Wohnt Gott im Gehirn?. Hans Goller
Читать онлайн книгу.moralischen Funktion wäre die Menschheit längst in Anarchie versunken. Ähnlich wie bei der Sprache entwickelten unterschiedliche Kulturen ganz spezifische Gesetze und Regeln. Allen gemeinsam sei das Verbot von Inzest und Mord. Wir Menschen seien so gebaut, dass wir derartige Handlungen als äußerst abstoßend empfinden. Dieses Empfinden deuten wir als Beweis dafür, dass diese Handlungen in sich (inhärent) schlecht sind. Wir betrachten Aussagen wie „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht stehlen“, als selbstevidente Wahrheiten, von denen wir meinen, sie seien von einer transzendenten Autorität festgelegt worden. Das moralische Bewusstsein sei wie das religiöse Bewusstsein nichts anderes als das Ergebnis eines genetisch vermittelten Merkmals. „Gut“ und „Böse“ gründen nicht in einer transzendenten Wirklichkeit, sondern in der Art und Weise, wie wir aufgrund der Bauweise unseres Gehirns bestimmte Erfahrungen deuten. Menschen mit Schädigungen im Bereich des Stirnhirns (Präfrontalkortex) zeigen asoziales Verhalten. Sie erleben keine Schuldgefühle, die sie dazu brächten, vor bestimmten destruktiven Handlungen zurückzuschrecken. Alper verweist auf Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, die zeigen, dass eine bestimmte Region im Stirnhirn (Brodmann-Areal 10) bei moralischen Urteilen und Aussagen besonders aktiv ist. Ist diese Region zerstört, dann zeigen die Betroffenen asoziales Verhalten.
Wir neigen dazu, unsere religiösen Einstellungen auf unsere moralischen Einstellungen zu projizieren. Gott sehe mit Wohlgefallen auf Handlungen, die wir als gut bezeichnen. Sie gelten im religiösen Kontext als „fromm“ und „heilig“. Gott verdamme aber böse Handlungen, und diese gelten im religiösen Kontext aller Kulturen als „teuflisch“. Der Glaube an eine teuflische Macht und an teuflische Wesen wie Dämonen sei transkulturell, ebenso die Vorstellung von einem Ort, an dem die bösen Seelen ewige Verdammnis erleiden. Fast alle Kulturen kennen den Glauben daran, dass die guten Seelen mit einem Leben nach dem Tod belohnt werden. Sie kommen in den Himmel, in das Nirwana, in die ewigen Jagdgründe, in die Walhalla oder in die elysischen Gefilde.
Altruistische Tendenzen entstanden zum Ausgleich selbstsüchtiger Neigungen. Wie jedes Merkmal sei auch der altruistische Impuls in der Bevölkerung normal verteilt: Es gibt Kriminelle und Heilige, Egoisten und Altruisten. Die Schuld-Funktion sei ein weiteres Merkmal, das sich entwickelt habe, um den Selbst-Instinkt zu zügeln. Schuldgefühle bringen uns dazu, vor bestimmten destruktiven Handlungen zurückzuschrecken. Sie seien eine Art Selbstbestrafung, eine Internalisierung der Gebote und Verbote der Umgebung. Wie bei allen Merkmalen gebe es auch beim Schuldgefühl individuelle Unterschiede. Soziopathen werden mit einer unterentwickelten Schuld-Funktion geboren. Sie erleben keine Schuldgefühle und besitzen kein moralisches und soziales Bewusstsein. Im Gegensatz dazu gibt es Menschen, die von exzessiven Schuldgefühlen geplagt werden, unabhängig davon, ob sie etwas Schlechtes getan haben oder nicht. Sie zerfleischen sich mit Selbstkritik und verdammen sich selbst. Diese Menschen würden an einer neurophysiologischen Störung leiden.
Wenn wir etwas Verkehrtes tun, dann fühlen wir uns nicht nur den Opfern unserer Missetat gegenüber schuldig, sondern auch gegenüber Gott. In allen Kulturen gebe es die Vorstellung von Sünde und Sühnepraktiken. Übertretungen von Gesetzen und Regeln unserer Gemeinschaft nennen wir Verbrechen, Übertretungen der Gesetze unserer Götter bezeichnen wir als Sünde. In unserem Gehirn gebe es je eigene Schaltkreise für Moral, Spiritualität und Religion. Atheisten seien nicht notgedrungen Psychopathen; viele von ihnen bezeichnen sich als säkulare Humanisten. Religion sei mit Moral ebenso wenig gleichzusetzen wie Atheismus mit Amoral (vgl. Alper 2008, Book II, 18).
Reduktionistische Deutung des religiösen Erlebens und Verhaltens
Die Wirklichkeit an sich werden wir nie erkennen, die absolute Wahrheit und ein absolutes Wissen werden wir nie erreichen. Wenn wir die Wirklichkeit verstehen wollen, so Alper, dann müssen wir zuerst begreifen, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Der in allen Kulturen feststellbare Glaube an Gott, an eine Seele und an ein Leben nach dem Tod sei nichts anderes als die Art, wie wir Menschen Informationen verarbeiten und die Wirklichkeit deuten. Gott sei kein übernatürliches Wesen, sondern ein von unserem Gehirn erzeugtes subjektives Phänomen. Natürlich sei es für viele schwer, eine reduktionistische, evolutionäre und neurobiologische Interpretation des Glaubens an Gott zu akzeptieren. Wenn wir aber erkennen, dass unser religiöses Erleben und Verhalten bloß die Folge der Art und Weise ist, wie unser Gehirn funktioniert – was dann? Wenn uns dämmert, dass die natürliche Selektion uns dazu programmiert hat, an eine geistige Wirklichkeit zu glauben – was dann? Wenn wir begreifen, dass religiöse Erfahrungen nichts anderes sind als die Wirkung eines neuronalen Schaltkreises, der in unserem Gehirn eingebaut ist – was dann? Um seine These zu verdeutlichen, fordert Alper uns zu einem Gedankenexperiment über die Beziehung zwischen Bild und Linse auf:
Stellen Sie sich vor, Sie schauen in einen Spiegel, der Ihnen ein klares und makelloses Bild Ihrer selbst bietet. Nun stellen Sie sich vor, dass zwischen Ihnen und dem perfekten Spiegelbild mehrere unsichtbare Linsen eingebaut sind, die Ihr perfektes Bild verzerren. Da Sie nicht wissen, dass es diese Linsen gibt, haben Sie keine Möglichkeit herauszufinden, dass ihre Wahrnehmung verzerrt ist. Obwohl Sie glauben, ein einwandfreies Bild von Ihnen vor sich zu haben, werden Sie in Wirklichkeit falsch informiert. Solange Sie nicht merken, dass es diese Linsen gibt, und solange Sie diese nicht beseitigen, werden Sie nie ein wahres Bild von sich selbst erhalten. Alper glaubt, die menschliche Spiritualität sei eine solche Linse, die unsere Sicht der Wirklichkeit verzerrt. Sie lasse uns eine geistige Wirklichkeit wahrnehmen, obwohl nichts Derartiges existiere. Interessanterweise verzerre diese Linse die Wahrnehmung der Philosophen und Wissenschaftler ebenso wie die aller anderen. Was wäre, wenn uns bewusst würde, dass es eine solche Linse gibt? Was wäre, wenn wir diese Linse beseitigten, unsere Wahrnehmung von spirituellen Verzerrungen befreiten und uns eine klarere Sicht der Wirklichkeit leisteten? Das spirituelle Bewusstsein sei eine Notlüge der Natur, eine eingebaute Fehlwahrnehmung, die uns Menschen helfen soll, unsere Angst vor dem Tod zu verringern. Würde die Natur tatsächlich so etwas tun, so eine Programmierung vornehmen? Die Natur kümmere sich lediglich darum, Organismen mit einer größeren Überlebenschance zu erzeugen. Richard Dawkins, der Autor des Buches Das egoistische Gen, drückt es so aus: „Wir und alle anderen Tiere sind von unseren Genen konstruierte Maschinen. Wir sind Überlebensmechanismen, Roboterfahrzeuge, blind darauf programmiert, die Moleküle zu erhalten, die als Gene bekannt sind.“ (zit. nach Alper, 2008, 230) Alper fragt, ob irgendetwas zu gewinnen sei durch ein Leben der bewussten Verleugnung unserer wahren Umstände. Liege es nicht in unserem besten Interesse, die Realität unserer Situation anzuerkennen? (vgl. Alper 2008, Book II, 19)
Was wäre durch eine wissenschaftliche Interpretation des Glaubens an Gott zu gewinnen?
Nehmen wir an, es gibt keinen Gott und alle unsere Vorstellungen von ihm sind nur kognitive Phantome, die in unser Gehirn eingebaut wurden. Wäre in einer gottlosen Welt jeder Sinn notwendigerweise verloren? Wohin könnten wir uns wenden, um einen Sinn für unser Leben zu finden? Ist es möglich, Sinn auf eine neue Weise zu entdecken und ihn dazu zu nutzen, um unsere Existenz zu verbessern? Was wäre durch eine wissenschaftliche Interpretation des Glaubens und der Religion zu gewinnen? Um diese Fragen beantworten zu können, meint Alper, müssen wir uns zuerst darüber klar werden, was wir gewinnen wollen und welches Ziel wir im Leben erreichen möchten. Gibt es ein universelles Lebensziel, und wenn ja, kann dieses unabhängig von der Existenz Gottes erreicht werden? Alper beruft sich auf die Aussage des griechischen Philosophen Aristoteles, dass jeder Mensch nach dem höchstmöglichen Glück im Leben strebt. Dieses Prinzip habe seine Gültigkeit, und zwar unabhängig davon, ob es Gott gibt oder nicht. Ohne Gott sei folglich nicht alles verloren. Ziel alles menschlichen Handelns sei es, das höchstmögliche Glück zu erreichen und Leid und Schmerz zu minimieren. Wie könnten wir dieses Ziel in einem gottlosen Universum erreichen? Der Schlüssel zum Glück liege im Erwerb von Wissen. Darin würden alle Philosophen übereinstimmen. Selbsterkenntnis sei die höchste Form des Wissens. Verstünden wir beispielsweise die neurobiologischen Grundlagen destruktiver Tendenzen besser, dann könnten wir ihre Energien in konstruktivere Bahnen lenken. Vor allem sollten wir uns bemühen, die neurobiologische Grundlage der Spiritualität zu verstehen. Kein Merkmal sei perfekt, auch nicht die religiöse Funktion. Negative Folgen der Religion seien z. B. Menschenopfer, Rassenhass, Kinderopfer, Kannibalismus und religiöse Kriege.