschen Gut“, fuhr Maxim Specht halb für sich fort, als vermöchte er sich von diesem Gegenstand nicht zu trennen. „Traurig genug. Mir tut nur der arme Hanka leid. Er hat sich ihrer angenommen und glaubt nun, eine unverdorbene Blume zu besitzen, ein unschuldiges Kind. Zum Lachen!“

      Arnold bat, Specht möge ihm die Geschichtsbücher auf einige Tage borgen. Vor der Abreise solle er sie wieder haben.

      Das plötzliche Interesse für die Historie war kaum mehr als Selbsttäuschung; ein Versuch, sich von seinem Innern ab- und an ein Äusseres, Weltliches zu wenden. Er hatte nach Schriften solcher Art früher nie gefragt. Die Vergangenheit der Erde und ihrer Völker war zwar bei ihm nicht Lernfutter gewesen, um abgelegene Höhlen des Gedächtnisses zu stopfen, aber nie war auch Lebendiges daraus hervorgegangen. Wie er nun zu Hause sich in diese Darstellung des Falls einer Nation vertiefte, gewahrte sein frischer Geist mit einem unermesslichen Erstaunen, wie die Führung der menschlichen Angelegenheiten stets weit über den persönlichen Willen hinausgerückt wird. Dadurch erschien ihm zunächst alles als ein bodenloses Märchen. Zorn und Gleichgültigkeit wechselten in seinem Innern. Voll edlen Sträubens las er trotzdem Seite für Seite, brachte jedem Ereignis eine Fülle von Miterleben entgegen und lachte nicht selten spöttisch und verächtlich, da manches ganz anders auslief, als er es abgeschätzt hatte. Wie ebensoviele Käfer, die dumm in der dunklen Rinne laufen, statt den sonnenbeschienenen Weg zu wählen, kamen ihm die Handelnden vor, und die Leidenden wie Mücken, die trunken ins kleine Netz sich verstricken, während rundum die Luft voll Freiheit ist. Seltsam war seine Anteilnahme, seltsam, wie er von dem längst entschwundenen Treiben längst vermoderter Geschlechter für die Gegenwart Besitz ergriff, wie er über Schicksalsmächte rücklebend verfügte, mit brennendem Kopf den Zusammenhang verlor und in wirrem Trotz sich anmasste, an Stelle eines jeden dieser Helden und Unhelden frei über das Kommende bestimmen zu können. Indem das in Zeit und Raum Entlegenste wie Nächste in seiner Phantasie verschmolz, stiess er die neuen Bilder bald voll Hass von sich und kehrte


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