Meine europäische Familie. Karin Bojs

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Meine europäische Familie - Karin Bojs


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dunkelhaarig.

      Lieber möchte Pääbo über die circa 87 Genvarianten sprechen, die fast alle modernen Menschen in sich tragen, die aber bisher noch bei keinem Neandertaler gefunden wurden. Das am besten untersuchte Gen heißt FOXP2.

      In England lebt eine Familie, in der in mehreren Generationen Menschen unter schweren Sprachstörungen leiden. Sie alle besitzen einen Fehler auf genau diesem Gen, das ganz eindeutig das Sprachvermögen beeinflusst. Dieses Gen unterscheidet sich bei Mäusen und Schimpansen nur in einer einzigen Position, bei Schimpansen und Neandertalern in zwei Positionen. Neandertaler und moderne Menschen haben im Prinzip identische FOXP2-Gene. Dennoch gibt es einen kleinen Unterschied, wie Svante Pääbo und seine Mitarbeiter entdeckt haben. Er war schwer zu finden, da er weit vom eigentlichen Gen entfernt lokalisiert ist. Trotzdem scheint er für die Funktion des Gens wichtig zu sein.

      Die Leipziger Wissenschaftler haben spezielle Versuchsmäuse mit der menschlichen Variante des FOXP2-Gens gezüchtet. Diese Mäuse piepsen anders als normale Mäuse. Außerdem haben sie ein besseres Gedächtnis. Der Unterschied betrifft einen besonderen Aspekt des Gedächtnisses, das Psychologen prozedurales Gedächtnis nennen und das auch wir nutzen, wenn wir zum Beispiel Fahrradfahren oder Tanzen lernen. Als Anfänger müssen wir jede einzelne Bewegung bewusst ausführen, doch nach einiger Zeit sind die Bewegungen uns „in Fleisch und Blut übergegangen“, oder vielleicht sollte man besser sagen „ins Kleinhirn“. Wir können sie ganz automatisch ausführen, ohne darüber nachzudenken. Genau wie wenn wir sprechen lernen.

      Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass auch Neandertaler miteinander sprechen konnten – irgendwie. Allerdings nicht so wie wir.

      Svante Pääbo versucht sich strikt an seine Forschungsergebnisse zu halten und Mutmaßungen zu vermeiden. Keinerlei Skrupel, über unsere Begegnungen mit Neandertalern zu spekulieren, hatte hingegen die amerikanische Schriftstellerin Jean M. Auel. Ihr Romanzyklus Die Kinder der Erde hat sich in vielen Millionen Exemplaren verkauft. Das erste Buch des Zyklus erschien 1980. Darin schildert Auel, wie das Waisenmädchen Ayla von einer fremden Art Menschen aufgenommen wird. Als Ayla heranwächst, wird sie mehrmals vom Sohn des Klanhäuptlings vergewaltigt. Sie gebiert einen Sohn, der also eine Kreuzung aus Neandertaler und modernem Menschen ist. Solch eine Kreuzung wird auch Hybride genannt.

      Man könnte sagen, dass Jean M. Auel gerade in Bezug auf die Hybriden der DNA-Forschung um dreißig Jahre voraus war. Als sie das Buch schrieb, gab es keine gesicherten wissenschaftlichen Belege dafür, dass eine solche Kreuzung stattgefunden hatte. Was man hatte, waren einzelne Skelette, Knochen und Zähne, die von einigen Wissenschaftlern als Übergangsformen angesehen wurden.

      Vieles andere in Jean M. Auels fantasievoller Erzählung ist eindeutig falsch. So stellt sie zum Beispiel die modernen Menschen unserer Art als blond und hellhäutig dar, die Neandertaler als dunkelhäutig. Zum Zeitpunkt unserer Begegnungen war es eher umgekehrt. Wir waren ja gerade erst aus Afrika ausgewandert, während sich die Neandertaler über mehrere Hunderttausend Jahre in Europa und Teilen Asiens entwickelt hatten. Helle Haut erhöht die Überlebenschancen in nördlichen Breiten.

      Auels Beschreibungen der Zeichensprache der Neandertaler und ihres rigiden Gesellschaftssystems sind unterhaltsam und viele ihrer Interpretationen durchaus interessant. Sie hat sich ganz offensichtlich eingehend mit Archäologie, Anthropologie und Botanik beschäftigt. Doch darf man nicht vergessen, dass es sich hier um Romane handelt und nicht um Wissenschaft. Das meiste ist reine Fantasie.

      Ein Grund dafür, dass die Bücher sich so ausgesprochen gut verkauft haben, nicht zuletzt an Teenager, sind die vielen Sexszenen in einigen der Bände. Sie sind detailliert und einfühlsam beschrieben, aber dennoch in einem verhältnismäßig unschuldigen Ton gehalten. Sex – aus freien Stücken – wird als „die Wonnen“ bezeichnet. Aber wo Auel Sexualakte zwischen der Heldin Ayla und dem Neandertaler beschreibt, hört das Vergnügen auf. Dort schildert sie eine Reihe brutaler Vergewaltigungen.

      Freunde und Bekannte, denen ich in den letzten zwei Jahren von der Arbeit an meinem Buch erzählte, interessierten sich in erster Linie dafür, wie die sexuelle Beziehung eigentlich im Detail aussah.

      Wer sich Mutmaßungen hingab, schlug meist Vergewaltigung vor. Auch ich neige zu dieser Annahme. Einige sind über diese Alternative jedoch entrüstet und empfinden sie als sehr provozierend. Manch einer ist der Meinung, man solle grundsätzlich nicht über Fragen spekulieren, auf die die Wissenschaft niemals eine eindeutige Antwort haben wird. Eine meiner engsten Freundinnen warf mir vor, ich hätte ein negatives Menschenbild. „Es könnte ja genauso gut so gewesen sein, dass sich ein Neandertalerjunge und ein modernes Mädchen ineinander verliebt haben“, sagte sie.

      Oder wie eine junge Studentin zu ihrem Professor sagte: „Wenn sie zusammen Kinder haben wollten, müssen sie sich ja schon ziemlich lange gekannt haben.“ Wie so viele andere ging auch sie von ihrer eigenen Anschauung von Sex und Moral aus.

      Der betreffende Professor heißt Jean-Jacques Hublin und ist Leiter der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Seiner Meinung nach waren die Begegnungen zwischen Neandertalern und modernen Menschen innerhalb von zwei Minuten vorbei. Er glaubt, dass sie aus Verzweiflung handelten.

      Hublins Büro liegt ein Stockwerk tiefer als Svante Pääbos und auch dieser Raum wird von einem Neandertaler dominiert. Dieses Exemplar hat ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen: Es ist eine Büste aus weißem Gips, bei der alle Muskeln gewissenhaft rekonstruiert wurden. Die Büste wurde schon in den 1920er-Jahren auf der Grundlage des damaligen Kenntnisstandes hergestellt und stimmt in allen wesentlichen Punkten auch mit den neuesten Forschungsergebnissen überein.

      Als ich mir das vorspringende Gesicht mit der breiten Nase anschaue, wird mir noch deutlicher bewusst, wie groß der Unterschied zwischen den Neandertalern und uns war. In meiner einleitenden Erzählung von der geschwängerten Frau in Galiläa habe ich die Neandertaler mit Trollen verglichen, wie sie in unseren Volkserzählungen vorkommen. Nicht, dass ich es für besonders wahrscheinlich halte, dass unsere Mythen über Trolle in vierzigtausend Jahre alten Beobachtungen wurzeln, doch wenn man sich eine Begegnung mit einem großen Troll vorstellt, wird das Bild besser fassbar. Die Neandertaler waren uns viel ähnlicher als heutige Schimpansen, dennoch war der Abstand zu ihnen groß.

      „Ich glaube nicht, dass moderne Menschen und Neandertaler sich mochten, sondern dass sie einander mieden, wo sie konnten“, sagt Jean-Jacques Hublin.

      Seine wissenschaftliche Disziplin, die Paläontologie, versucht mithilfe von fossilen Knochenfunden zu rekonstruieren, was vor Tausenden von Jahren geschah. Diese Disziplin hat zwangsläufig mit vielen Unwägbarkeiten zu kämpfen. Die führenden Paläontologen der Welt vertreten in der Frage, wie moderne Menschen und Neandertaler sich unterschieden und wie die Begegnungen zwischen den zwei Gruppen abliefen, teilweise divergierende Ansichten. Wo sich die Geister scheiden, halte ich mich an Jean-Jacques Hublin. Seine Stellung im Max-Planck-Institut verschafft ihm eine einzigartige Position. Dank seiner engen Zusammenarbeit mit DNA-Forschern, Affenforschern, Archäologen und Anthropologen kann er die Informationen aus den alten Knochen jederzeit auf den aktuellsten Stand bringen.

      Die ältesten Funde sogenannter „anatomisch moderner Menschen“ außerhalb von Afrika wurden in Israel gemacht und sind bis zu 120.000 Jahre alt. Doch Hublin betont, dass diese frühen Menschen sich noch nicht so weit entwickelt hatten, dass sie uns glichen. Wahrscheinlich starben sie aus, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Erst vor ungefähr 55.000 Jahren folgte eine neue Auswanderungswelle aus Afrika (oder vielleicht von der arabischen Halbinsel). Dies waren fast schon moderne Menschen mit allem, was das für ihre Skelettform und ihre Fähigkeiten bedeutete. In der Manothöhle im Westen Galiläas haben israelische Wissenschaftler einen Schädel dieser Menschengruppe gefunden.

      Als diese modernen Menschen aus Afrika auswanderten, trafen sie als Erstes auf Neandertaler. Deren Überreste wurden in der Amudhöhle in den Bergen oberhalb des Sees Genezareth gefunden, nur vierzig Kilometer östlich der Manothöhle.

      Jean-Jacques Hublin unterstreicht, wie dünn bevölkert Europa und Asien zu jener Zeit waren. Nur wenige moderne


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