England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage

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England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe] - Jon  Savage


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Jahre nach seinem Höhepunkt – nicht als Musik, als Kultur oder als Band weiter, sondern als allgemeines Symbol für jugendliche Unzufriedenheit, Rebellion und Störung der öffentlichen Ordnung. Wenn nichts in Frage gestellt wird, wird schließlich auch nichts verändert.

Coverbild

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      Wir befinden uns am Beginn der siebziger Jahre. Alle Beteiligten sind bereits auf der Welt, aber nur wenige kennen sich untereinander. Sie werden 1976 und 1977 in einem Beziehungsgeflecht aufeinandertreffen, das so undurchdringlich ist wie die labyrinthischen Londoner Slums in den Romanen von Dickens. Die anderen Anfänge des Punk – die Songtexte, avantgardistischen Manifeste, Schauergeschichten – existieren bereits, aber zuerst brauchen wir den Ort, an dem diese Blumen wie Schmetterlingssträucher zwischen Kriegsruinen erblühen können.

      Der kleine merkwürdige Laden in der King’s Road 430 in unmittelbarer Nähe von World’s End besteht aus einem Raum im Erdgeschoss eines vierstöckigen, spätviktorianischen Hauses, das Anfang des Jahrhunderts umgebaut wurde. Eine eiserne Säule in der Mitte des Raums trägt die Decke. Das einzige Tageslicht dringt durch das Schaufenster. Es gibt keine Innentoilette. Der Laden befindet sich an exponierter Stelle, am Ende einer Reihe ähnlicher, etwas größerer Läden; an der Ostseite schließt die örtliche Vertretung der Conservative Association an.

Foto

      430 King's Road, London, Oktober 1976 (© Bob Gruen)

      Die Funktionsveränderungen des Gebäudes illustrieren den sozialen Wandel in diesem Randgebiet, ein Mikrokosmos dessen, was Malcolm McLaren »die menschliche Architektur der Stadt« genannt hat. World’s End selbst ist nach einem großen Pub in der Nähe benannt. Dieser Name wiederum leitet sich nicht von der Apokalypse, sondern von der Tatsache ab, dass das Haus zur Zeit seiner Erbauung im 18. Jahrhundert, das letzte am Stadtrand war.

      Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die King’s Road 430 Joseph Thorn, der dort über dreißig Jahre lang einen Pfandleihbetrieb unterhielt. In den frühen 50er Jahren war es ein Café, geführt von Mrs Ida Docker. Als die oberen Ausläufer der King’s Road Mitte der 50er Jahre in Mode kamen, breiteten sich Boutiquen, Cafés und andere Treffpunkte langsam auch nach unten auf die östlichen Abschnitte aus. Folge dieser Entwicklung war, dass auch Nummer 430 aufhörte, ein Laden zu sein, der nur Kunden aus der unmittelbaren Umgebung anzog. Eine Zeitlang war dort eine Agentur für Yachten, dann das Geschäft eines Motorrollerhändlers. Im Winter 1967, als Michael Rainey Hung On You von Chelsea Green dorthin verlegte, wurde es schick.

      Hung On You ist ein gutes Beispiel für den sozialen Mix aus Mode, Musik und Politik, der zum wichtigsten Exportgut Londons wurde. Gemeinsam mit David Mlinaric, Tara Browne (verewigt in »A Day In A Life« von den Beatles) und Christopher Gibbs, war Michael Rainey einer der ersten echten, aristokratischen Chelsea Stylisten, eine Elite, die nicht auf Herkunft oder Manieren beruhte, sondern auf Stil und Glamour.

      Mitte der 60er Jahre legte die englische Musik- und Kulturindustrie enorm zu – ein Prozess, der offiziell durch die Auszeichnung der Beatles mit dem MBE-Orden im Oktober 1965 markiert wird. Popgruppen wie die Beatles, die Animals und die Rolling Stones, die aus provinziellen und armen Verhältnissen stammten, wurden nicht nur reich und berühmt, sondern zur neuen Aristokratie. In John Lennons Worten: »zu Königen des Dschungels«.

      An der Kleidung der Beatles oder der Rolling Stones Anfang 1966 lässt sich das sehen: eng geschnittene, zweireihige Anzüge aus Samt oder gestreiftem Stoff, getragen mit grellen, handgemalten 40er Jahre-Krawatten oder Crêpe de Chine-Halstüchern aus den Dreißigern. Das war der Popmodernismus Mitte der 60er Jahre auf dem Höhepunkt der Hippie-Ära. Als sich dieser Stil verbreitete, wurde er vor allem in der Carnaby Street oder der Portobello Road verkauft. World’s End hat von der Goldgrube nicht profitiert, da es zu weit abgelegen war. Obwohl andere Läden wie Granny Takes A Trip 1966 aufgemacht hatten, war die Ecke kein Umschlagplatz für den Massenmarkt, sondern ein Ort für Drogen, Exzentrik oder Ziel besonderer Pilgerfahrten.

      Michael Rainey schloss Hung On You Anfang 1969. Er hatte zur Entstehung der Idee multipler Identitäten in der Mode beigetragen – Kleidung, die nicht von der Gleichförmigkeit der Herkunft oder des Geschmacks zeugte, sondern von einem aufrührerischen Durcheinander der Farben, Epochen und Nationalitäten. Trevor Miles hatte Hung On You mit Kaftanen beliefert; in jüngerer Zeit hatte er Westen für Tommy Roberts Kleptomania hergestellt. Sie beschlossen, gemeinsam einen Laden mit einem neuen Namen zu eröffnen.

      Mr Freedom war wie eine gigantische Spielwiese. War er einmal durch die eisbecherartige Vorderfront getreten, wurde der Kunde von einem riesigen ausgestopften Gorilla mit blaugefärbtem Plüschpelz begrüßt. Während eine sich drehende silberne Kugel an der Decke ein Gefühl wie in einem Palais vermittelte, konnte man am Tresen, in den munter flimmernde Fernsehapparate eingebaut waren, Süßigkeiten kaufen. Die von den 50er Jahren beeinflussten Klamotten waren trivial, grell und fantastisch.

      »Ich habe Blitze aufgenäht, lange T-Shirt-Kleider mit Raketen drauf, Mickey Maus-T-Shirts und so was alles«, sagt Miles. Andere Stücke waren zum Beispiel bedruckte Kleider im Lucie Mabel Atwell-Stil, Applikationen mit Schlagwörtern wie »Slip it to Me« und »Pow«, die absichtlich von hässlichen Models getragen wurden, überall Supermann-Jacken und falsche Leopardenfelle. Der Laden war von Anfang an ein Erfolg.

      Es war einer der Ursprünge für die in den frühen siebziger Jahren vorherrschende Popkultur: eine Mischung aus Camp und Infantilität. Evokationen einer 30er Jahre-Umgebung, die charakteristisch sind für eine Babyboomer-Kindheit – eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt im Spaßpalast, dem Bibas Superstore, finden sollte –, gingen 1968 Hand in Hand mit der schöngeistigen Verschlüsselung des Stils der dreißiger Jahre unter dem Begriff Art Deco. Als die Dynamik des Popmodernismus nachließ, begann die Ära der jahrzehntelangen Stil-Revivals. Style ersetzte Inhalt, Kleidung wurde Kostümierung.

      Phänomene des Popkults wie Mr Freedom lösten einzelne Themen wie »die 30er« oder »die 50er Jahre« aus ihrem zeitlichen Bezugsrahmen und tobten durch die Vergangenheit wie ein Kind durch einen Antiquitätenladen. Ästheten wie Nik Cohn war diese fröhliche Plünderei verhasst: »Für einen Augenblick erlangt Spaß die definitive Herrschaft. Auf Parties nicht mehr ganz junger Jointraucher erschienen nahezu kahle Fettsäcke, verkleidet als Johnny Weissmüller, und ihre Ehefrauen spielten Rita Hayworth. Das ist kein schöner Anblick.«

      Für Miles brachte diese Auffälligkeit aber dringlichere Probleme mit sich, das Problem des geistigen Diebstahls. Sein gefeiertster Entwurf, das »Star«-T-Shirt, wurde sofort von der etablierten Textilindustrie kopiert, die den Markt mit billigen Imitationen überschwemmte. Tommy Roberts ging pleite und eröffnete einen größeren, besseren Laden am Ende der Kensington Church Street, während Miles, weniger Geschäftsmann, in 430 blieb: »Wir haben uns überworfen, und ich bekam den Mustang und den Laden.«

      Es war Zeit für ein neues Konzept: Pazifik Exotik. Miles machte sich mit 5000 Pfund nach New York auf und kaufte bergeweise gebrauchte Jeans, Latzhosen und Hawaii-Hemden. Die Ladenfront wurde mit grünem Wellblech und Bambusbuchstaben im Hawaii-Stil dem neuen Gewand von 430 angepasst. Eine antike Benzinzapfsäule wurde ausgestellt. Drinnen stopfte die Electric Colour Company alles mit Bambus voll, legte Binsenmatten auf den Boden und verkleidete Miles’ Mustang mit Tigerfellimitat.

      Paradise Garage war einer der ersten Läden, die auf Retro-Pop machten und alte Klamotten von erlesenem Geschmack anboten. Miles war seiner Zeit wieder voraus, aber er wurde nicht nur von anderen, geschäftstüchtigeren Händlern im Preis unterboten, sondern er begann, sich zu langweilen. »Ich dachte, in Ordnung, gebrauchte Klamotten, abgehakt, nächste Idee. Also habe ich den Boden schwarz besprüht, eine Jukebox und eine verschiebbare Tanzfläche reingestellt. Dann bin ich für ein paar Monate abgehauen. Das mag einem heute außergewöhnlich erscheinen, aber so machte man damals Geschäfte.«

      1971 war der Glanz aus der King’s Road verschwunden,


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