Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert

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Thomas Mann. Die frühen Jahre - Herbert Lehnert


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es wohl in allen Gefühlsverhältnissen des Lebens ein zarteres, edleres und innigeres, als die leidenschaftliche und doch schüchterne Liebe eines Knaben zu einem anderem? Solch eine Liebe, die niemals spricht, sich niemals in einer Liebkosung, einem Blick, einem Worte Luft zu machen wagt, solch eine sehende Liebe, die tief trauert über einem Mangel oder einem Fehler bei dem, den sie liebt, die Sehnsucht und Bewunderung und Selbstvergessen, Stolz, Demut und ruhig atmendes Glück ist![108]

      Dieses Gedicht in Prosa musste Thomas Mann ermutigen, von homoerotischen Freundschaften wie derjenigen zwischen Kai Graf Mölln und Hanno Buddenbrook und zwischen Tonio Kröger und Hans Hansen zu erzählen. Niels Lyhne dürfte Thomas Mann zudem angesprochen haben aufgrund der ambivalenten Gottlosigkeit des Dichters: Niels »nahm Partei – so weit er es konnte – gegen Gott, aber wie ein Vasall, der gegen seinen rechtmäßigen Herrn zu den Waffen greift, denn er glaubte noch und konnte den Glauben nicht forttrotzen.«[109] Niels’ »Idee«, dass der Mensch ohne Furcht vor der Hölle und ohne Hoffnung auf das Himmelreich seine wahre Freiheit gewinnen und liebend für die Erde sorgen wird, stellt sich die Einsicht entgegen, das Ergebnis des Atheismus sei »eine desillusionierte Menschheit«.[110] Am Ende bleibt Niels gottlos: Schwer verwundet im deutsch-dänischen Krieg von 1864 und unter Schmerzen hält er an seiner Überzeugung fest.

      Die psychologische Einsicht einer Figur zitiert Thomas Mann in Tonio Kröger: »Wo Menschen lieben […] da muss immer der sich demütigen, der am meisten liebt.« (2.I, 246) Das ist ein fast wörtliches Echo aus Jacobsens Erzählung Frau Fönß.[111] 1903 schrieb Thomas Mann einem dänischen Autor, der eine Einleitung zu Buddenbrooks schreiben sollte: »vielleicht ist es J. P. Jacobsen, der meinen Stil bis jetzt am meisten beeinflusst hat« (21, 233). Er meint wohl den Stil einer skeptischen Moderne.

      In seinem Aufsatz über Knut Hamsun Die Weiber am Brunnen schrieb Thomas Mann Ende 1921: »Ich habe ihn immer geliebt, von jung auf. Ich fühlte früh, dass weder Nietzsche noch Dostojewski im eigenen Land einen Schüler dieses Ranges hinterlassen haben.« Schon der junge Thomas Mann war empfänglich für Hamsuns Romane Hunger (1891), Mysterien (1894), Pan (1895) und Victoria (1899) (15.I, 472 f.). Diese Texte handeln alle von Außenseitern, die sich nicht in die Gesellschaft der anderen einpassen wollen.[112]

      Seit 1890 hatte Heinrich sich für Edgar Allan Poes Erzählungen interessiert.[113] Dieses Interesse hat er an seinen Bruder weitergegeben, der in Buddenbrooks Kai, den Schulfreund Hannos, sich für die Erzählung von dem Untergang des Hauses Usher begeistern lässt (1.I, 789). Außer für die Erzählungen Poes hat Heinrich, soweit ich sehe, sich wenig für englischsprachige Literatur interessiert. Auch Thomas scheint lange keine englischen Autoren studiert zu haben, allerdings abgesehen von Shakespeare. Anfang 1901, Buddenbrooks war im Druck, schrieb er »Dickens, Thackeray« in sein Notizbuch 4 (Nb.I, 195 f.) wahrscheinlich als Autoren, die er kennen sollte. 1922 nannte er Charles Dickens und William Thackeray unter den Autoren, die Einfluss auf Buddenbrooks genommen hatten, zusammen mit den Norwegern Kielland und Lie, Tolstoi und dem Roman Renée Mauperin der Brüder Goncourt (15.I, 510). Ihm lag wohl an stilistischer Ähnlichkeit, ein gründliches Studium von Thaceray beweist diese Äußerungen nicht.

      Mindestens ein Roman von Charles Dickens hat Eindruck auf ihn gemacht: Verkehr mit der Firma Dombey & Sohn, Engros, Detail und Export, Reclam 1896, eine Übersetzung von: Dealings with the Firm of Dombey and Son: Wholesale, Retail and for Exportation (1848), gewöhnlich »Dombey and Son« genannt. Dieses Buch ist in Thomas Manns Nachlassbibliothek erhalten. Sein Thema ähnelt dem der Buddenbrooks: Im Mittelpunkt steht ein stolzer Geschäftsmann, der seine Umwelt mit seinem Geld regieren will, jedoch endet seine Firma im Konkurs. Dombey missachtet seine Tochter Florence, doch die stellt sich am Ende als die einzige heraus, die ihn liebt, nach dem Muster von Shakespeares King Lear. Im Oktober 1901, als Buddenbrooks erschienen war, beauftragte Thomas Mann Grautoff, Dickens in seiner Besprechung als Einfluss zu nennen (21, 179).[114] Das Werk George Bernard Shaws hätte den jungen Thomas Mann interessieren sollen, weil es die alten Konventionen bekämpfte, auch weil Shaw Wagnerianer war. Aber Shaws Name erscheint erst 1913 in einem Brief (21, 509).

      Mit Shakespeare, vornehmlich in der deutschen Übersetzung der Romantiker um Ludwig Tieck, war Thomas Mann vertraut, wie viele Anführungen in den Essays beweisen. In dem Essay Bilse und ich nennt er Shakespeare »den ungeheuersten Fall von Dichtertum«. Am 11. Juli 1900 schreibt er an Grautoff von einem besonders intensiven Erlebnis einer Aufführung von Hamlet in München (21, 120).

      Thomas Manns lebenslange Sympathie für Russland und die Russen beruht auf ausgiebiger Lektüre von russischer Prosa in deutscher Übersetzung.[115] Mehrmals hat er geäußert, Tolstoi habe ihn gestärkt, Buddenbrooks zu schreiben. Tolstois Krieg und Frieden zeigte dem Anfänger, wie man in kleinen Kapiteln historische Situationen konkret-lebendig darstellen kann. Thomas Mann tat es ihm nach in den ersten Kapiteln von Buddenbrooks.[116] In Notizbuch 2, das er 1897 in Palestrina begonnen hatte, findet sich ein Auszug aus der Übersetzung von Anna Karenina, die 1890 bei Reclam erschienen war, die er aber nicht für Buddenbrooks benutzte.[117] Vermutlich hatte er Anna Karenina schon früh gelesen. In dem Roman wirbt Tolstoi für eine konservative und religiöse Familienethik,[118] aber er gibt dem Leser Einblick in das Innere dieser Frau, die sich von einem Mann befreit, den sie nicht liebt und erlaubt seinen Lesern, mit ihr zu sympathisieren, obwohl dies seiner religiös-konservativen Ideologie nicht entspricht. In seinem Aufsatz Anna Karenina von 1939 meint Thomas Mann, Tolstoi habe seine Figur Anna geliebt und die Gesellschaft geißeln wollen, weil sie den »Liebesfehltritt« der stolzen und edelsinnigen Frau mit Grausamkeit bestrafe (Essays V, 47 f.). Viele Informationen über Tolstoi bezog Thomas Mann aus Dmitri Mereschkowskis Buch Tolstoi und Dostojewski (deutsch 1903).

      Das Vorbild Iwan Turgenjews wirkte vor allem auf Thomas Manns Erzählungen.[119] Seit »langen Jahren«, schreibt er 1898 an Grautoff, habe Turgenjew ihm Anregung gegeben (21, 105). 1921, im Vorwort zu Russische Anthologie, erinnert er sich, das Bild von Turgenjew habe lange auf seinem Schreibtisch gestanden, daneben eines von Tolstoi. Turgenjew habe er »der lyrischen Exaktheit seiner bezaubernden Form« wegen geschätzt, den moralistischen Tolstoi als »Träger epischer Riesenlasten« (15.I, 335).[120] Ein Tagebucheintrag vom 16. Mai 1919 berichtet von einer erneuten Lektüre von Turgenjews Roman Die neue Generation, »an der ich Klarheit, Maß, Übersichtlichkeit, kurz das Französische am meisten bewundere«. Eine Romanfigur habe ihn (während der früheren Lektüre) zur Komik Grünlichs in Buddenbrooks angeregt. Sipjagin ist ein regime-treuer, konservativer russischer Beamter, der sich als Liberaler ausgibt. Turgenjew charakterisiert dessen Falschheit indirekt. Diese indirekte Charakterisierung von Figuren empfand Thomas Mann als »lyrische Exaktheit« und als modern.[121]

      Ein Brief Thomas Manns an Korfiz Holm vom 7. Juni 1898 spricht lobend von Tschechows Erzählung Das Duell (Briefe I, 9), die Holm übersetzt und veröffentlicht hatte. Offenbar war das sein erster Kontakt mit Tschechows Prosa, die er später sehr schätzte, wie sein Essay von 1954 beweist.

      Der Lehrer Brandes

      Bruder Heinrich besaß das große Werk des Dänen Georg Brandes Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts und hatte es gründlich studiert. Darin folgte ihm sein Bruder nach. In seinem Essay Kritik und Schaffen, erschienen in Das Zwanzigste Jahrhundert von 1896, nennt Thomas Mann Georg Brandes neben Charles Augustin Sainte-Beuve und Jules Lemaître, die er durch Brandes kennen gelernt hatte. Diese »Kunstkenner« seien »neugierige, feingeistige Menschen, immer auf der Suche nach einer künstlerischen Persönlichkeit, in der sie verschwinden, in der sie aufgehen, in die sie sich verwandeln können«. Der Kritiker dürfe ein »Überlegenheitsgefühl« über den naiven Künstler haben, einen »Willen zur Macht« (14.I, 48 f.). Kritik sei Spiel mit Einfühlung in die Rollen der Erzähler und Figuren. 1898, als er sich von Heinrich und von dessen Brandes-Ausgabe trennte, schaffte er sich seine eigene an.

      Brandes’ Hauptströmungen bilden die Grundlage für Thomas Manns literarische Bildung. Thomas Mann hat das nur gelegentlich öffentlich anerkannt.[122] Einige späte Erwähnungen Brandes’ zeugen für seinen Respekt. Ein Brief, den


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