Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert
Читать онлайн книгу.Gerhäuser sang als Gast in der Spielzeit 1893–1894, Thomas Manns letztem Jahr in Lübeck, in Lohengrin und Tannhäuser.[67] Auf »die gewaltigen Wagner-Gerhäuser-Abende« blickt Thomas Mann in der Besprechung einer Operette im Frühlingssturm! zurück (14.I, 24).
In Rom erlebte er 1897, wie der Kapellmeister Vessella Wagners Musik gegen opponierende Liebhaber italienischer Musik durchsetzte. Eine nicht erhaltene Notiz von diesem Ereignis ist in die Betrachtungen eines Unpolitischen eingegangen (13.I, 88–90). In Buddenbrooks leitet die Erinnerung an einen Besuch der Oper Lohengrin Hannos schlimme Erfahrungen in der Schule ein. Buddenbrooks enthält die bedenkenswerte Wagner-Kritik des Organisten Pfühl. Sehr früh, wahrscheinlich schon in Lübeck, las Thomas Mann Nietzsches geistreiche satirische Schrift Der Fall Wagner mit Zustimmung und Genuss. Er kritisiert Wagner als Person, aber bewundert seine Größe als Komponist und liebt seine Musik. Öffentlich wird seine Kritik Wagners als wesentlicher Bestandteil des bürgerlichen Theaters mit dem Versuch über das Theater (1907).
Thomas Manns übernimmt in seiner Prosa oft Wagners epischen Aufbau seiner Musikdramen aus Motiven, die durch Wiederholungen den musikalischen Zusammenhalt des Werkes bekräftigen (so genannte »Leitmotive«). Manns Prosa kann wie eine Partitur gelesen werden, die auch komische Anspielungen enthält. Die Handlung von Buddenbrooks kann man als Parodie von Der Ring des Nibelungen lesen: Wie Wagners Ring beginnt der Roman mit einer Hauseinweihung und einer Geldforderung. In Manns Novelle Tristan übernimmt ein Schriftsteller, mehr komisch als tragisch, die Rolle von Wagners Tristan in Tristan und Isolde, was nicht hinderte, dass die Handlung der Novelle Isolde / Gabriele liebend in ihren Tod treibt. Eine Zeit lang versäumte der junge Thomas Mann in München keine Aufführung von Tristan und Isolde (21, 121).
Sexualpsychologie
Von Bruder Heinrich wissen wir, dass er 1891 Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis gelesen hat.[68] Wahrscheinlich las er das Buch mit Gedanken an den jüngeren Bruder und empfahl es ihm zwei Jahre später, vermutlich 1893, als er längere Zeit mit Thomas in Lübeck zusammen war. Dieser erwähnt die Lektüre Krafft-Ebings in einem Brief an Otto Grautoff vom 10. Juli 1896.[69] Er habe das Buch in der Zeit seiner »völlige[n] körperlichen Entwicklung« gelesen. Das war wohl das Frühjahr 1893, als Mann achtzehn Jahre alt wurde und vertrauten Umgang mit Heinrich hatte. An Grautoff schreibt er, dass ihm durch die Lektüre von Krafft-Ebing und dem Psychiater Albert Moll bewusst geworden sei, was der »W.-Roman« bedeutet habe. Er meint seine verdrängte Liebe zu seinem Mitschüler Willri Timpe. »Hässliche[ ] Tragikomödien« hätten sich in ihm nach dem Bewusstwerden von Krafft-Ebing und Moll abgespielt. Deren Sexualpathologie brachte ihn zu der Einsicht, dass sein homoerotisches Verlangen keine vorübergehende Entwicklungsstörung war, sondern, dass er anders fühlte als die Mehrheit der Männer.
Obwohl für Ärzte und Juristen bestimmt, die sich mit sexuellen Anomalien befassten, wurde Krafft-Ebings Werk als Aufklärungsbuch gelesen. Krafft-Ebing nennt die Homosexualität »conträre Sexualempfindung« und behandelt sie in allen Auflagen, ausgenommen der letzten von 1902, als Krankheit. Er hatte, was in Wahrheit nur soziale Vorurteile seiner Zeit waren, zu physiologischen Bedingungen erklärt, darunter die sexuelle Passivität der Frau,[70] oder, dass »eine sozialen sittlichen Interessen dienende sexuelle Stellung des Weibes nur als Ehefrau denkbar« sei.[71] Zugutezuhalten ist ihm jedoch, dass er – der herrschenden Meinung entgegen – dafür eintrat, dass Homosexualität angeboren sei und darum nicht strafbar sein dürfe. Allerdings verstand er die Sexualität als nur der Fortpflanzung dienend und bestand darum lange darauf, auch die angeborene Homosexualität als eine krankhafte Anomalie anzusehen. Erst in der 12. Auflage, die nach seinem Tod 1902 erschien, hörte Krafft-Ebing auf, die Homosexualität als Krankheit zu erklären. Er hielt »erworbene« Homosexualität für möglich und für heilbar, wenn der Patient nicht entschieden gegen weibliche Sexualität abgeneigt war.
Großen psychischen Schaden muss unter Homosexuellen damals eine Überzeugung Krafft-Ebings angerichtet haben, die er mit der damaligen Medizin teilte: Masturbation könne »Neurasthenie« zur Folge haben, und diese könne Homosexualität hervorrufen.[72] Das musste bei jungen Männern mit homosexuellen Trieben Schuldgefühle erwecken und Selbstverachtung zur Folge haben.[73] Durch Einfluss von Homosexuellen erworbene Homosexualität hielt Krafft-Ebing für behandelbar. Er empfiehlt Willensakte, Verhaltenstherapie und, mit zögernder Vorsicht, suggestive Hypnose, als Mittel, den »conträren« Trieb zurückzudrängen. Folgen der Krafft-Ebing-Lektüre und des allgemein herrschenden Mangels an Wissen über die menschliche Geschlechtlichkeit zeichnen sich in den viel späteren Tagebüchern Thomas Manns ab. Dort verzeichnet Thomas Mann »Pollutionen« und auto-erotische Handlungen mit Ärger und Selbstkritik, vermutlich aus Angst vor den von Krafft-Ebing behaupteten Folgen.[74]
Krafft-Ebing zitiert und erwähnt mehrfach das Buch von Albert Moll, Die conträre Sexualempfindung (1891),[75] das er mit einem Vorwort versehen hatte und das mehrere Auflagen erlebte. Moll behandelte Probleme der Psychiatrie in Die Zukunft,[76] einige seiner Artikel in dieser Zeitschrift handelten von Forschungen zur Hypnose,[77] über die er auch Bücher veröffentlichte. Die verschiedenen Phänomene der »conträren Sexualempfindung«, auch die psychischen, beschreibt er sachlich. Verweiblichung komme vor, sei aber nicht die Regel. Moll hält Homosexualität in den allermeisten Fällen für angeboren, wenn er sie auch, wie Krafft-Ebing, für eine krankhafte Perversion erklärt. Homosexualität entstehe aus einer Degeneration des Nervensystems.[78] Er sagt aber auch, Homosexuelle seien keine »entnervte Gruppe«, es gebe kräftige und gesund aussehende Menschen unter ihnen,[79] Homosexualität komme häufiger in der »besseren Gesellschaftsklasse« vor, weil es dort mehr nervöse Veranlagung gebe.[80] Moll schreibt auch, dass es Homosexuelle gebe, deren Liebe sich nur psychisch äußere.[81] Er argumentiert gegen die üblichen Vorurteile, tritt dafür ein, »widernatürliche Unzucht« nicht mehr zu bestrafen und führt berühmte Männer an, die wahrscheinlich homosexuell waren: Michelangelo, Shakespeare, Winckelmann, Prinz Heinrich von Preußen, Platen und Ludwig II. von Bayern. Moll bestreitet die Gerüchte über die Homosexualität Friedrichs II. von Preußen. Obwohl er eine Therapie für wenig aussichtsreich hält, will er ihre Möglichkeit nicht ganz ausschließen. Für relativ erfolgversprechend hält er sie im Fall der Bisexualität, die er »Hermaphrodisie« nennt.[82]
In München behandelte Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing Homosexuelle, geleitet von der Annahme, dass die Homosexualität eine krankhafte Störung sei, die in der frühen Jugend eine Ursache habe und durch Hypnose zu heilen sei. Schrenck-Notzing verfasste die Monographie Die Suggestions-Therapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung (1892). Er hatte schon 1888 einen Homosexuellen durch Hypnose dahin gebracht, dass er in einem Bordell einen normalen Coitus vollzog.[83] Vermutlich war der Geheilte bisexuell. Seitdem behandelte Schrenck-Notzing Homosexuelle in seiner Münchener Praxis und beschrieb Erfolge in einem Buch.[84] Durch Experimente mit Hypnosen, die in metaphysische und parapsychologische Bereiche vordringen wollten, machte er von sich reden. Thomas Mann muss von ihm gewusst haben. Er notierte sich seine Adresse erst nach Januar 1899 in Notizbuch 3 (Nb.I, 167).[85] In den zwanziger Jahren nahm er an Schrenck-Notzings Experimenten teil. Thomas Manns Pläne zu einem Berlin-Aufenthalt im August 1895 könnten eine mögliche Konsultation Albert Molls vorgesehen haben. Die erhaltenen Briefe an Otto Grautoff lassen allerdings eher den Schluss zu, dass Thomas Mann sich entschieden hatte, mit seiner Bisexualität zu leben. Er fuhr damals nicht nach Berlin.
Die Briefe an Otto Grautoff I
Eine allzumenschliche Seite des angehenden Schriftstellers Thomas Mann lernen wir kennen in seinen Briefen an den Lübecker Schulfreund Otto Grautoff. Im Lebensabriss von 1930 charakterisierte Thomas Mann die Beziehung zu diesem Freund, auf die Schulzeit zurückblickend, so:
Fast während der ganzen Dauer dieser stockenden und unerfreulichen Laufbahn verband mich mit dem Sohn eines fallierten und verstorbenen Buchhändlers eine Freundschaft, die sich in phantastischem und galgenhumoristischem Spott und Hohn über »das Ganze«, namentlich aber über die »Anstalt« und ihre Beamten bewährte.[86]
Die