England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage

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England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe] - Jon  Savage


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über das Leben, das sie und McLaren zusammen führten, sind inzwischen von dem bitteren Zerwürfnis von 1983 beeinflusst.

      McLarens Darstellungen seines Lebens und seiner Gefühle sind – in der abstrakten Welt einer durch die Medien vermittelten Persönlichkeit – ein sich ständig wandelndes zur Schau-Stellen von Mythologisierungen, selektiver Wahrnehmung und scharfsinniger Selbstanalyse. Er ist durchaus in der Lage, vernichtende Selbstkritik zu üben, jedoch in solch halsbrecherischer Geschwindigkeit, dass man es für einen Anfall seiner berüchtigten Hyperaktivität hält. Mythen und Träume spielen eine große Rolle in McLarens Leben, da er es mit dem ersten Pop-Gesetz von Andrew Loog Oldham hält: »Ich glaube, dass es wahr wird, wenn man nur genug lügt.«

      McLarens Phantasien oder sogar seine Halblügen sind ebenso aufschlussreich wie die Wahrheit. Da er es geschafft hat, viele seiner Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen, lohnt es sich, ihnen Glauben zu schenken. Schließlich ist es Pop, das moderne Hollywood: der einzige Ort in der englischen Gesellschaft, an dem man sich selbst neu erfindet, wo das Anziehen einer neuen Jacke als politischer Akt gesehen werden kann. »Vergiss niemals, dass Kleidung in England das ist, was dein Herz höher schlagen lässt!« sagt er. »Es gibt ständig Versuche, die Klassenstruktur des zweiteiligen Anzugs zu durchbrechen.«

      Trotz der Propaganda für Klassenlosigkeit – ob im 60er Jahre-Modell der Popkultur oder dem unternehmerischen Modell der 80er Jahre – ist England eine ausgesprochen statische Gesellschaft, mit einer extrem auf Distanz bedachten herrschenden Klasse und einer sehr engen Definition dessen, was als akzeptabel gilt. Wenn man aus irgendeinem Grund aus dem System herausfällt, wird man marginalisiert. Pop – eine eigentlich marginale Industrie – ist ein Ort, an dem sich Träumer und Unangepasste aller Klassen treffen, um, wenn schon nicht die Welt, dann wenigstens ihre eigene Welt zu verändern.

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Foto

      Malcolm McLaren, ca. 1950

       (© Stuart Edwards)

      Das Ideal der Kindheit kommt in McLarens Aussagen ständig vor: Ob im Off-Kommentar für seinen geplanten Film über die Oxford Street, in seinem Album »Fans« von 1984 oder auch in Form der Figur, auf die er seine Phantasien projizierte, Sid Vicious, den er ins Zentrum des Popmythos stellte. Die Ideen waren nicht neu. Sie existierten während McLarens Studienzeit im Underground, in der radikalen Psychologie und den Popsongs jener Tage.

      Das Besondere an ihnen ist die Intensität, mit der McLaren sie verfolgte; das hat sehr viel mit seiner eigenen Lebensgeschichte zu tun. Geboren am Rand der Gesellschaft, aufgewachsen zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen und einer bizarren Kindheit ausgesetzt, hat er als gesellschaftlicher Außenseiter seine Rache inszeniert.

      McLaren wurde am 22. Januar 1946 geboren, als jüngerer Sohn von Peter McLaren, einem schottischen Ingenieur, und Emily Isaacs, die aus einer stolzen jüdischen Familie stammte. Das Paar trennte sich nach nur achtzehn Monaten. Nach einem letzten Treffen mit seinen beiden Söhnen 1948 wurde Peter McLaren von Emily und ihrer mächtigen Familie »aus der Geschichte getilgt«. Es war, als hätte er nie existiert. Malcolm brauchte vierzig Jahre, einige Psychotherapien und einen Privatdetektiv, bevor er 1989 seinen Vater fand. »Er lebt in Romney Marsh«, sagt McLaren, »direkt an der Old Romney Church. Er hatte sechs Ehefrauen und sieht jetzt aus wie W.H. Auden auf einem der Bilder gegen Ende seines Lebens. Ich habe eine andere Familie, von der ich nie wusste, dass es sie gab. Als ich das letzte Mal in England war, traf ich meine Halbschwester und meinen Halbbruder, der Dozent am King’s College in Cambridge ist.«

      Die Trennung war ein einschneidendes Ereignis für McLaren und seinen Bruder. »Ich war sehr wütend und aufgebracht«, sagt Stuart Edwards, der den Nachnahmen seines Stiefvaters angenommen hat.

      »Ich schleppe diese Dinge heute noch mit mir herum.« Die Brüder stehen ihrer Mutter bis heute ablehnend gegenüber. »Sie hat uns verletzt«, sagt Stuart. »Sir Charles Clore hatte eine großartige Beziehung zu meiner Mutter; warum weiß ich nicht. Sie trafen sich heimlich im Hotel du Paris in Monte Carlo, dann heiratete sie meinen Stiefvater Martin Levi, der später seinen Namen in Edwards änderte, und sie änderte ihren Taufnahmen in Eve. Er war natürlich Jude, was ihn annehmbar machte, aber meine Großmutter mochte ihn nicht. Er war sehr beschränkt, aber clever genug, um eine Konfektionsfabrik zu eröffnen, Eve Edwards Limited, ein ziemlich großes Unternehmen. Es passiert vielen Leuten, aber meine Mutter hat niemals Zeit mit ihren Kindern verbracht. Sie ging los, kümmerte sich um ihre Karriere und ließ uns in den Fängen unserer Großmutter, die uns, wie mir später klar wurde, ihre Werte aufdrückte. Was auf jeden Fall sehr merkwürdig war. Wir haben eine Generation verpasst. Wir wurden von einer Frau groß gezogen, die ihre Kindheit im viktorianischen Zeitalter verbracht hatte. Ich hielt meine Großmutter für eine komplette Idiotin. Sie betete Malcolm an, mich mochte sie nicht besonders. Sie sah in mir das Spiegelbild meines Vater, der ihr Leben durcheinander gebracht hatte. Ich war meinem Vater sehr ähnlich, während Malcolm das Ebenbild seiner Großmutter war. Die Manieriertheit, alles. Sie war eine sehr merkwürdige Frau, eine Exzentrikerin. Sie wollte Schauspielerin werden und nahm Sprechunterricht, daher redete sie sehr affektiert. Während des Ersten Weltkriegs machten sie und ihre andere Schwester, die recht hübsch war, mit Offizieren herum; sie war eine Bohemien und hatte merkwürdige Freunde.«

      Rose verwöhnte den jungen Malcolm. »Sie brachte mich dazu, jede althergebrachte Sichtweise zu hinterfragen, weil es das war, was sie gerne gemacht hätte«, sagt er. »Ich glaube Stuart muss sich sehr schlecht gefühlt haben, weil ich mit Aufmerksamkeit überhäuft wurde und er nicht. Aber mir war es nie erlaubt, zu spielen oder Freunde zu haben. Ich musste zu Hause bleiben. Er durfte Amok laufen, weil er ihr egal war. Wir hatten keine Ahnung, was eine Familie ist. Aber meine Großmutter hatte eine so starke Welt aufgebaut, dass ich existieren konnte, indem ich mir auf dieselbe Weise meine eigene Welt schuf.«

      Die Brüder kamen 1954 auf die William Patton Schule in Stoke Newington. Malcolm hielt es einen Tag lang aus: »Ich war ein widerspenstiger kleiner Kerl. Ich konnte nicht verstehen, warum die Schule so voller Regeln und Gesetze war.« Er wurde dann von einem Privatlehrer unterrichtet. Als die Edwards anfingen, Geld zu machen, zogen sie raus nach Cheyne Walk in Hendon und schickten Stuart und Malcolm auf eine jüdische Privatschule, die beide hassten. Stuart wurde mit fünfzehn rausgeworfen, während Malcolm ein Gymnasium besuchte.

      Malcolm merkte bald, dass sein schlechtes Benehmen für Aufmerksamkeit sorgte und bei seiner Großmutter auf Zustimmung stieß: »Sie schrieb diese wunderbaren Briefe an den Direktor, die immer mit dem Satz endeten: ›Jungs sind eben Jungs‹. Ich konnte mir alles erlauben. Ich war ein solcher Snob, weigerte mich, irgendeiner Autorität zu gehorchen und irgendetwas zu lernen.«

      Eine Zufluchtsmöglichkeit war die Popkultur, die nun aus Amerika herüberschwappte. »Der erste Pop, den wir im Haus hatten, war Bill Haley and the Comets«, sagt Stuart. »Vorher gab’s Frank Sinatra und Bing Crosby, dann kam plötzlich diese wilde Musik auf. Ich interessierte mich nicht wirklich für die Samtkragen und die langen Jacketts, die die Teddy Boys trugen; ich mochte die Kreppschuhe und die Röhrenhosen und die italienischen Box-Jacketts mit kleinem Kragen und drei Knöpfen.«

      »Stoke Newington, Clissold Park und Stamford Hill waren sehr schöpferische Orte, an denen man sich aufhalten konnte«, setzt Malcolm hinzu, »weil sich dort die ersten Teddy Boys herumtrieben, und in Tottenham, das in der Nähe war, gab es einen riesigen Tanzsaal: The Royal, wo ordentlich Rock’n’Roll abging. Ich erinnere mich oft daran, dass ich auf dem Weg zur Schule die Straße überquerte. Weil ich auf eine jüdische Schule ging, trug ich eine Kappe. Die Teddy Boys kamen auf einen zu und steckten ihre Hände in ihre Jacketts, als wollten sie andeuten, dass sich etwas Gefährliches darin befände. Ich war immer zu Tode erschrocken.«

      Diese Viertel waren territorial strikt abgegrenzt, städtisch genug, um noch zum Großstadtkern zu gehören, aber nicht arm genug, um Ghetto zu sein: Englischer Pop war ein Produkt relativen Wohlstands. Randgebiete, wie diese Londoner Viertel, versprachen die Illusion von Veränderung. »Sich zurechtmachen war schon immer ein wichtiger Bestandteil des Ausgehens«, erinnert sich McLaren. »Meine Eltern hatten immer mit Mode zu tun, und


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