Wachtmeister Studer. Friedrich Glauser

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Wachtmeister Studer - Friedrich  Glauser


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ein gemalter See vor Schneebergen ausbreitete, und die Schneeberge waren rosa, wie wässeriges Himbeereis. Über der Türe prangte in verschnörkelter Schrift der Spruch:

      Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein!

      Unter den Fenstern des ersten Stockes in blauer Farbe der Name des Hauses:

      Alpenruh

      Über dem Schaufenster des Ladens, in dem bunte Maggiplakate verblassten, ein Schild, das ebenfalls verwittert war:

      W. Witschi-Mischler, Lebensmittelhandlung.

      Der Garten war verlottert, hohes Unkraut stand zwischen den Erbsen, die nicht aufgebunden waren. An einer Hausecke lehnte ein verrosteter Rechen.

      Auf dem ganzen Weg hatte Studer geschwiegen und gewartet, ob das Mädchen beginnen würde zu sprechen. Aber auch Sonja hatte geschwiegen. Nur einmal hatte sie schüchtern gesagt: »Ich hab heut’ morgen im Zug schon gedacht, dass Ihr von Bern kommt wegen dem Schlumpf, dass Ihr von der Polizei seid …« Studer hatte genickt, gewartet, was noch weiter kommen werde. »Und wie ich gesehen hab’ Ihr geht zu der Frau Hofmann in den Laden, hab ich den Onkel Aeschbacher geholt. Die Frau Hofmann ist eine gar Schwatzhafte …«

      Studer hatte schweigend die Achseln gezuckt. Die ganze Geschichte ließ sich plötzlich schlecht an. Er wünschte, er hätte mit dem Landjäger Murmann am Morgen eingehender gesprochen.

      Der Lehrer Schwomm und der Coiffeurgehilfe Gerber, dachte er – Gerber hieß also der Jüngling, der John-Kling-Romane las und sich Füllfederhalter schenken ließ –, diese beiden waren in der Küche der Frau Hofmann gewesen. Und Sonja … Und der Schlumpf natürlich.

      Wer hatte den Revolver versteckt? Warum war er gerade an diesem Platz versteckt worden? Hatte man gehofft, Frau Hofmann werde ihn finden und damit zur Polizei laufen? Angenommen, Frau Hofmann hätte ihn gefunden, dann hätte sie ihn natürlich in die Hand genommen und neugierig, wie Frauen einmal sind, untersucht. Dann wäre selbstverständlich kein Fingerabdruck mehr festzustellen gewesen. Also war es nicht so arg, so tröstete sich Studer, dass er den Browning so ohne Vorsichtsmaßnahmen einfach eingesteckt hatte … Schade, dass er Frau Hofmann nicht gefragt hatte, wann der Schlumpf am Dienstagabend oder vielmehr in der Dienstagnacht heimgekommen war … Aber eigentlich war diese Frage nicht nötig, die Antwort stand sicher in den Akten, richtig, Studer erinnerte sich an eine Seite, auf der stand:

      »Frau Hofmann gibt auf Befragen an, der Angeklagte sei in der Mordnacht erst gegen ein Uhr heimgekommen …« Studer schüttelte den Kopf. Merkwürdig, dass diese belastende Tatsache ihn so gar nicht interessierte. Es war alles zu einfach aufgebaut. Ein Vorbestrafter, der einen Mord begeht, der natürlich kein Alibi hat, bei dem das Geld des Ermordeten gefunden wird, der nicht reden will, aber seine Unschuld beteuert, der einen Selbstmordversuch begeht … Es schmeckte – ja, das Ganze schmeckte nach einem schlechten Roman …

      Aber natürlich, der unschuldig Schuldige, das war in diesem Fall eine recht reale Figur, ein Mensch, dem es schlecht gegangen war, der wieder eine Zeitlang auf den geraden Weg gekommen war, und der nun … Was hatte der Schlumpf in der Freizeit gelesen? Etwa auch Felicitas Rose? Oder John Kling? Eigentlich wäre das ganz interessant festzustellen. Das kleine Mädchen wusste es sicher, das Mädchen, das teure Füllfederhalter verschenkte … Hatte es eine Liebschaft mit dem Coiffeurgehilfen Gerber? Es sah eigentlich nicht so aus … Aber warum dann das teure Geschenk? … Der Füllfederhalter … Ja … Man trug den Füllfederhalter gewöhnlich in der linken Brusttasche des Rockes oder in der oberen Westentasche. Man nahm ihn mit, besonders wenn man Bestellungen sammeln ging. Hatte ihn der Wendelin Witschi am Dienstag auch mitgenommen? … Doch wann hatte er ihn seiner Tochter gegeben? … Die Taschen des Wendelin Witschi waren leer, und auf dem Rücken seines Rockes hafteten keine Tannennadeln …

      Die beiden betraten die Küche … Im Schüttstein unaufgewaschenes Geschirr … Auf dem Tisch stand ein Teller, Butter darauf, daneben lag ein Kamm.

      Studer war allein, Sonja war verschwunden …

      Durch eine offene Tür betrat der Wachtmeister das anliegende Zimmer. Die Vorhänge vor den Fenstern waren grau, auf dem Klavier lag eine Staubschicht. Die Tür fiel zu. Es zog in diesem Haus. Durch die Erschütterung des Zuschlagens löste sich von dem Bilde, das über dem Klavier hing, eine graue Wolke ab. Das Bild stellte den seligen Wendelin Witschi vor, in jungen Jahren, und war wohl bei der Hochzeit aufgenommen worden. Zwischen den Spitzen des steifen Umlegkragens lugte ein kleiner schwarzer Kopf hervor. Der Schnurrbart war schon damals traurig gewesen. Und die Augen …

      Auf dem Tische, der eine Decke mit Fransen trug, rot-gelb-blau lagen viele Hefte. Auch das schwere schwarze Büfett war mit Heften überdeckt.

      Studer blätterte in den Heften. Sie waren alle von der gleichen Art: Bilder von Hunden oder von Kindern, eine Bergkapelle, ein Roman, Winke für die Hausfrau, graphologische Ecke. und, auffällig, auf allen Titelblättern:

      »Wir versichern unsere Abonnenten … Bei Ganzinvalidität oder Tod zahlen wir aus …«

      Fünf verschiedene Sorten Hefte. Wenn alle die Versicherung auszahlten, ergab das… es ergab eine ganz stattliche Summe… Und was hatte der Notar Münch gesagt? Der alte Ellenberger habe Schuldbriefe und wolle sie kündigen?

      Im oberen Stockwerk liefen Schritte auf und ab. Was machte Sonja dort oben, warum ließ sie ihn allein in der Wohnung? Es wurde ein schwerer Gegenstand gerückt. Studer lächelte. Das Mädchen machte wohl die Betten, jetzt am Abend. Eine merkwürdige Ordnung herrschte in der Familie Witschi …

      Studer blätterte weiter in den Heften. Er stieß auf ein paar Stellen, die angestrichen waren, und las:

      »Da stieg es in ihr auf, heiß und brennend. Sie warf sich in seine Arme, sie umklammerte seinen Hals, als sollte sie ihn nie, nie mehr loslassen …«

      Und weiter:

      »Und wir, Sonja, mein süßes Lieb, mein holdes Weib – wir werden glücklich sein …«

      »Leichenblass bis in die Lippen, bebend an allen Gliedern, stand Sonja vor ihm …«

      Studer seufzte. Er dachte an lauen Kaffee und an eine Frau, die am Morgen schmachtend war, weil sie in der Nacht zu viele Romane gelesen hatte …

      Dann trat der Wachtmeister ans schwere Büfett. Gerade unter der Fotografie des Wendelin Witschi stand oben auf dem Aufsatz eine Vase mit wächsernen Rosen und einigen Zweigen bunten Herbstlaubs. Und Witschi schien auf diese Vase zu schielen. Gedankenlos hob sie Studer herab, sie war merkwürdig schwer – übrigens war das Herbstlaub auch künstlich. Studer schüttelte die Vase. Es rasselte. Er kehrte die Vase um …

      Zwei, vier, sechs, zehn – fünfzehn Patronenhülsen fielen heraus, Kaliber 6,5 … Im oberen Stock war es still geworden. Studer steckte eine der Hülsen in seine Rocktasche, die andern ließ er in die Vase zurückgleiten, ordnete den Strauß und stellte ihn an seine alte Stelle. Es kamen Schritte die Treppe herunter. Studer öffnete die Küchentür und blieb auf der Schwelle stehen.

      Der Herr Wachtmeister müsse entschuldigen, sagte Sonja, sie habe oben noch Ordnung machen wollen, wenn er das Haus besichtigen wolle? Die Mutter komme erst nach dem Neun-Uhr-Zug heim, so lange müsse sie auf dem Bahnhof bleiben … Aber der Armin werde bald zurück sein.

      Sonja plapperte und wich Studers Blick aus; aber sobald Studer beiseite sah, fühlte er, wie die Augen des Mädchens auf sein Gesicht gerichtet wurden, sah er wieder hin, klappten die Lider über die Augen. Lange Wimpern hatte das Mädchen. Die Stirn war gerundet, sprang ein wenig vor. Die Haare waren gebürstet. Sonja sah viel ordentlicher aus als heut Morgen im Zuge.

      – Übrigens lasse der Schlumpf sie grüßen, sagte Studer nebenbei. Er sah zum Fenster hinaus. Am Ende des Gemüsegartens stand ein alter, verfallener Schuppen. Die Tragstützen des Daches waren eingeknickt, einige Ziegel fehlten. Auch die Tür des Schuppens fehlte.

      Sonja schwieg. Und als Studer sich umwandte, sah er, dass das Mädchen weinte. Es war ein hemmungsloses Weinen, das kleine Gesicht war verzogen, um die spitz vorspringende Nase gruben sich tiefe


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