Meine europäische Familie. Karin Bojs
Читать онлайн книгу.href="#udfc25f98-0560-5286-9f65-12310f286eed">Glockenbecher-Kultur, Kelten und Stonehenge
Das Erbe von Hitler und Stalin
Quellen, Literaturhinweise und Reisetipps
DIE TRAUERFEIER
WÄHREND ICH AN DIESEM BUCH ARBEITETE, starb meine Mutter, Anita Bojs. Viele Freunde und Bekannte kamen zur Trauerfeier – weitaus mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte. Die Verwandtschaft bestand jedoch nur aus einer kleinen Schar, wir hatten alle auf der vordersten Bank Platz: mein Bruder und ich mit unseren Partnern sowie drei feingemachte Enkelkinder.
Es war Frühsommer und im Park vor der Vasakirche in Göteborg blühte der lila Flieder. Gemeinsam sangen wir den Psalm „Den blomstertid nu kommer“ und danach „Härlig är jorden“. Das hatte ich wegen einiger Zeilen ausgewählt, die ich besonders tröstlich finde: „Zeitalter kommen, Zeitalter gehen, Geschlecht folgt auf Geschlecht“.
Bei der nachfolgenden Gedenkfeier hielt ich eine Rede. Dabei wandte ich mich vor allem an die Enkelkinder. Ich wünschte mir, dass sie stolz auf ihre Großmutter und auf ihre Herkunft sein sollten, trotz der Umstände.
Die Großmutter, die sie gekannt hatten, war gealtert und vom Leben gezeichnet gewesen. Ihre viel versprechende Karriere war bereits mit fünfzig zu Ende gegangen. Schon damals blickte sie auf eine lange Geschichte gravierender Probleme zurück: Krankheit, Scheidung, Konflikte, Missbrauch …
Darum erzählte ich ihren Enkelkindern und den anderen Gästen der Gedenkfeier ein wenig aus der ersten Lebenshälfte meiner Mutter. Von der Einserstudentin, die am Karolinska Institut Medizin studieren durfte, obwohl sie eine Frau war und aus einfachen Verhältnissen stammte. Von ihrem Zuhause über der Grundschule in der Arbeitersiedlung, wo meine Großmutter Lehrerin war. Meine Mutter kam aus einem armen Elternhaus, das dafür jedoch umso reicher war an Gemeinschaft, Musik, Kunst, Literatur und Wissensdurst.
Ich zitierte aus einem Tagebuch, das ich bei ihren Sachen gefunden hatte. „Streng geheim“ stand in kindlicher Schrift auf dem Umschlag. Darin erzählte sie von den Sommerferien bei ihrer Großmutter – meiner Urgroßmutter Karolina Turesson – in Värmland, nur vierzig Kilometer von der norwegischen Grenze entfernt. Damals tobte der Zweite Weltkrieg, doch aus heutiger Sicht wirkt die Schilderung der Spiele mit den Cousinen auf dem Steg am glitzernden See Värmeln trotzdem heiter und friedvoll.
Ich habe weder meine Großmutter noch meine Urgroßmutter kennengelernt. Wegen der vielen Probleme in unserer zerrütteten Familie habe ich überhaupt nur selten irgendwelche Verwandten getroffen.
Vielleicht habe ich deshalb so viel darüber nachgegrübelt, wer all diese Menschen waren und woher sie kamen. Schon als ich zehn war, wollte ich mehr darüber wissen.
Meinen Großeltern väterlicherseits, Hilda und Eric, bin ich immerhin ein paar Mal begegnet. Die Besuche bei ihnen gehören zu meinen schönsten Erinnerungen. In ihrem Haus in Kalmar roch es so gut. Überall hingen Gemälde und mein Großvater hatte eigenhändig Bilder auf Türen, Wände und Möbel gemalt. Beide erzählten immer gerne von ihrer eigenen Kindheit, aber selten einmal von Verwandten, die früher gelebt hatten.
Jetzt, als Erwachsene, kann ich bei der Suche nach der Herkunft von Berta, Hilda und Eric auf die Unterstützung findiger Wissenschaftler zurückgreifen. Als Jugendliche kam mir Ahnenforschung immer ein bisschen albern vor. Doch heute weiß ich sie sehr viel besser zu schätzen. Mir ist klar geworden, dass das Interesse für unsere Vorfahren ein wichtiger Bestandteil vieler Kulturen der Welt ist. In zahlreichen schriftlosen Kulturen sind die Menschen in der Lage, ihre Abstammung über mindestens zehn Generationen auswendig aufzusagen. Ungefähr den gleichen Zeitraum überblicken erfolgreiche Familienforscher in Schweden. Auch die Bibel zeichnet lange Abstammungslinien nach, deren älteste vor über zweitausend Jahren aufgeschrieben wurden und schon lange davor mündlich tradiert worden waren.
Seit biblischer Zeit haben sich die Methoden der Ahnenforschung weiterentwickelt. Gerade jetzt erleben wir auf diesem Gebiet eine technische Revolution, einen regelrechten Quantensprung. Vor fünfzig Jahren begannen einige Wissenschaftspioniere mit dem Vergleich von Blutgruppen und einzelnen genetischen Markern, um Verwandtschaftsverhältnissen und historischen Völkerwanderungen auf die Spur zu kommen. Das DNA-Molekül war erst wenige Jahre zuvor entdeckt worden und nur eine kleine Gruppe von Forschern verfügte über das entsprechende Wissen. Erst 1995 gelang die Untersuchung der vollständigen DNA eines winzig kleinen Bakteriums. Seitdem ist die Entwicklung in schwindelerregendem Tempo vorangeschritten. Tatsächlich spielen sich im Bereich der Biotechnologie dramatischere Veränderungen ab als in der Datentechnologie, auch wenn die Verbesserungen von Computer, Telefon und Internet im Alltag sichtbarer sind. In der Datentechnologie spricht man vom „Mooreschen Gesetz“, nach dem sich die Leistung der Prozessoren jedes zweite Jahr verdoppelt. Die Kapazität zur Decodierung einer DNA-Sequenz wächst jedoch sehr viel schneller.
Seit einigen Jahren ist man in der Lage, innerhalb weniger Stunden das gesamte Erbgut eines Menschen zu analysieren. Wissenschaftler können sogar die DNA von Personen untersuchen, die seit Zehntausenden – und in einigen Fällen Hunderttausenden – Jahren tot sind. Eine Analyse, die noch vor zehn Jahren viele Millionen kostete, ist jetzt für ein paar Euro zu haben. Dank der gesunkenen Preise ist diese Technologie auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise angekommen, und sogar Privatpersonen nutzen DNA als Hilfsmittel bei der Familienforschung. Mithilfe kleiner Variationen in der DNA-Sequenz kann man unbekannte Cousinen und Cousins, auch zweiten und dritten Grades, aufspüren und sogar Verwandte, die vor sehr langer Zeit gelebt haben – in der letzten Eiszeit oder noch früher.
Während der letzten 18 Jahre habe ich als Wissenschaftsjournalistin die Entwicklung der DNA-Technik aus nächster Nähe mitverfolgt, die meiste Zeit als Redakteurin bei der Tageszeitung Dagens Nyheter. Ich habe die Revolutionierung von Kriminaltechnik, medizinischer und biologischer Forschung erlebt sowie den Einzug der DNA-Technologie in die Archäologie und die Geschichtswissenschaft.
Dieses Buch ist der Versuch, die einzelnen Aspekte miteinander zu verknüpfen: die allerneuesten Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zur Frühgeschichte Europas und meine private Familiengeschichte. Für meine Recherche bin ich in zehn Länder gereist, habe mehrere Hundert wissenschaftlicher Studien gelesen und an die siebzig Forscher befragt.
Allmählich werden Fäden sichtbar, die meine Urgroßmutter Karolina, meine Großmutter Hilda und meinen Großvater Eric mit lange zurückliegenden Ereignissen verknüpfen. Die meisten dieser Fäden teile ich mit der Mehrheit der europäischen Bevölkerung.
Beginnen wir mit etwas, das unseren Verwandten in der Nähe des Sees Genezareth vor ungefähr 54.000 Jahren widerfuhr.
DIE JÄGER
Annika gebar Märta,