Die Stimme. Bernhard Richter
Читать онлайн книгу.bzw. Ausprägung einer Stimmstörung. Für alle Fragestellungen werden neben den oben beschriebenen Verfahren der Hörbeurteilung und der Visualisierung aktuell vornehmlich akustische Analysen sowie aerodynamische und elektroglottografische Verfahren eingesetzt (Michaelis 1999). Dies steht im Einklang mit den Empfehlungen der Europäischen Laryngologischen Gesellschaft (European Laryngological Society, ELS), die als Basisprotokoll zur Stimmfunktionsdiagnostik vorschlägt, fünf Methoden anzuwenden (Dejonckere et al. 2001):
1. auditive Beurteilung des Stimmklangs durch den Untersucher
2. optische Beurteilung des Kehlkopfes mit Analyse der Feinschwingungen der Stimmlippen
3. apparative Analyse des Stimmsignals
4. Messung aerodynamischer Maße
5. Selbsteinschätzung des Patienten durch normierte Fragebögen
Akustische Analyse des Stimmschallsignals
Die Vielzahl der messbaren Parameter ist verwirrend und es ist keine Schande, wenn man ob dieser Vielzahl manchmal etwas ratlos ist. Bei einigen Parametern ist ihre Wertigkeit für das Verständnis der Stimmfunktion nicht eindeutig geklärt. Ähnlich verhält es sich, wenn man sich die Frage stellt, wie bedeutsam die einzelnen Parameter für die Beurteilung der Stimmgüte bei stimmgestörten Patienten sind.
Um diese Frage wissenschaftlich korrekt zu untersuchen, wurde von einer multizentrischen Arbeitsgruppe anhand der Daten von 387 Patienten eine Regressionsanalyse durchgeführt. Es zeigte sich, dass vor allem die Parameter Tonhaltedauer, höchste Frequenz, leisester Phonationsschalldruckpegel und Jitter – unter Hinzuziehung der Tonhaltedauer – eine verlässliche Einschätzung des Schweregrades einer Stimmstörung ermöglichen. Die vier Parameter wurden unterschiedlich gewichtet in einem Algorithmus3 aufgenommen, der als Dysphonia Severity Index (DSI) bezeichnet wird (Wuyts et al. 2000). Normale Stimmen entsprechen einem DSI-Wert von +5, ausgeprägt dysphone Patienten entsprechen dem Wert –5. Je kleiner der Zahlenwert umso schlechter ist die Stimmqualität.
Die Bestimmung von Grundfrequenz, höchster/ tiefster sowie lautester/leisester Phonation kann im Rahmen der Stimmfeldmessung unter normierten Bedingungen erfolgen (s. S. 77); Irregularitätsmaße, z. B. Jitter (Variation der Grundfrequenz durch Vergleich der Periodenlänge von einer Periode zur nächsten), sowie die Bestimmung des Schallspektrums können mit multidimensionalen Stimmanalyseprogrammen (z. B. PRAAT, KeyPentax MDVP, Laryngograf Speech Studio, Dr. Speech etc.) vorgenommen werden. Der Jitter kann sowohl aus dem EGG als auch aus dem Tonsignal bestimmt werden.
Auf die einzelnen Messparameter und die Programme detailliert einzugehen, würde den Rahmen des vorliegenden Abschnitts weit sprengen. Einen anschaulichen Überblick gibt der Physiker und Gesangspädagoge Josef Pilaj in seinem 2011 erschienen Buch »Singen lernen mit dem Computer« (Pilaj 2011).
Das ELS-Protokoll und der DSI können nach den Erfahrungen unserer eigenen Arbeitsgruppe auch bei professionellen Sängern durchaus zur Beurteilung der Stimmfunktion und -leistungsfähigkeit herangezogen werden (Echternach et al. 2009; Richter u. Echternach 2010). Jedoch muss man beachten, dass Sänger speziell im DSI meist deutlich höhere Werte aufweisen als Nichtsänger.
Darüber hinaus sind bei Sängern weitere Spezifika zu beachten, da nicht alle sängerisch wichtigen Parameter durch die standardisierten Protokolle erfasst werden. Zur Beurteilung der Sängerstimme sollte eine ausführliche musikermedizinische Anamnese unter Berücksichtigung der bisherigen Ausbildung, des Repertoires und der aktuell geplanten stimmlichen Anforderungen erhoben werden.
Weitere Messverfahren
Neben dem Jitter werden in wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit differenzierten Fragen der Stimmforschung beschäftigen, weitere Auswertungsverfahren wie Shimmer, Harmonic to Noise Ratio (HNR), Relative Average Perturbation (RAP), Normalized Noise Energy (NNE), Cepstral Peak Prominence (CPP) angewendet. Der an einer detaillierten Erklärung dieser Verfahren interessierte Leser sei auf die umfassende Darstellung in dem Buch »Clinical measurement of speech and voice« von Baken und Orlikoff verwiesen (Baken u. Orlikoff 2000).
Aerodynamische Maße
Das für die Stimmbeurteilung wichtigste aerodynamische Maß ist die Tonhaltedauer (vgl. Kap. 2, S. 32). Die Vitalkapazität und der aus dem Verhältnis der Vitalkapazität zur Tonhaltedauer zu bestimmende Phonationsquotient spielen für die Stimmgütebeurteilung eine weniger wichtige Rolle.
Elektroglottografie (EGG)
Die EGG stellt ein nichtinvasives Verfahren zur Analyse der Stimmlippenschwingungen dar. Hierbei wird ein Strom von ≤ 10 mA zwischen zwei Oberflächenelektroden symmetrisch von außen über den beiden Flügeln des Schildknorpels angelegt, was bei normalem Gewebewiderstand eine Spannung von etwa 0.5 V bedeutet. Da es bei der Phonation zu einer Änderung der Leitfähigkeit des Gewebes zwischen den Elektroden kommt, kann die Änderung der Impedanz abgeleitet und gemessen werden. Eine hohe Impedanz ergibt sich bei geringem Kontakt der Stimmlippen, eine niedrige bei maximalem Kontakt. Über die Möglichkeiten laryngoskopischer Verfahren wie der Stroboskopie und der Hochgeschwindigkeitsglottografie hinaus können anhand der Impedanzkurve Rückschlüsse auf den dreidimensionalen Ablauf der Stimmlippenschwingung gezogen werden (Abb. 68). Das EGG-Signal kann außerdem hinsichtlich seiner Frequenz für die Bestimmung der Grundfrequenz oder auch der Frequenzperturbation, z. B. Jitter, herangezogen werden. Nachteilig an dem Verfahren ist zum einen die fehlende Visualisierung der Stimmlippen und zum anderen, dass durch das Signal nicht zu klären ist, ob überhaupt bzw. in welchem Teil der Stimmlippen es zum Schluss kommt. Trotz dieser methodischen Probleme wurde das Verfahren in zahlreichen Studien zur Frage laryngealer Mechanismen eingesetzt (Henrich 2006).
Abb. 68: Elektroglottografie (EGG)-Signal
Abb. 69: Stimmfeld eines professionellen Tenors (LingWAVES); Darstellung von Dynamik und Tonhöhenumfang der Singstimme sowie der dynamischen Steigerung der Sprech- und Rufstimmfunktion
Elektromyografie (EMG)
Die Elektromyografie ist ein Nachweisverfahren, mit dem direkt die elektrische Aktivität in einem Muskel gemessen werden kann. Hierzu müssen Messfühler (Elektroden) möglichst dicht an einem Muskel (Oberflächenelektroden) oder sogar in den Muskel (Nadelelektroden) platziert werden. Die Muskeln des Kehlkopfes können bisher nur sinnvoll mit Nadelelektroden untersucht werden. Dies birgt das Risiko, dass es in die Muskeln einbluten kann. Deswegen sind Untersuchungen mit einem EMG bei Sängern, die während der Untersuchung singen, nicht unproblematisch und bisher auch nur selten durchgeführt worden (vgl. Kap. 2, S. 28; Kochis-Jennings et al. 2012).
Stimmfeld
Als Stimmfeldmessung wird eine Testung der Stimme hinsichtlich Dynamik- und Tonhöhenumfang bezeichnet. Man kann sowohl die Sprechstimm-, die Singstimm- als auch die Rufstimmfunktion darstellen (Abb. 69). Der Begriff Stimmfeld ist etwas irreführend, da nicht eine Fläche bestimmt wird, sondern ein Profil der beiden Parameter Tonhöhe und Intensität. Es wurde zum Teil auch der Begriff »Phonetogramm« verwendet (Schultz-Coulon 1980). Im Englischen hat sich der Begriff voice range profile etabliert. Die Messungen sind heute sehr einfach mit einem handelsüblichen Computer und verschiedener Software durchführbar. Sie geben uns Hinweise auf die Leistungsfähigkeit, Ökonomie und Ausgeglichenheit einer Stimme.
Zusammenfassung
Zur Darstellung, Analyse und Beurteilung von Stimmen kann man den Hör-, Seh- und Tastsinn sowie das Fühlen und Spüren von Körpersensationen