Grosse Schwester Schimmel. Lise Gast

Читать онлайн книгу.

Grosse Schwester Schimmel - Lise Gast


Скачать книгу
die Möglichkeit haben, ihre Schulbildung abzuschließen? Es wäre unwahrscheinlich schön!

      *

      Am nächsten Morgen stand Schimmel mit klopfendem Herzen neben Doktor Gerstenberg vor dem großen Internatshaus, das an einem Hang lag und dessen Garten in die wunderschönen Harzwälder überging. „Und wenn es hier nichts wird, will ich auch nicht meutern“, gelobte Schimmel sich. Sie gingen einige Stufen hinauf, und durch einen Windfang gelangte man in eine hohe getäfelte Halle. Dem Eingang gegenüber stand ein Flügel. Ein Mädel, wohl ebenso alt wie Schimmel, saß davor und spielte. Schimmel erkannte das Stück sofort, ein Impromptu von Schubert. Fast traten ihr Tränen in die Augen: wie oft hatte Vater es gespielt. Ob man hier auch Musikstunden haben konnte?

      Sie wurden vor den Direktor geführt. Es war ein großer, breiter, älterer Herr mit Augen, die einem hätten Angst machen können – weil man merkte, daß sie durch und durch sahen –, wenn sie nicht so gütig geblickt hätten. Schimmel machte einen für eine Sechzehnjährige viel zu tiefen Knicks. Und dann hörte sie Doktor Gerstenberg sprechen! Wie gut, daß er hier war. Wieder wie schon oft in ihrem Leben fühlte sie, daß sie überall jemand fand, der ihr half, ganz von sich aus half.

      Der Direktor hörte den jungen Kollegen freundlich und geduldig an. Sicherlich, es wäre schon möglich, das Mädel nach den großen Ferien aufzunehmen, probeweise zunächst, für vier Wochen. Sie müßten natürlich einen schriftlichen Antrag einreichen. Ob sie ihn schon mit hätten? Und einige Angaben der Mutter über die Lage der Familie seien auch notwendig.

      „Meine Mutter weiß noch gar nichts davon“, stammelte Schimmel, als er schwieg. Sie sah ängstlich einen Augenblick auf, da bemerkte sie, daß es um den Mund des Gewaltigen zuckte, belustigt und wohlwollend. Er nahm es nicht krumm, im Gegenteil.

      „Na, dann sprechen Sie mal schleunigst mit Muttern, das tut man eigentlich vorher“, sagte er gutmütig; „aber sagen Sie immerhin, der alte Direktor freut sich, daß es noch so mutige Frauenzimmer gibt. Meine Fürsprache haben Sie, und wenn Sie in der Schule so wacker sind wie im Leben, dann wird’s nicht fehlen.“ –

      „Wir haben es geschafft!“ Doktor Gerstenberg lachte, als sie, Schimmel leicht taumelig vor Aufregung, gleich darauf den steilen Gartenweg hinunterliefen. „Wenn wir diese Fürsprache haben, kann es nicht mehr schief gehen!“

      „Sie sind ein Optimist“, sagte Schimmel und fuhr sich übers Gesicht. „Von ‚geschafft‘ kann noch gar keine Rede sein! Wenn ich jetzt versage?“ –

      „Sie und versagen“? rief der junge Lehrer entrüstet. „Das wäre ja noch schöner. Er sagt doch selbst: Wenn Sie in der Schule so wacker sind wie im Leben, geht alles großartig.“

      „Sie überschätzen mich“, seufzte Schimmel, „alle überschätzen mich. Ohne Sie hätte ich mich gar nicht hergetraut.“

      „Jetzt aber wird ein Eis gegessen, so wahr ich Karl Gerstenberg heiße.“ Gemeinsam berichteten sie dann Uli über den Hergang der Unterredung.

      Während Uli und sein Lehrer sich ein wenig in der Stadt umhertrieben, fuhr Schimmel zu dem Kinderheim zurück, um die Zwillinge in Fahrt zu setzen.

      Gemeinsam verbrachten sie dann die Mittagszeit, eingehend erörterte Schimmel noch einmal die ganze Lage mit ihrem Bruder, sie war glücklich, sich mit ihm, dem Vertrauten ihrer Kindheit, mal wieder aussprechen zu dürfen: die neue Heimat in Holdershausen, die Mutter, die sich ihrer Wesensart entsprechend mit ganzer Kraft der landwirtschaftlichen Arbeit zugewendet hatte, um dem langsam alternden Großvater zur Seite zu stehen, ihre eigene Stellung unter den Geschwistern, denen sie sich mehr als bisher widmen mußte, und schließlich ihre Berufshoffnungen. Sie hatten Gesprächsstoff genug und empfanden Gerstenbergs Anwesenheit dabei keineswegs als störend, im Gegenteil, er konnte manchen einleuchtenden Rat beisteuern. Mit Verwunderung bemerkte Schimmel dabei erneut das zwanglos kameradschaftliche Verhalten zwischen Uli und seinem Lehrer. Ob sie es auch einmal so schön haben würde? –

      Und doch war ihr nicht ganz wohl zumute, als sie dann am Nachmittag wieder allein auf der Landstraße dahinradelte. Sie hatte sich von den beiden Männern getrennt, die wieder in ihr Heim zurückkehrten, während sie jetzt ohne Umweg unmittelbar auf Holdershausen zufuhr. Sie hatte kaum ein Auge für die sommerlich im Sonntagsfrieden daliegende Landschaft, die immer wieder an ihr vorbeihuschenden Autos und Räder vermochten sie nicht zu stören. Denn unaufhörlich ging es ihr im Kopf herum, was sie sich nun durch den Besuch bei dem Direktor eigentlich eingebrockt hatte, zumal da sie ja – abgesehen von allem anderem – große Lücken in ihren Schulkenntnissen hatte. Es war natürlich günstig, vier Wochen zum Probeunterricht kommen zu dürfen, viel besser, als eine Aufnahmeprüfung zu machen. Es sah wirklich so aus, als sollte es etwas werden.

      Man soll sich nichts im Leben erschleichen wollen, hatte der Vater immer gesagt. Vater hatte sicherlich recht gehabt. Aber heute, wo die Verhältnisse so schwierig waren, wo es um die Zukunft ging, um die Ausbildung, um den Beruf? – Aber sie wollte ja auch arbeiten, wollte so fleißig sein wie nur irgendeine, sie wollte alles tun was nur irgend verlangt werden würde. – Als sie spät am Abend heimkehrte, waren schon alle zur Ruhe gegangen. lediglich die Mutter erwartete sie, der sie nun noch eingehend berichten mußte, von Uli, von Gerstenberg, von den Zwillingen. Es kam ihr wie ein Unrecht vor: aber von der Besprechung mit dem Direktor schwieg sie. –

      II

      Schimmel hörte den Wecker und tippte ihm wütend auf den Knopf, um die Glocke abzustellen. Sie war schrecklich müde. Gestern hatte sie noch so lange an der Fertigstellung der Girlanden und Sträuße gesessen, bis nach eins; Neuchen hatte schließlich energisch „Hüttenruhe“ geboten. Jetzt mußte sie aber schleunigst aufstehen. Eine reine Freude war das Aufstehen nicht immer; aber heute war ja ein großer Feiertag!

      Ein ganz großer sogar: Großvaters siebzigster Geburtstag, dazu Sonntag und Sonnenwende. Auf, auf, es war höchste Zeit! Denn an diesem Tag ging die Sonne so zeitig auf wie sonst nie im Jahr, und Großvater war immer mit der Sonne wach. Sie aber wollten ihm zuvorkommen, sonst fiel der ganze Plan ins Wasser.

      Schimmel huschte ins Bad und wurde nun völlig munter. Es war doch wieder ein herrliches Gefühl unter der Dusche zu stehen. Rasch die Haare durchgebürstet und hinüber zu den Kleinen! Na, das würde ein Theater geben, ehe man die wach bekam! Sie mußten hinterher wieder ins Bett, sonst würden sie überall nur Unheil anrichten. Schimmel ahnte dumpf, daß dieses „Ins-Bett-müssen“ wesentlich schwieriger sein würde als das an sich schon mühsame „Ausdem-Bett“. Denn wenn die Mädel erst einmal wach waren, waren sie meist allzu wach.

      Brita zeigte sich am nachgiebigsten. Sie rutschte gutwillig aus dem kurzen Kinderbett und knotete sich die aufgegangenen Zöpfe im Nacken zusammen. Plisch knurrte wütend, als ihr Schimmel das Deckbett wegzog, und Plum fing sogar an zu weinen. Aber Plums Blockflöte war nicht zu entbehren; Schimmel bemühte sich, die Schwester durch gute Worte zu ermuntern, obwohl sie selbst etwas ungeduldig war.

      Endlich standen sie alle zusammen im Flur, die Kleinen in den Nachthemden, Mutter im Bademantel, nur Schimmel angezogen. Du großer Schreck, jetzt hatte sie doch wirklich die Rosen vergessen!

      Sie stürzte davon. Zum Glück war die Haustür schon offen. Der Rasen vor dem Haus war weiß betaut, und eine herrliche Luft schlug ihr entgegen. Ach, man konnte ja an einem so schönen Morgen nicht schlechter Laune bleiben!

      Sie lief über das Rondell zu den Rosen, pflückte nur drei, die noch halbgeschlossen waren. Ihr war, als sehe sie zum erstenmal, wie überirdisch schön solche Knospen sind. Die Blätter wie zart gefaltet, mit silbernen Perlen an den Spitzen.

      Ganz vorsichtig und beinahe feierlich kam sie zurück, die Rosen in der Hand, und es war, als würden die andern von ihr angesteckt. Sie zankten sich nicht mehr halblaut und stießen sich nicht gegenseitig um den angeblich besten Platz, sondern stellten sich lautlos vor Großvaters Tür auf, und dann gab Mutter den Ton an.

      Großvaters Lieblingschoral: „Bis hierher hat mich Gott gebracht.“ Eigentlich müssen Choräle wohl tief und stark gesungen werden, aber das ging mit den Kinderstimmen nicht. Sie hatten ihn dreistimmig eingeübt, Mutter sang dritte


Скачать книгу