Die Stimme. Bernhard Richter

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Die Stimme - Bernhard Richter


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zunehmend in der stimmphysiologischen Grundlagenforschung angewendet (Echternach et al. 2010c). Für den klinischen Gebrauch sind bisher Geräte zugelassen, die, wie z. B. die HRES Endocam der Fa. Wolf, 4000 Bilder pro Sekunde aufnehmen können (Abb. 64). Dies bedeutet, dass bei einer Grundfrequenz von 100 Hz immerhin 40 Bilder und bei einer Grundfrequenz von 400 Hz noch 10 Bilder pro glottalem Zyklus für die weitere Auswertung zur Verfügung stehen. Gegenüber dem Verfahren der Stroboskopie, welches lediglich durch Einzelbilder aus verschiedenen glottalen Zyklen einen virtuellen glottalen Zyklus zusammensetzt, ermöglicht die Echtzeitkamera die wirkliche Betrachtung einzelner glottaler Zyklen, was gerade bei der Fragestellung der Registerübergänge mit schnellen glottalen Zyklusänderungen von entscheidender Bedeutung ist.

      Abb. 64: Bildschirmdarstellung der HRES Endocam (Fa. Wolf) mit Audiosignal, Kymografie, Flächenfunktion und Kontur des mittleren Trajektors

      Bei aller – durchaus berechtigten – Technikbegeisterung sollte man nicht vergessen, dass ein technisches Gerät immer nur so »schlau« sein kann, wie der Anwender, der es bedient. Es ist deswegen unabdingbar, dass neben den Möglichkeiten, die eine Technik bietet, immer auch zeitgleich ihre Limitationen mitbedacht werden. So bietet die Stroboskopie eine sehr gute visuelle Darstellung, die jedoch subjektiv mit viel Erfahrung interpretiert werden muss. Es sollte immer eine gleichberechtigte Wertigkeit von Hören, Sehen und eigenem Denken gewahrt bleiben. Für die korrekte Einordnung des endoskopischen Bildes in die funktionellen Aspekte der Stimmbildung müssen also über die optische Darstellung hinaus immer, sozusagen »zwingend«, der Klang der Stimme sowie die gesangliche und stimmliche Leistungsfähigkeit beurteilt werden.

      Immer wieder erlebt man in der stimmärztlichen Sprechstunde, dass Sänger, die wegen eines eigentlich banalen Infektes einen HNO-Arzt fern des Heimatortes aufsuchen – der sie nicht kennt und der manchmal wenig Erfahrung in der Betreuung von Sängern aufweist – nach einer laryngoskopischen Untersuchung zu hören bekommen: »Ihre Stimmlippen schließen nicht richtig«, oder schlimmer noch: »Sie haben ja Knötchen auf den Stimmlippen« (Richter 2011a). Sänger sind durch solche Äußerungen maximal zu verunsichern! Bei jeder fraglichen Schlussinsuffizienz gilt die Faustregel: Wenn im Stimmklang keine Behauchung zu hören ist, dann liegt auch keine Schlussinsuffizienz der Stimmlippen vor! Gründe für eine vermeintliche Schlussinsuffizienz gibt es mehrere. So ruft die Untersuchungssituation mit einer starren Optik durch den Mund durch die herausgezogene Zunge – und die Angst vor dem Würgereiz – nicht selten eine scheinbare Schlussinsuffizienz als Artefakt hervor, da zu leise und zu behaucht phoniert wird (Abb. 65a). Auch ist bei höheren Stimmen eine Lücke in den hinteren Abschnitten der Stimmlippen, ein sogenanntes posterior gap, als physiologisch anzusehen (Abb. 65b).

      Häufig ist auch eine terminologische Unschärfe in der Einteilung von gutartigen Stimmlippenveränderungen zu beobachten, indem alle Veränderungen unter der irreführenden Bezeichnung »Knötchen« subsumiert werden, obwohl echte Knötchen sehr selten sind (Kunduk u. McWhorter 2009).

      Abb. 65 a/b: Inkompletter SL-Schluss: a) bei zu leiser behauchter Phonation bedingt durch die herausgezogene Zunge und die Angst vor dem Würgereiz, b) posterior gap als physiologische Lücke im intercartilaginären Anteil v. a. bei hohen Stimmen (vgl. Kap. 2, S. 48)

      Abb. 66 a/b: Funktionelle Phonationsverdickungen a) kurz vor Stimmlippenschluss, b) Respirationsstellung

      Zudem ist es keinesfalls eine Rarität, dass bei professionellen Sängern im Kehlkopf Veränderungen wie Asymmetrien oder »funktionelle Phonationsverdickungen« (Abb. 66 a/b) zu sehen sind. Hierunter versteht man nach Seidner und Wendler eine breitbasige Verdickung, die sich in der Phonation vollständig abrollt und in Respirationsstellung wieder ausstreicht (Seidner u. Wendler 1997) (vgl. Kap. 9, S. 176f.).

      Auch einseitige Schwellungen, Ödeme, Polypen, Varizen etc. sind bei professionellen Stimmbenutzern nicht selten, welche die Tonproduktion oder den Stimmklang weder für den Künstler spürbar noch für den Hörer wahrnehmbar beeinträchtigen. So fanden sich in einer Untersuchung unserer eigenen Arbeitsgruppe von 36 professionellen Sopranistinnen bei über einem Drittel der Sängerinnen (15 von 36) verschiedene Veränderungen der Stimmlippen in der Stroboskopie, ohne dass perzeptiv eine Heiserkeit oder eine Einschränkung in der subjektiven Selbsteinschätzung im Voice Handicap Index (VHI) nachweisbar gewesen wäre (Traser et al. 2012). Die verallgemeinernde Bezeichnung »Knötchen« lässt zudem die Tatsache außer Acht, dass viele Veränderungen im Kehlkopf eher eine polypöse Struktur haben oder Ödemen entsprechen, die sich im zeitlichen Verlauf sehr stark verändern können. So bilden sich viele Befunde nach geeigneter medikamentöser Therapie oder durch Stimmübungen im Verlauf von wenigen Tagen oder Wochen vollständig zurück (vgl. Kap. 11, S. 215f.; Richter 2011a). Es erscheint deswegen sinnvoller, allgemein von »Verdickungen« zu sprechen, da in diesem Wort eine mögliche zeitliche Veränderung impliziert ist, während der Begriff »Knötchen« von manchen Patienten als eine unabänderliche Tatsache fehlinterpretiert werden kann.

      Die Magnetresonanztomografie (MRT), auch als Kernspintomografie bezeichnet, ist ein bildgebendes Verfahren, das vor allem in der medizinischen Diagnostik zur Darstellung von Struktur und Funktion der wasserhaltigen Gewebe und Organe im Körper eingesetzt wird. Es beruht auf einer resonanten, elektromagnetischen Anregung der Wasserstoffatomkerne in einem starken statischen Magnetfeld. Im Gegensatz zu Röntgenverfahren wie der Computertomografie, ist die MRT ein nichtinvasives Verfahren, das ohne den Einsatz ionisierender Strahlen auskommt.

      Abb. 67 a/b: MRT-Aufnahmen a) Lunge, b) Vokaltrakt

      Grundzüge der Anwendung von dynamischen MRT-Messungen bei der Artikulation von Vokalen wurden bereits z. B. von Kröger und Mitarbeitern (Kröger et al. 2004) beschrieben. Die Anwendung bei Sängern mit schnellen Sequenzen ist eine Entwicklung der in Freiburg bestehenden Arbeitsgruppe aus Musikermedizin, MR-Physik und Neuroradiologie (Echternach et al. 2008; 2010 a, b; 2011 a, b, c; 2012). Mit dem dynamischen MR können somit für Forscher und Praktiker gleichermaßen anschauliche und instruktive Bilder und Filme erzeugt werden, die dem Auge bisher verborgene Bewegungsvorgänge im Körper sichtbar machen. Bei Sprechern und Sängern können insbesondere die Atmungsorgane (Abb. 67 a) und die Resonanzräume (Abb. 67 b) dargestellt werden.

      Die quantitative Messung von Stimmparametern kann ebenfalls unter


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