Valentin. Regina Mars
Читать онлайн книгу.schlackrigen Arme, die Hühnerbrust, die dünnen Beinchen.
»Ne, lass mal«, sagte Jayson. »Du musst doch lernen oder so. Aber, hey, nachher zischen wir ein paar Bierchen. Bist du dabei?«
»Äh, ich habe wirklich viel zu tun. Sehr viel«, behauptete Valentin und flüchtete. Er hatte sehr viel zu tun! Sich zu überlegen, wie er diesen Jayson Käsebier aus seiner Wohnung bekam, ohne allzu unhöflich zu werden, zum Beispiel.
3. Das Schicksal des Hühnerdiebs
Das Rumpeln und Quietschen von Jaysons Einzug drang durch die geschlossene Tür. Valentin schob sich die dicken Kopfhörer über die Ohren. Die abgewetzte Stelle, an der der Schaumstoff durch das Kunstleder drang, kitzelte. Er wählte »Sommer« aus den Vier Jahreszeiten und starrte auf den Bildschirm.
Um seinen alten Laptop herum türmten sich Bücher. Recherchematerial. Sie erinnerten Valentin daran, dass er immer noch nicht genug über die Gepflogenheiten auf dem Markt im 17. Jahrhundert wusste. Im ersten Entwurf hatte er sogar einen Kartoffelhändler auftreten lassen! Ein Anfängerfehler, der ihn immer noch wurmte. Jedes Schulkind lernte doch, dass Kartoffeln erst seit 1756 großflächig auf deutschen Feldern angepflanzt wurden. Im Schreibrausch des ersten Entwurfs hatte er nicht mehr nachgedacht und getippt wie ein Wilder, nur, um danach mit einem Manuskript voller Recherchefehler und Anachronismen dazustehen. Entsetzlich.
»Das muss besser werden«, murmelte er. Außerdem war die Szene, in der Hinrich, der junge Schauspieler, von dem Stallburschen beim Hühnerdiebstahl erwischt wurde, furchtbar steif geschrieben. Kein Wunder, die Szene war vier Jahre alt. Das konnte er inzwischen doch viel besser! Entschlossen begann er, zu tippen.
»Heda!«, brüllte eine mächtige Stimme.
Hinrich fuhr herum. Die Henne gackerte, wand sich und entfloh seinen Armen. Seinen viel zu schmächtigen Armen. Was hatte er sich dabei gedacht, nachts auf den Bauernhof einzudringen und sie stehlen zu wollen?
Nun, der Hunger. Größtenteils. Sein Magen fühlte sich an, als würde er sich selbst auffressen, so leer war er.
Pranken griffen nach ihm, packten seine Arme. Ein sommersprossiges Gesicht schälte sich aus der Dunkelheit und der Angreifer warf Hinrich zu Boden. Das weiche, taufeuchte Gras drückte sich in seine Wange. Schwere, harte Muskeln pressten ihn nieder, hinderten ihn daran, sich zu bewegen. Heißer Atem strich über sein Ohr.
»Was haben wir denn hier?«, grollte die Stimme. »Einen Hühnerdieb?«
Hinrich wand sich wie die Henne vorhin, nur weniger erfolgreich. Alles, was es bewirkte, war, dass der Mann auf seinem Rücken ihn noch fester packte. Hinrichs Handgelenke drohten, zu brechen.
»Verzeiht!«, wimmerte er. »Ich hatte Hunger! Ich wollte nicht …«
»Hunger, ja?!« Der Mann über ihm schnaubte. Er roch nach frischem Schweiß. Nicht unangenehm. In Hinrichs Lenden breitete sich ein angenehmes Gefühl aus, trotz seiner misslichen Lage.
»Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen«, flüsterte er, die schändlichen Gefühle unterdrückend, die in ihm aufstiegen. Das feurige Sehnen, das seine Männlichkeit zum Schwellen brachte. Darauf stand der Galgen, das durfte er nicht …
»Armes Kerlchen«, höhnte sein Angreifer und drückte seine Stupsnase in Hinrichs Locken. »Dann will ich dir mal was zu essen geben. Was Großes.«
»Wirklich?« Hinrich zögerte. Der Mann klang grausam. Was … Oh. Hinrich begriff. Stählerne Härte drückte gegen seine Kehrseite. Rieb sich in kleinen, kreisenden Bewegungen gegen die festen Backen. Hinrich schluckte. Widersprüchliche Gefühle rasten durch seinen Körper.
»Ich lasse dich jetzt los«, grollte die raue Stimme. »Versuch gar nicht erst, wegzulaufen klar?«
»Ja«, wimmerte Hinrich und wurde aus dem Griff entlassen. Schmerzende Glieder bogen sich zurecht. Seine Männlichkeit scheuerte gegen den groben Stoff seiner Beinkleider und lechzte nach Erlösung. »Bitte, edler Herr …«
»Edler Herr«, höhnte der Grobian. »Kannst mich gern so nennen, aber das bringt dir nichts. Mund auf!«
Entsetzt, erschüttert und erregt beobachtete Hinrich, wie der Kerl die Verschnürung seiner Hose öffnete und sich breitbeinig vor ihm …
Entsetzt, erschüttert und erregt nahm Valentin die Hände von der Tastatur. Was schrieb er sich da zusammen? Das war … das war nicht nur Pornografie der billigsten Sorte, wie höchstens Rob sie zustande brachte. Nein, der Bauernsohn hätte Hinrich außerdem gleich in den Stall sperren und am nächsten Tag zum Gericht schleppen sollen.
»Falsch«, murmelte er. »Alles ganz furchtbar falsch.«
Er löschte den grauenvollen Absatz und begann von Neuem.
»Verzeiht!«, wimmerte Hinrich. »Ich hatte Hunger! Ich wollte nicht …«
»Hunger, ja?!« Der Mann über ihm schnaubte. Dann vernahm Hinrich ein leises Zungenschnalzen. »Hier haben viele Hunger. Wir auch, wenn wir nicht auf unsere Hühner aufpassen müssten. Die gehören uns, verstanden?«
»Ja. Selbstverständlich gehören sie … Ich wollte nicht …« Beschämt unterdrückte Hinrich ein Schluchzen. Er hätte ihnen helfen können, Ludowig, Julietta und Marius. Ein Huhn, daran hätten sie zwei Tage essen können! »Ich will nicht an den Galgen! Ich … Ach, ich bin so unnütz! Ein miserabler Schauspieler und ein noch schlechterer Hühnerdieb!«
»Na, na.« Die Stimme wurde weicher. »Wir hatten schon schlechtere Hühnerdiebe. Du wärst fast damit davongekommen, wenn ich nicht grad aus dem Fenster gesehen hätte.«
Wider die Vernunft lachte Hinrich, ein sehr klägliches Lachen. »Danke. Ich … Bitte, verzeiht mir. Ich hätte mich nicht von meinen niederen Instinkten leiten lassen dürfen.«
»He, ein Mann wird nun mal hungrig.« Das schwere Gewicht verschwand von Hinrich. Zum ersten Mal konnte er seinen Angreifer sehen, angestrahlt vom Licht des Vollmonds. Ein nettes Gesicht, ehrlich und rund und bedeckt von Sommersprossen.
»Bitte«, sagte Hinrich. »Ich bitte euch, edler Herr. Lasst mich gehen.«
»Edler Herr hat mich noch keiner genannt.« Der Bauernsohn, denn das musste er sein, streckte Hinrich die Hand hin. Der ergriff sie. »Ja, na gut. Ich lasse dich ziehen.«
Hinrichs Herz war erfüllt von Dankbarkeit. »Ich weiß gar nicht, was ich … Danke!«
»Bitte.« Ein wunderbares Lächeln erschien. Breite Zähne glänzten im Mondlicht. »Wenn du magst … Mutter und Vater schlafen, aber ich mache mir gerade eine Schmalzstulle. Möchtest du vielleicht auch eine?«
Hinrich weinte wieder, diesmal vor Glück.
Die Schmalzstulle schmeckte köstlich. Salzig und fettig füllte sie Hinrichs Magen und er konnte gar nicht aufhören, dem Bauernsohn zu danken. Sie saßen auf der krummen Bank in der fast dunklen Küche. Nur eine Kerze erhellte den Holztisch, der übersät von Kerben und Brandlöchern war.
»Es schmeckt absolut atemberaubend«, versicherte Hinrich. Unwillkürlich rückte er ein Stück näher. So nah, dass er die angenehme Wärme des Bauernsohns spürte. Nur ein Fingerbreit Luft trennte ihre Körper voneinander. »Wie ist dein Name?«
»Johann. Johann Wurstwein«, sagte der Bauernsohn. Sein Blick ging Hinrich durch und durch. Bevor er vollends verstand, was geschah, hatte sich bereits ein starker Arm um ihn gelegt. »Ist dir kalt?«