Wachtmeister Studer. Friedrich Glauser

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Wachtmeister Studer - Friedrich  Glauser


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nicht unschönen Gesicht.

      –Auf keinen Fall dürfe er reisen, sagte sie; der Schlumpf sei nicht der einzige gewesen, es seien noch mehr beim alten Ellenberger, die zu allem fähig seien …

      Sie merkte plötzlich, dass Studer zuhörte, und dämpfte die Stimme zu einem Flüstern. Der Armin trank einen Schluck aus seinem Glas. Er spreizte dabei den kleinen Finger ab.

      Das Wispern der Kellnerin wurde eifriger; Armin beteiligte sich am Gespräch nur mit einzelnen Worten. Aber die wenigen Worte, die er einwarf, hatten Gewicht – falsches Gewicht, hätte Studer am liebsten gesagt. Er zog seine Uhr. Es war halb drei. Er war müde, die Glieder taten ihm weh, das Gewisper ging ihm auf die Nerven. Vielleicht sollte er ein wenig spazieren gehen? Zum Ellenberger? Seine alten Bekannten dort besuchen, den Schreier, der jetzt Klavier spielte, und den Buchegger mit der Bassgeige? Die Jazzkapelle genannt: ›The Convict Band!‹ … Ein Humorist, dieser alte Ellenberger. Man wurde nicht klug aus ihm. Für seine Leute schien er gut zu sorgen …

      Oder war es besser, die Frau zu besuchen, bei der Schlumpf gewohnt hatte?

      Ein ödes Blatt, dieser Gerzensteiner Anzeiger. ›Erscheint zweimal wöchentlich mit Beilagen: Für die Frau, Palmblätter, Landwirtschaftliches.‹ Was hieß das ›Landwirtschaftliches‹! Aus einem unerfindlichen Grunde ärgerte dieses Wort den Wachtmeister Studer. Aber was war das?

      »In letzter Stunde erfahren wir den traurigen Hinschied unseres wohlverdienten Mitbürgers W. Witschi, der in seinem 50. Altersjahre einer ruchlosen Bubenhand zum Opfer gefallen ist. Herr W. Witschi war bekannt als ein Muster von Treue und Pflichterfüllung, sein Andenken wird uns teuer bleiben, bis über das Grab hinaus, denn er war noch einer von jenen immer mehr aussterbenden Charaktern« –

      Studer streichelte seinen Schnurrbart, die ›aussterbenden Charakter‹ gefielen ihm ausnehmend –, ›die nach alter Väter Sitte …‹ – Ja, ja, das kannte man. Studer übersprang ein paar Zeilen.

      Aber plötzlich stockte er und las nicht weiter. Etwas hatte ihn gestört: Wohl die plötzliche Stille – das Wispern hatte aufgehört. Studer äugte vorsichtig über den Rand der Zeitung. Das Klingen von Geldmünzen war zu hören. Die Kellnerin kramte in dem Ledersack, den sie unter der Schürze trug. Armin tat unbeteiligt und strich dann und wann mit lässiger Gebärde über seine wohlondulierten Haare. Die linke Hand trommelte auf dem Tisch.

      Jetzt verschwand sie unter der Tischplatte. Wie viel Geld gibt sie ihm wohl? fragte sich Studer. Das Rascheln einer Banknote war zu hören.

      »Ich möchte zahlen …«, sagte Studer laut. Die Kellnerin fuhr mit rotem Kopf in die Höhe, Armin blickte böse zu dem einsamen Gast hinüber, Studer gab den Blick zurück, der Bursche hielt ihn nicht lange aus, Studer nickte unmerklich. Innerlich formulierte er seine Beobachtung: »Nicht ganz sauber überm Nierenstück.«

      »Ein Mittagessen macht …«, die Kellnerin begann die Rechnung herunterzuleiern, Studer schob einen Fünfliber hin, steckte das Wechselgeld achtlos in die Hosentasche.

      »Zahlen, Berta!« rief der junge Mann drüben. Er schwenkte eine Zwanzigernote …

      Wie nannte man in Frankreich die Bürschchen, die sich aushalten ließen? Es war der Name eines Fisches, Studer kam nicht gleich darauf …

      Richtig! Maquereau! …

      Dort, wo der Feldweg rechts von der Automobilstraße abzweigte, stand ein großes Schild:

      Baumschulen und Rosenkulturen

      Gottlieb Ellenberger

      und ein Pfeil wies die Richtung. Studer verschob den Besuch auf später. Er bog lieber links ab, der Weg stieg ein wenig an, aber man kam gleich in den Wald – Nadelhölzer und ganz wenig Laubbäume … Tannenduft war gesund, besonders für Schnupfen, das hatte schon sein Vater behauptet. Im Vorbeigehen sah er sich den Randstein an, an den offenbar der alte Ellenberger am gestrigen Abend mit seinem Kopf geflogen war. Es war ein gewöhnlicher Randstein, kein Blut klebte daran, am besten, man ließ ihn rechts liegen und stieg das Waldweglein empor …

      Es war nie gut, sich auf einen Fall zu stürzen, wie eine hungrige Sau aufs Fressen. Und man konnte mit dem heutigen Tag zufrieden sein. Man hatte Bekanntschaften genug gemacht, man hatte Bilder gesammelt, eigentlich nicht anders als ein Fisel Schokoladebildli. Aber die Bilder waren schön:

      Zuerst der Wendelin Witschi mit einer Alkoholkonzentration von 2,1 Promille, was nach Ansicht des italienischen Assistenten mit den kriminologischen Kenntnissen zu den Attributen einer ›Alkoholleiche‹ gehörte. Dann die Felicitas mit dem Loch im Strumpf und ihrem sonderbaren Benehmen dem Coiffeurgehilfen gegenüber. Hernach der Maquereau mit seiner Freundin, der Kellnerin.

      Mein Gott, die Menschen waren überall gleich. In der Schweiz versteckten sie sich ein wenig, wenn sie über die Schnur hauen wollten, und solange es niemand merkte, schwiegen die Mitmenschen. Und der Wendelin Witschi, der im Gerichtsmedizinischen Institut konserviert wurde, war ein aussterbender Charakter.

      Gut und recht.

      Warum nicht? Solche Ausdrücke gehören zum Leben; die Leute, auf die sie angewandt werden, zotteln weiter, niemand regt sich über ihre kleineren oder größeren Sünden auf, wenn nicht …

      Eben, wenn nicht irgendetwas Unvorhergesehenes passiert. Ein Mord zum Beispiel. Zu einem Mord gehört ein Schuldiger, wie die Butter aufs Brot. Sonst reklamieren die Leute. Und wenn dann der sogenannte Schuldige versucht, sich aufzuhängen, und es kommt ein Fahnderwachtmeister dazu, der einen harten Gring hat, dann kann es geschehen, dass alle die kleinen Unregelmäßigkeiten, die im Leben jedes Menschen vorhanden sind, plötzlich wichtig werden; man arbeitet dann mit ihnen, wie ein Maurer mit Backsteinen – um ein Gebäude aufzurichten … Ein Gebäude? Sagen wir vorläufig: eine Wand …

      Am Waldrand blieb Studer stehen, wischte sich die Stirne und schaute übers Land. Auf einer Telegrafenstange saß ein Mäusebussard und ruhte sich aus. Aber da kam eine Krähe und begann den stillen Vogel zu plagen. Der Bussard flog auf, die Krähe folgte ihm, und sie krahahte dazu mit einer unangenehm heiseren Stimme. Der Bussard schwieg. Er flog immer höher, immer höher, warf sich dem Wind entgegen und bewegte kaum die Flügel. Die Krähe folgte. Sie wollte ihren Krach haben, sie ließ nicht locker, immer wieder stieß sie gegen den stillen Vogel. Aber schließlich musste sie es aufgeben. Der Bussard hatte eine Höhe erreicht, wo es der Krähe ungemütlich wurde. Krächzend ließ sie sich fallen. Der Bussard flog einen vollkommenen Kreis, und Studer beneidete ihn. Hier unten entkam man den Krähen nicht so mühelos.

      Er drang tiefer in den Wald ein. Und der Wald war sehr still …

      Wie weit war der Wachtmeister gegangen? Über seinem Kopfe spielte ein kleiner Wind mit den Baumwipfeln. Es rauschte sanft.

      Und dann wurde das kühle Rauschen plötzlich von einem anderen Geräusch unterbrochen. Zweige knackten, ein Stöhnen war zu hören – so als ob ein verwundetes Tier sich mühsam weiterschleppen würde … Hinter einem Gebüsch fand Studer einen Mann, der auf dem Bauch lag und wimmerte. Die Rückennaht seines Rockes war aufgerissen, das Haar zerrauft, die Schuhe waren kotig.

      Der Mann hatte das Gesicht auf den Unterarm gelegt und weinte in die Erde hinein.

      Einen Augenblick sah Studer ein anderes Bild: den Burschen Schlumpf, der die Augen in die Ellbogenbeuge gepresst hatte …

      Dann klopfte Studer dem Liegenden auf die Schulter und fragte:

      »Was ist los?«

      Der Mann drehte sich langsam auf den Rücken, blinzelte und schwieg. Studer erkannte den alten Cottereau, den Obergärtner beim Ellenberger …

      Aber als Studer noch einmal fragte, was denn eigentlich passiert sei, begann das Gewimmer von Neuem. Jetzt waren die Worte deutlich zu verstehen:

      »Mein Gott! Mein Gott! Herjeses, ist das gut, dass endlich ein Mensch kommt. Verrecken könnt’ man in dem Wald. O je, o je! ganz trümmelig ist mir, und so haben sie mich abgeschlagen! …«

      Wer ihn denn abgeschlagen


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