Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein

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Geheimnis Fussball - Christoph Bausenwein


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Bei der WM 1986 wurde mit dem „Azteca“ erstmals ein komplett synthetischer Ball benutzt. Mit dem völligen Verzicht auf Leder wurde nicht nur die Widerstandsfähigkeit und Formbeständigkeit erhöht, sondern endlich auch das Nässeproblem gelöst. Problematisch blieben die zunächst aus Materialien wie Polyurethan und Neopren gefertigten Bälle aber dennoch. Vor allem von den Torhütern wurden sie wegen ihres unberechenbaren Flugverhaltens kritisiert. Die früher üblichen Lederbälle standen lange in der Luft, und nur deswegen bekam ein Torhüter die Zeit, sie in aller Ruhe abzugreifen. Die modernen Kunststoffobjekte hingegen zischten nun mit einem enormen Tempo heran, und darüber hinaus flogen sie nicht gerade, sondern „zappelten“ unberechenbar. Aber auch die Feldspieler stellten sie, vor allem in Kombination mit ungewohnten Rasenmischungen, vor ungewohnte Probleme. Während der WM 1994 meinte der Fernsehkommentator Heribert Faßbender, die hohe Quote technischer Fehler auf die für die Spieler ungewohnte Kombination von amerikanischem Rasen und neuem „Questra“ zurückführen zu können: „Ich glaube, dass der Ball ein anderes Abrollverhalten hat.“

      Den perfekten Ball also scheint es nicht zu geben; er kann ja auch nie ganz rund sein, wie der Physiker weiß, höchstens beinahe. Moderne Kunststoffbälle werden in speziellen Testcentern stundenlang gerubbelt, in Wasser getaucht, zusammengestaucht, von Robotern getreten und an die Wand geschleudert. Und dennoch gibt es immer wieder Unzufriedene. Bei der WM 2002 schien der als revolutionäre Neuentwicklung vorgestellte „Fevernova“ vielen Spielern keineswegs perfekt. „Zu leicht“, „zu schnell“, „zu flatterhaft“ lautete das Urteil. Den WM-Ball 2006, den „Teamgeist“, stellte Adidas mit der Bemerkung vor, er sei so rund wie nie zuvor. Das Design ist völlig neu. Der Teamgeist besteht nicht mehr aus 32 Teilen, sondern nur noch aus 14 nahtlos miteinander verbundenen „Panels“, von denen sechs wie „Propeller“ (oder „Katzenzungen“) und acht wie „Turbinen“ geformt sind. Natürlich soll der Ball besser sein als alle zuvor: weniger Luft verlieren, weniger Wasser aufnehmen, er soll sich weniger verformen, ebenmäßiger sein und präzisere Schüsse erlauben. Auch dieser Ball hat dennoch seine Kritiker gefunden. Sicher ist nur eines: Er wird mit einem Druck von 0,6 bis 1,1 Atmosphären aufgepumpt und daher sehr flug- und sprungfähig sein.

      Der Siegeszug des Fußballspiels begann mit der serienmäßigen Herstellung kugelförmiger Bälle. Zwar kann mit nahezu jedem Gegenstand kicken, doch es ist kaum vorstellbar, dass ein mit Würfeln oder Kartoffeln ausgetragenes Spiel im Stadion die Massen begeistern könnte. So lautet denn auch die größte aller Fußballweisheiten, die der Trainer-Legende Sepp Herberger zugeschrieben wird: „Der Ball ist rund.“ Rugby- und Footballspieler pflegen sich heftig zu wehren, wenn man ihr Spielgerät als „Ei“ bezeichnet und bestehen auf dem Namen „Ball“. Herbergers Weisheit können sie jedoch nicht für sich in Anspruch nehmen, und so muss man bei der Ergründung des Fußball-Geheimnisses bei der Kugelförmigkeit des Spielgeräts beginnen.

      Nach jeder Seite hin geschlossen, fasziniert die Kugel durch ihre vollkommene geometrische Ordnung. Als ein Gegenstand, der kein „Oben“ und kein „Unten“, keine Vorder- und keine Rückseite, keinen Anfang und kein Ende hat, ist sie greifbares Sinnbild für die Dreidimensionalität des Raumes. Die Kugel fasziniert darüber hinaus durch ihre in sich selbst ruhende Spannung. Weil sie ihren Schwerpunkt in der Mitte hat, ist sie immer kurz davor, sich in Bewegung zu setzen. Schon durch den kleinsten Stoß beginnt die Kugel zu rollen und entwickelt ein Eigenleben. In sich stabil, aber zugleich labil, weil sie nie liegen bleiben will und den Vorzug einer Bewegungsrichtung oder Lage nicht kennt, wird sie zu einem Wunder an Beweglichkeit. Kein anderer Gegenstand ist so geeignet, zu einem natürlichen Spielpartner zu werden. Einmal in Bewegung versetzt, fordert die überraschende Eigenwilligkeit der Kugel sofort wieder eine Reaktion heraus, und so hat, ehe man sich versieht, ein Spiel begonnen, ein Hin und Her von Anstoß und Bewegung.

      Jedes Spiel mit einem luftgefüllten Ball profitiert von diesen so wunderbaren wie wundersamen Eigenschaften der Kugel. Erst der flexible runde Ball kann jedoch – als eine Kugel, der gleichsam „auf die Sprünge geholfen“ wurde – nicht nur rollen, sondern er kann fliegen, als ob er von unsichtbaren Flügeln getragen würde, er kann große Sätze machen wie ein Känguru und so kleine Hüpfer, wie wenn ein Frosch drin säße. Erst der elastische Ball wird zu jenem tückischen Objekt, dessen Eigenbewegung nahezu unberechenbar wird. Weil der Ball sich so leicht – fast wie von selbst – bewegt, ist es nicht nur der Spieler, der mit dem Ball spielt, sondern der Ball selbst wird zu einem Gegenüber, das sich so verhält, als ob es einen eigenen Willen hätte. Deswegen ist der sinnlich erfahrbare, bewegliche, eigenwillige Ball das vollkommenste Spielgerät und für jedes Kind ein erster Freund.

      All das gilt nicht für den beim Rugby und beim American Football üblichen elliptischen „Ball“. Zwar hat auch er bestimmte Qualitäten – so kann er wegen seiner „Handsamkeit“ leicht gegriffen und getragen werden und hält wegen seiner aerodynamischen Form beim Pass des Quarterbacks auch über weite Entfernungen eine stabile Flugbahn –, doch alle Qualitäten der Rundheit, vor allem die freie Beweglichkeit, gehen ihm ab. Auch andere, runde Bälle haben bestimmte Eigenschaften, die den spezifischen Spielzwecken entsprechen. So sind etwa Hockey- oder Golfbälle massive Kugeln, die mangels Elastizität kaum eine Eigendynamik entwickeln. Auch der größere Handball ist so hart, dass er zwar eine Geschwindigkeit wie eine Kanonenkugel entfalten kann, dabei jedoch äußerst starr und unbeweglich bleibt. Im Gegensatz dazu sind Volley- und Basketbälle zwar extrem sprungfreudig, können aber – die einen, weil sie zu leicht, die anderen, weil sie nicht stabil genug sind – kein hohes Tempo über weite Entfernungen entwickeln. Erst dem Fußball gelingt, obwohl er in keinem der genannten Aspekte Höchstwerte erreicht, eine Mischung aus Größe, Härte und Weichheit, in der sich die verschiedenen Eigenschaften anderer Bälle vereinigen. Und genau das verleiht ihm, wie gleich zu zeigen sein wird, eine überraschende Vielfältigkeit des Spielverhaltens.

      Fußbälle können zwar ziemlich unterschiedlich sein – das zeigte die obige kurze Ballgeschichte –, aber das Grundlegende, nämlich rollen, können sie alle. Das Rollen ist die spezifische Differenz des Fußballs zu allen anderen, in Mannschaftssportarten verwendeten Spielgeräten. Während der Ball bei den mit der Hand geführten Sportarten von Spieler zu Spieler geworfen oder geschlagen wird, bleibt er nach einem vom Fuß erteilen Rollkommando zuerst einmal am Boden. Dort kann er dann, abhängig vom je verwendeten Material wie von der Beschaffenheit des Untergrunds, eine ziemliche Eigenwilligkeit entwickeln, die zu bändigen alle Spieler immer wieder vor größte Schwierigkeiten stellt.

      Fußbällen werden aber auch noch ganz andere Aufgaben abgefordert: Sie müssen nicht nur rollen, sondern auch weit fliegen, springen, abprallen und durch die Luft zischen können. Im Gegensatz zu anderen Bällen braucht der Fußball nicht in irgendeiner einzelnen Funktion perfekt zu sein; seine wichtigste Eigenschaft besteht vielmehr darin, möglichst viele Eigenschaften in sich zu vereinigen. Der Fußballer benötigt einen Ball, der für alle Situationen taugt. Gleich, ob er ihn nur zart antupft oder locker über den Gegner lupft, ob er ihn weit in den Raum passt oder hoch in den Strafraum zieht, ob er ihn weich ins Tor schiebt oder hart in die Maschen drischt, ob er ihn sanft streichelt oder grob gegen ihn tritt – es ist immer derselbe Ball, der all das mit sich machen lassen muss. Um all diese vielfältigen Funktionen erfüllen zu können, darf sich der Ball weder zu schwerfällig noch zu springfreudig zeigen. Es ist ein Spielgerät vonnöten, das in Größe und Schwere sowie in Härte und Nachgiebigkeit die rechte Mitte findet. Vermutlich lässt sich viel von der Faszination des Fußballspiels durch die Vielseitigkeit des Balles erklären. Der Reichtum jedenfalls, den die Fußballersprache zur Beschreibung der Eigenbewegungen des Balles bereithält, ist unvergleichlich. Wo sonst spricht man davon, dass der Ball „wie ein Hase“ über den Acker hoppelt oder „wie auf einem Strich gezogen“ in die Maschen rauscht, plötzlich abdriftet und an die Latte knallt? Dass er als „Flatterball“ den Torwart verwirrt, dass er ins Netz trudelt oder eine Weile auf der Linie tanzt, um dann im letzten Moment doch noch am Tor vorbeizukullern?

      Die Analyse des Fußballes zeigt, dass ihm im Vergleich zu anderen Bällen eine besonders ausgeprägte „Lebendigkeit“ zugeschrieben wird. Nur beim Fußball kann neben den Spielern auch der Ball selbst „laufen“, hat er „die beste Kondition“ und ist er widerborstig wie ein verzogenes Kind. Vor allem in Zeiten, als die per Hand gefertigten Bälle sich noch durch eine hohe Individualität auszeichneten


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