England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage

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England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe] - Jon  Savage


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Shoe Bookshop in der Old Compton Street und anarchistischen Stützpunkten wie Freedom bekommen. Der Keller von Better Books war vollgestopft mit Samisdats, Phrasendreschereien und Manifesten. Der ursprüngliche Einfluss der SI lag weniger auf der urbanistischen Seite: Ich glaube der Begriff war ›hermetischer Terrorismus‹.«

      Im Dezember 1967 fielen Gray, Radcliffe, Clark und Nicholson-Smith der Dynamik der SI zum Opfer: Ausschluss »wegen irrer Exzesse«. »Man hielt ihre Unterstützung dieser ziemlich nebulösen Straßengang Motherfuckers für einigermaßen unkritisch«, sagt Sieveking.

      »Vaneigem ging rüber in die Vereinigten Staaten und traf einen Typen namens Hoffman, der auf Tarot-Karten stand. Als sich Gray und Smith weigerten, abzuschwören, wurden sie ausgeschlossen.«

      In Großbritannien gründeten einige Ex-Situationisten eine SI/Motherfucker-Mutation King Mob und erklärten sich selbst und ihre Politik in ihrer Zeitschrift King Mob Echo. Auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe im April 1968 war ein maskierter blouson noir mit einem Molotow-Cocktail und einem Zitat von Marx zu sehen: »Ich bin nichts, und ich müsste alles sein«, während sich im Innenteil Aphorismen fanden, die Marx, Hegel und Emerson auf »poetische« Weise verbanden: »Meine Utopie«, wurde deklamiert, »ist eine Umwelt, die so gut funktioniert, dass man darin durchdrehen kann.«

      Der Name King Mob stammte aus Christopher Hibberts Buch von 1958, damals das einzig verfügbare über die Gordon Riots im Juni 1780, die John Nicholson den »großen Freiheitsaufstand« nannte, der eine anarchische Woche lang dauerte und der französischen Revolution wenige Jahre später ähnelte. Indem sie diesen unbekannten Moment in der britischen Geschichte bejubelten, versuchte die Gruppe ein ungeordnetes, anarchisches Großbritannien ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken, das bislang ignoriert worden war. Es war der Versuch, das unzufriedene Grollen, das noch vor den Ereignissen des folgenden Monats immer lauter wurde, in einen spezifisch britischen Zusammenhang zu stellen.

      King Mob waren nicht die einzigen – eine weitere Pro-Situ-Gruppe, der Kim Philby Dining Club, wurde im Oktober 1968 in Cambridge gegründet –, sie waren Teil eines Prozesses. Wie es der Kopf von King Mob, Christopher Gray, ausdrückte: »Der Geist ist wichtiger als die Fakten.« Das Ausmaß von McLarens Beteiligung an King Mob wurde in späteren Pro-Situ-Flugschriften debattiert: Christopher Gray erinnert sich an McLaren als »einen großäugigen Kunststudenten, der nicht besonders involviert war.«

      Die einzige Aktion, an der McLaren beteiligt war, fand im Dezember 1968 statt, als fünfundzwanzig Leute von King Mob, einer davon als Nikolaus verkleidet, in die Spielzeugabteilung bei Selfridges platzten und vorbeilaufenden Kindern und deren verdutzten Eltern Spielzeug schenkten. Diese Aktion wurde begleitet von einer anonymen Flugschrift: »Weihnachten: Es sollte toll werden, aber es ist schrecklich«, lautete die Überschrift. »Nieder mit dem Betrug. Zündet die Oxford Street an, tanzt um das Feuer.«

      McLaren war einer der fünfundzwanzig: »Wir verteilten das Spielzeug und die Kinder rannten davon. Die Kaufhausdetektive und die Polizisten stürzten sich auf uns. Ich rannte in den Fahrstuhl. Da war nur ich und eine alte Dame: die Türen öffneten sich und ich sah die ganzen Polizisten. Ich schnappte mir die alte Dame und tat so, als würde ich ihr helfen. Sobald wir aus dem Kaufhaus raus waren, machte ich mich aus dem Staub.«

      Malcolm beobachtete genau. King Mob hatte ebensoviel mit angloamerikanischer Poprevolte zu tun wie mit französischer Theorie und versuchte, Kontakte mit »Straftätern« zwischen »fünfzehn und fünfundzwanzig oder mit Verrückten« herzustellen. Fußball-Hooligans waren für King Mob die »Avantgarde der britischen Arbeiterklasse«. Es gab Graffiti-Feldzüge in und um Notting Hill Gate herum, wo Slogans wie »Die Straße des Exzesses führt zum Palace of Willesden« einen geheimnisvollen, flüchtigen Monolog führten. Auf der Suche nach utopischen Metaphern fetischisierte King Mob sowohl revolutionäre Gewalt als auch Popkultur. Man feierte Valerie Solanas, Autorin des präfeministischen Traktats Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer (SCUM Manifest), die 1968 auf Andy Warhol schoss und damit Theorie in Praxis umsetzte.

      Aus der Verklammerung von revolutionärer Rhetorik und Popkultur entstand wenig. Das lag zum einen an den revolutionären Prioritäten – terroristische Gruppen wie die Weathermen in den USA, Baader/Meinhof in Deutschland und die Angry Brigade im Vereinigten Königreich bewegten sich auf einen bewaffneten Kampf zu – und zum anderen an der Marginalität von Gruppen wie King Mob. Ende der 60er Jahre war Popkultur monolithisch. Die Beatles und die Rolling Stones mit ihren unkonventionellen, wenn nicht gar revolutionären, Haltungen und zweideutigen Äußerungen über die Ereignisse von 1968, wurden von multinationalen Unternehmen finanziert.

      Von den Popradikalen stellte sich damals niemand diesem zentralen Widerspruch, dass ihre radikalen Ausdrucksformen von einer mächtigen anglo-amerikanischen Musikindustrie transportiert wurden, die es sich in den späten 60er Jahren leisten konnte, Schwierigkeiten mit enormen Honorarvorschüssen zu ersticken. Niemand verfügte über eine Sprache, um diese Kritik zu formulieren, abgesehen von obskuren Veröffentlichungen wie Raoul Vaneigems Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen. »Der Begriff des ›Teenagers‹«, schrieb er, »führt bereits auf den Weg dazu, den Käufer dem gekauften Produkt anzugleichen.«

      Der Versuch von King Mob, die Kluft zwischen Popkultur und revolutionärer Theorie zu überbrücken, schlug fehl. In den späten 60er Jahren war der Traum von der »Jugendkultur« noch zu mächtig. Die libertären Strömungen der späten 60er Jahre prägten das Leben vieler. Für Malcolm McLaren und seine Weggefährten Fred Vermorel und Jamie Reid würde das Leben niemals mehr so sein wie zuvor. In jenen Strömungen konnten sie schwimmen, eine Sprache für ihre Wut finden, ihren Groll und ihre Ideale. Sie fanden hauptsächlich durch den Einfluss der SI Geschmack an der neuen Medienpraxis – Manifeste, Flugschriften, Montagetechnik, Streiche und Fehlinformationen –, die ihrem Gefühl, die Dinge würden sich bewegen und am Ende gar verändern lassen, Gestalt verlieh.

Foto

      Foto aus dem »Oxford Street«-Film, 1970 (© Malcolm McLaren)

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      Nach dem Sit-in in Croydon besuchte Malcolm im Herbst 1968 die Goldsmith’s School, um Film und Fotografie zu studieren. Die erste Person, die er dort traf, war Helen Mininberg (später Wallington-Lloyd). Als Kind reicher südafrikanischer Eltern war Helen um einer Ausbildung und des Vergnügens wegen nach London gekommen. Sie war eine Zwergin und als solche eine Außenseiterin. Fasziniert von dem extravaganten Benehmen und der Sprache der (damals noch) verborgenen Schwulen-und Lesbenwelt war sie eine sehr lebhafte, bezaubernde Begleiterin, Liebhaberin und bei einer Gelegenheit auch LSD-Partnerin für Malcolm.

      »Es war kurz vor dem Sommersemester in Goldsmith’s«, sagt sie.

      »Es waren die Tage von Flower Power, und Malcolm hatte eine Mütze auf und einen Army and Navy-Mantel an, der ihm viel zu groß war, unter dem Arm eine Zeitung zusammengerollt und rauchte Woodbines. Er fragte mich, was ich tun würde, wenn sie mich nicht aufnehmen würden. Ich sagte: ›Ich gehe nach San Francisco und schließe mich den Hippies an. Was würdest du tun?‹ Er sagte: ›Ich würde eine Revolution anzetteln.‹ Ich war so behütet in Südafrika aufgewachsen. Obwohl die Sache mit Mandela angefangen hatte, hörte man einfach nichts über Revolution. Als ich dann in Goldsmith’s anfing, sah ich Malcolm wieder. Wir blieben zusammen. Er war ein Agitator. Es gab Debatten in der Studentengewerkschaft und Malcolm konnte die Dinge in Begriffe fassen, mit denen die anderen etwas anfangen konnten, weil er kein Intellektueller war. Er liebte die Kunst, aber er wollte keine Bilder malen, damit die Leute sie kauften. Er wollte etwas in Gang setzen und ein Kobold sein. Das Jucken in anderer Leute Unterhose.«

      Nach einer sechsjährigen Wanderschaft durch die Kunstschulen plagte sich Malcolm noch immer ab. Er und Vivienne trennten sich ständig aus den verschiedensten Gründen: Geldmangel, elterlicher Druck oder einfach aus einer Laune heraus. 1968 war Vivienne kurzfristig in das Haus ihrer Mutter in Harrow zurückgekehrt. Um 1969 herum hatten »Malcolm und Vivienne eine Beziehung, in der sie sich


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