Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein

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Geheimnis Fussball - Christoph Bausenwein


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oder „Hooltra“ (gewaltbereiter Ultra) ist, gilt als „Normalo“. Doch auch die „normalen Zuschauer“ lassen sich noch differenzieren. Da gibt es die kleine Gruppe älterer Anhänger, die viel über die Tradition des Vereins wissen und eine Menge von lange zurückliegenden Erfolgen zu berichten wissen. Beim Anmarsch kaum zu sehen sind die so genannten VIPs. Sie bahnen sich mit ihren Limousinen einen Weg durch die Menge und parken unmittelbar hinter der Haupttribüne. Das Spiel verfolgen sie hinter Glas bei Sekt und Schnittchen in teuer angemieteten Logen oder auf extra abgesperrten Ehrenplätzen. Die größte Menge der heutigen Besucher bilden wenig auffällige Durchschnittsmenschen, auch Frauen sind darunter und viele Kinder. Die auf den billigeren Sitzplätzen, oft ehemalige Amateurfußballer, nörgeln viel und verlassen das Stadion, wenn es für das eigene Team nicht so gut läuft, oft schon vor dem Abpfiff. Auch bei den besser gestellten Leuten auf den etwas teureren Plätzen handelt es sich um recht kritische Konsumenten, die vor allem ein unterhaltsames Spiel und eine ihrem Eintrittsgeld entsprechende Leistung sehen wollen.

      Heute finden sich Menschen aus allen Bevölkerungsschichten in den Arenen des Fußballs zusammen. In der Verteilung der Zuschauer im Mikrokosmos Stadion (Logen, Haupttribüne, billige und teure Sitzplätze, Stehränge) spiegeln sich auch die Sozial-und Konfliktstrukturen der Gesellschaft. In den unterschiedlichen Formen der Teilnahme am Ereignis – die einen wollen vor allem ein schönes Spiel sehen, die anderen unbedingt einen Sieg ihrer Mannschaft, wieder andere wollen vor allem „die Sau“ rauslassen – zeigt sich ebenfalls, dass es keineswegs eine undifferenzierte Masse ist, die zuschaut. Anders als im wirklichen Leben sind es hier allerdings die auf den billigen Plätzen, die das Stadion lautstark als ihren Herrschaftsraum deklarieren. Das bessere Publikum betrachtet das Spiel interessiert-distanziert und begrüßt die Inszenierung des Volkes auf den Rängen als folkloristische Zugabe zu dem Erlebnis, für das man zahlt. Während man die zahlungskräftigste Schicht in den Logen während des Spiels kaum wahrnimmt, fallen die Möchtegern-VIPs auf der Haupttribüne vor allem durch ihr Schweigen auf und dadurch, dass die „La-Ola-Welle“ bei ihnen in der Regel verebbt.

      Leute, die vom Fußball keine Ahnung haben, können sich nur wundern über das, was da allwöchentlich passiert. Für diese Leute besteht der Fußball lediglich darin, dass 22 Spieler mit oft merkwürdigen Verrenkungen einen Ball hin- und herstoßen. Sie können nicht verstehen, was so anziehend sein soll an diesem Geschehen. Wie könnte man solchen Fußball-Banausen verständlich machen, was so reizvoll ist an einem Stadionbesuch? Soll man ihnen sagen, dass Fußball einfach ein tolles Spiel ist? Wie soll man ihnen aber erklären, dass man auch dann noch hingeht, wenn der Unterhaltungswert eines Spiels nicht größer ist, als wenn man 22 gemütlich grasenden Rinder zusieht? Und wäre ihnen nicht Recht zu geben, wenn sie behaupten, dass man ein Fußballspiel am Fernseher im Grunde viel besser verfolgen kann?

      Tatsache ist, dass es beim Besuch eines Fußballspiels nicht nur um Fußball geht. Die These, es gehe im Stadion auch um das, was durch die Besonderheit des Ortes erst möglich wird, ist keineswegs weit hergeholt. Die Verhaltensweisen und Erfahrungen der Besucher von Fußballspielen lassen sich von dem „physischen Milieu“, in dem sie stattfinden, nicht trennen. Überspitzt ausgedrückt: Die Gefühle, von denen der Fußballzuschauer ergriffen wird, verhalten sich zum architektonischen Raum, in dem sie stattfinden, wie die Software zur Hardware beim Computer. Ohne die besondere Konstruktion des Stadions würde nicht funktionieren, was das Besondere des Zuschauererlebnisses Fußball ausmacht.

      Die Arenen sind meist am Rande der Städte angesiedelt. Allein das weist sie bereits als Orte aus, die außerhalb des Normalen stehen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man ihre Konstruktion betrachtet. Stadien sind als ein in sich geschlossener Kreis konzipiert, der einen Innenraum von der Außenwelt abgrenzt. Indem die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit dem Geschehen in diesem Innenraum zuwenden, kehren sie dem gewöhnlichen Leben im wahrsten Sinne des Wortes den Rücken zu. Stadien sind besondere Orte, in denen die alltäglichen Normen für eine Weile außer Kraft gesetzt sind. Menschen legen draußen die Vernunft ab und überlassen sich ihren Gefühlen. Mit leerem Kopf, ganz Fußball, ballen sie sich zur Masse zusammen und artikulieren sich als solche.

      Dieser in sich und nach außen hin geschlossene Ring scheint mit geradezu ungeheuerlichen Phänomenen in Zusammenhang zu stehen. Nähert man sich während eines Spiels einem Stadion von außen, so kann man ein Jubeln und Brüllen, ein Keuchen und Ächzen vernehmen, das so wirkt, als käme es von einem einzigen Wesen und nicht von mehreren tausend verschiedenen Menschen. Man könnte den Eindruck gewinnen, so der Schriftsteller Georges Haldas, als habe man in der Arena „ein Fabeltier, halb Mensch, halb Reptil, oder halb Mensch, halb Stier, gefangen“, das einmal seine Wut und ein andermal seine Lust hinausstöhnt oder -brüllt. Neben den Lauten der Aggression und der Freude ist aber auch das gesittete Klatschen eines kennerhaften Publikums zu vernehmen, selbst inbrünstige Gesänge fehlen nicht. Kriegsgeschrei, ausgelassene Festlichkeit, Karnevalsstimmung, Konzert- und Theaterbegeisterung, religiöse Andacht – alles scheint da an ein- und demselben Ort versammelt, der zugleich „Schlachtfeld“, „Partysaal“, „Hexenkessel“, „Oper“ und „Kathedrale“ sein kann.

      Zwar beschränkt sich die Gemeinsamkeit der Zuschauer auf die Identifikation mit einer Fußballmannschaft: Sie sind nicht einfach nur beisammen, sondern getrennt nach Schichtzugehörigkeit und Alter auf verschiedene Ränge verteilt. Dennoch gilt in gewisser Weise für das gesamte Stadion, dass nach dem Lösen einer Eintrittskarte alle Zuschauer ihre Individualität abgelegt haben und die Zeit des Spiels tendenziell zu einer Zeit der Gleichheit wird. Alle haben Fußball im Sinn – insofern unterscheidet sich der Generaldirektor als Zuschauer nicht vom kleinsten Angestellten seines Betriebs, ja nicht einmal vom neunjährigen Sohn des Nachbarn. Alle legen am Stadioneingang die Verkleidungen der Person ab und nehmen im gleichen Wasser ein Gefühlsbad. Die Differenz besteht lediglich darin, dass die einen (die auf den Fanblöcken) kopfüber hineinspringen, während die anderen (die auf den Sitzplätzen) sich mal nur kurz nass machen oder (die in den Logen) lediglich den kleinen Zeh hineinhalten.

      Jedes Stadion ist ein spezieller Ort der Enthemmungen, wie sie sonst im öffentlichen Raum in so massiver und massenhafter Form nicht vorkommen. Wenigstens ansatzweise findet in einem Fußballstadion ein kollektiver emotionaler Ausstieg statt, bei dem all die Rollenzwänge und Verhaltensmaßregeln, die den gewohnten Ablauf des Lebens bestimmen, für eine begrenzte Zeit aufgebrochen, ja abgelegt werden können. Während der Alltag Pause hat, ist erlaubt, was sonst verboten ist, hier darf die Sau raus, die sonst im Stall bleiben muss. Wildfremde Menschen dürfen sich um den Hals fallen, sich ungebremstem Jubel hingeben, ungeniert brüllen, johlen, pfeifen und mit unflätigsten Flüchen und Beschimpfungen um sich werfen, oder, frei von jeder Scham, ihrer Verzweiflung freien Lauf lassen.

      Die Aufhebung der Verbote und die Befreiung von den Lasten und Zwängen des Alltags schaffen im Fußballfest eine Zeit für Gefühle aller Art. Fröhliche Ekstase ist nicht ausgeschlossen, genauso wenig aber auch das übelste Ressentiment aus der untersten Schublade der Vorurteile. Leute, denen man das außerhalb des Stadions nie zutrauen würde, versteigen sich zu Hasstiraden, andere geben rassistische Schmähungen von sich, bei einigen führt die Erregung zum Gewaltausbruch. Wegen dieser bösen Seiten der Enthemmung, die nicht nur mit der Alkoholisierung zu tun haben, galt der Fußball lange als nicht gesellschaftsfähig. Vor allem in den letzten Jahrzehnten hat man mit vielen Verboten, zahlreichen Sicherheitsmaßnahmen und hoher Polizeipräsenz versucht, das Fußballereignis zu reglementieren und zu zivilisieren. Darunter hat dann auch die positive Stimmung unter den Fans gelitten, so dass die Spieltage wohl nicht mehr ganz so tolle Tage sind wie früher. Trotzdem: Immer noch zeigt ein vollbesetztes Stadion von der äußeren Erscheinung her Ähnlichkeit mit den wilden und ungezügelten Formen des karnevalistischen Treibens. Fans haben sich verkleidet, ihre Gesichter sind bemalt, sie schwenken aufgeblasene Bananen, werfen Konfetti, machen Lärm mit Tröten und Rasseln, zünden Räucherkerzen an, früher durften sie auch noch riesige Fahnen schwenken und Feuerwerk machen. Kurzum: Die Fußballzeit ist und bleibt eine Zeit des Sich-Auslebens und des Überschwangs der Triebe, oder wie es einmal der Journalist Horst Vetten ausdrückte: „Im Fußballstadion pupt die Volksseele, hier darf sie.“

      Auch wenn sie dies heute zum Teil – in England seit der Saison 1994/95 gänzlich – im Sitzen tun müssen, stehen die Fans mit einer Unbedingtheit hinter ihrer Mannschaft, die keine Aufforderung von den Spielern


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